stillstände

 

Dieser Text entstand im Auftrag und zu Handen des Psychiaters Walter Vogt, den ich Mitte Januar 1980 aufgesucht habe als Soldat der Schweizer Armee, um psychiatrisch aus der Armee ausgemustert zu werden (siehe auch: «Auch ich bin verrückt»).

I

ein hoffnungsloses unterfangen: mit chronologie eine gewisse objektivität vorzutäuschen. lebenslauf? einzige chronologische konstante der atem, der herzschlag: hoffnung auf ein diesseitiges leben; ab und zu die kraft, ICH zu sein, mich verleugnend auch, in schlechten zeiten, stagnierend; in meinen besten tagen aber: die hoffnung, ICH zu werden –

II

ein wichtiges jahr: 1974, mein zwanzigstes, in dem ich zu keiner jungbürgerfeier eingeladen wurde. im frühling der seminarabschluss (lehrbefähigung: «gut»), der stellenanstritt drei wochen später als beginn einer grossen krise: verlust meiner identität als schüler ohne mich auch nur in ansätzen als lehrer zu fühlen, verlust von freunden und meiner bisherigen erfahrungswelt (meine allsamstägliche rückkehr im frühsommer 74 nach langenthal, ohne mit jemandem ein treffen abgemacht zu haben: suche nach einem verlorenen ich). läufelfingen: luftleerer raum mit hellem kindergeschrei, das mich ängstigte (natürlich grosse disziplin-probleme, wenig geduld). läufelfingen: ich wartete tagebuchschreibend auf das grosse ungewisse: die rekrutenschule. alles geschriebene war hilferuf ohne adresse; ich bastelte zwei erzählungen, ein hörspiel, gedichte und jeden tag vier oder mehr seiten tagebuch (dass ich die vier seiten jeden tag schaffte, war damals lebenswichtig). zur zeit seines 50. todestages wurde mir kafka zum älteren bruder. die beziehungen zu seminarkollegen verkümmerten sofort, keine briefwechsel (erst viel später wurden einzelne kontakte wieder aufgenommen). keine freundin. träumend von frauen, die sich mir in verborgenen, dämmrigen zimmern hingaben, hatte ich onanierend schuldgefühle, lernte ich doch langsam und als befreiung von fremden zwängen: meinen körper zu lieben. am 15. 7. rückte ich zum ersten mal ein; im tagebuch steht am vorabend dieses 15. juli: ‘Es fällt mir nichts mehr ein und vielleicht ist das gut so. Ganz leer sein, assoziationslos verzweifelt sein, nicht an sich glauben, aber auf sich hoffen.’

III

kinderzeit: meine mutter erzählt, ich sei ein stilles kind gewesen, hätte immer schön durchgeschlafen (wie sie mich am abend gebettet habe, so sei ich am morgen gelegen), habe stundenlang für mich spielen können, habe sehr spät laufen und reden gelernt, habe aber dann gleich gut gesprochen, und ich sei beim gehen kaum gestürzt. bis heute erregt ein ausspruch heiterkeit, den ich als knirps getan haben soll: ich gehe erst mit ins schwimmbad, wenn ich schwimmen kann. ich habe selber wenig erinnerungen: die sankt-urban-chilbi, die ich nie gern besuchte, weil es zuviel leute dort hatte. dafür spendete der vater immer ein dessert im rössli oder im ochsen oder im bären (sonntagnachmittag, das restaurant ist voll von leuten, vor mir auf dem tisch meringues oder vermicelles und ein glas rivella, vater rauchend mit einem langenthaler bier im gespräch mit der mutter: roggwil vor dem krieg oder wer letzthin gestorben sei; dazu die beiden brüder hinter ihren meringues oder vermicelles). oder: eine reihe kinder, ich als kleinster dabei, steine werfend richtung langete. ich treffe einen knaben mit einem stein an den hinterkopf, er blutet und muss zum doktor gebracht werden. ich werde zur strafe ins kinderzimmer gesperrt, weinend vor schreck. noch heute habe ich ein schuldgefühl, wenn ich an diese geschichte denke: ich wollte ihn nicht treffen und doch habe ich ihn verletzt.

IV

ich wurde am 10. april 1954 in roggwil (be) geboren, absolvierte dort primarschule (61 - 65) und sekundarschule (65 - 70), danach in langenthal das lehrerseminar (70 - 74). in läufelfingen (bl) arbeitete ich als primarlehrer mit zweit- und drittklässlern (74/75) und absolvierte in dieser zeit die rekrutenschule in luzern. im herbst 75 ging ich an die scola cantorum (abteilung der musikakademie) in basel, wo ich im sommer 79 mit dem lehrdiplom für blockflöte abschloss. seither arbeite ich im flüchtlingszentrum roggwil (heks) in einer arbeitsgruppe als sprachlehrer für indochinaflüchtlinge. – gibt das etwas her? ‘Juni 1933: Verbringung nach Herisau, in die dortige Heil- und Pflegeanstalt seines Heimatkantons Appenzell-Ausserrhoden, wo er bis zum Lebensende (1956) bleibt. Keine schriftstellerische Arbeit mehr.’ und wer oder was hat robert walser zerstört? ‘Stiller blieb in Glion und lebte allein.’ da bleibt kein lebenslauf. wäre es nicht ehrlicher, von lebensstillständen zu sprechen? ist es nicht sinnvoller, die ängste und hoffnungen zwischen den daten zu beschreiben?

V

anfang november 74: die rekrutenschule überlebt. es wird mir attestiert, mann und wehrfähig zu sein. ich kehre ausgehöhlt und schrecklich allein nach läufelfingen zurück und beginne ein weiteres heft mit aufzeichnungen: ‘Das Leben ist ein Balanceakt auf einer Grenze zwischen Wahnsinn und Sinnlosigkeit.’ ich hatte gehorcht: ich habe meine handgranaten über den moorboden des eigentals geworfen. ich habe mit sturmgewehr und rak-rohr feindliche panzerangriffe abgewehrt, zwischen schneewächten und einem oberst, von dem das gerücht ging, er sei alkoholiker und brauche abends einen stock, um seine kaserne halbwegs aufrecht verlassen zu können. ich habe gewaltsmärsche hinter mich gebracht, ich habe geweint vor anstrengung und sinnlosigkeit, um den kontakt mit dem vordermann nicht zu verlieren, nachts in den wäldern hinter kriens, ich habe mitgemacht: um nicht auf den kompaniedurchschnitt zu drücken, habe ich exakt auf die figur in der b-scheibe gezielt und wurde dafür mit einem schützenabzeichen belohnt und ich habe gelernt, über die ‘kameradschaft’ traurig zu lachen, die es nie geben kann in einer zwangsgemeinschaft, die zu nichts taugt, als zum gemeinsamen sterben. mein jüngerer bruder und die mutter holten mich auf der luzerner allmend mit dem auto ab (ich kann bis heute nicht autofahren): es gab nichts zu feiern, rilkegedanken: ‘Wer spricht von siegen? Überleben ist alles.’ dann wieder: ‘Stehend an einem Schell-Imbisstisch im Oltener Bahnhofrestaurant (2. Klasse): Die Notwendigkeit, dass jeder Mensch mit der Dimension der Transzendenz rechnen lernt.’ ich schrieb nun nicht mehr vier seiten im tag: ich erhaschte einzelne sätze an der grenze zur sprachlosigkeit: ‘Mit dem Mut der Verzweiflung an sich glauben.’ winter 74/75: innerer widerstand gegen die hoffnungslosigkeit so weit, dass ich wieder sprache fand, hang zur strengen form, zum stimmigen vers: irgendetwas musste doch noch stimmig sein auf dieser welt, hatte ich nötig zu hoffen (dazwischen viel verzweiflung, vor der ich mich auch heute noch fürchte).

Winterreise

Tribut der Kälte: Schnaps und Zigaretten,
erstarrtes Lächeln hängt im Frost der Pflichten.
Und bräunlich-rot, wenn sich die Tiefen lichten,
erglänzt der Rost an deinen alten Ketten.

Der Alkohol wärmt längst verdorbne Speisen.
Das Jammertal liegt abseits aller Karten.
Und wie sich einst Gespenster heimlich paarten,
gehst du jetzt mit dem Nichts auf Reisen.

Die Schlittenfahrt des Doktors dauert an.
Du lachst am Wein: Wer je nach grossem sann
ging letzthin zu den Zwergen ein.

Das Wörterbuch der Nächte rasselt hohl;
und deine letzten Worte werden wohl
ein seufzend-leises Kettenklirren sein.

VI

im sommer 72 wurde ich angefragt, zusammen mit dem roggwiler pfarrer und weiteren betreuern ein konfirmandenlager in bevers im engadin zu leiten. als betreuerin mit kam auch b. g., damals 27-jährig, handarbeitslehrerin, die im verruf stand, junge männer zu verführen. ich war sofort verliebt in sie, und sie lud mich ein auf ihr zimmer. während den konfirmanden, kaum jünger als ich, das lebendige und darum heilige an der bibel als ‘kinderlehre’ ins muffig-spiessbürgerliche abgebogen wurde, zeigte b. meiner zunge ihre heilige, lebendige wunde, spielten wir bis zur erschöpfung mit unseren körpern, leuchteten unsere nackten körper im licht der ersten sonnenstrahlen (bevor ich auf mein zimmer schlich, damit die kirche im dorf sei, wenn der pfarrer um sieben zu wecken begann). das konfirmandenlager dauerte eine woche. ich habe b. nie mehr gesehen: ihr ständiges kopfweh und ihre schwindel- und ohnmachtsanfälle (sie hatte eine gescheiterte ehe und einen selbstmordversuch hinter sich) waren doch ernster, als die ärzte meinten: nach mehreren operationen starb b. im herbst 1973. gehirntumor.

VII

in der wohngemeinschaft am riehenring, in der ich seit dem ersten januar 1977 lebte (vorher hatte ich ein zimmer in münchenstein, in dem seit dem herbst 75 die läufelfingerzeit kein ende nehmen wollte), wurde es oft drei, vier uhr in der nacht, wir waren grosse kinder (gewiss: nicht auf dem normierten erfolgstripp, ausgestiegene, ausgeflippte, abgelöschte, aufgestellte: am karfreitag 78 schleppten sie beat ab, in die polyklinik, von dort in die friedmatt, von dort auf den psychopharmakatripp und von dort nach solothurn in sein elternhaus; seither weiss ich nichts mehr von ihm: wir waren allesamt ein wenig gefährdet, weil wir allesamt ein wenig zuviel freude an uns und unserem leben hatten, damals), wir tranken rotwein und diskutierten, spielten in der küche bis in die morgendämmerung ‘eile mit weile’ und dümmlicheres, feierten joseph beuys als revolutionären avantgardisten und schmierten auch mal die küchenwände mit eierdotter voll: ‘E paar Zwäägi sy gäge Gnägi.’

das erste gösgener wochenende (wie schon den pfingstmarsch) hatte ich verpasst, weil ich die nacht vorher versumpft war und tags darauf erst um die mittagszeit mit schrecklichen kopfschmerzen erwachte. am zweiten gösgener wochenende anfangs juli war ich allerdings dabei: zum ersten mal rannte ich nicht davon vor der riesigen menschenmenge: ich marschierte unter anti-akw-transparenten, half mit, politische slogans zu skandieren, half mit, die symbolischen barrikaden zu errichten (wobei mich ein polizist filmte, wie ich später bei der vorführung des offiziellen polizeifilms vom zweiten gösgenerwochenende, der anlässlich des prozesses gegen sechs ‘rädelsführer’ im oltener stadthaus am 28. 9. 78 vorgeführt wurde, sehen konnte: von hinten zwar, dafür in grossaufnahme sieht man mich holz schleppend meine pflicht tun: nach bestem wissen und gewissen), und ich hängte mich ein bei wildfremden menschen, als die wasserwerfer uns zu baden und die tränengaspetarden über unsere köpfe fliegend zu qualmen begannen. ich erlebte dieses wochenende (nachts dann auf einer anfahrtsstrasse zum akw gösgen, im dorfausgang von dulliken, lagerten die demonstranten zu tausenden auf der strasse, am strassenrand, feuer brannten, gitarre und gesang, diskutierende, schlafende, dazwischen ICH, schlaflos, unruhig, lebendig: der grossartige sonnenaufgang, während ich mit einem bekannten plauderte und die polizei über megafon wieder zu drohen begann) vom 2. 7. 77 als grosse befreiung, als rückkehr zum leben, das mir b. gezeigt hatte, das verloren ging unter dem müll der lehrerverbildung, dem läufelfinger ICH-verlust und dem anschliessenden terror der rekrutenschule. wenn ich die zeit zwischen dem november 74 und diesem gösgener wochenende beschreibe, so bescheibe ich den weg einer langsamen heilung. und die heilung waren starke, freie, solidarische menschen in der wg und in gösgen, die mir gaben und gaben ohne zu fordern (denen ich deshalb auch geben konnte: alles was ich war).

VIII

schulzeit: ich war ein gut durchschnittlicher, stiller bis vorlauter, aber jederzeit leicht zu führender, also ‘verständiger’ und recht fleissiger schüler, der während seiner schulzeit neun jahre gutes betragen und allezeit genügendes bis sehr gutes wissen attestiert bekam. ich war also ein langweiliger, ein wenig verängstigter, auf jeden fall ein leicht zu verängstigender schüler, der durchaus nötig hatte, sich die sympathie der lehrer auch mal kriechend zu erkaufen, der sich zwar an den streichen anderer freute, dabei aber auf den ironischen ruf des musterschülers durchaus stolz war. (wie ich mich später im seminar meines übernamens ‘bacchus’ rühmte, wie ich heute eigentlich darüber froh bin, dass in der zeit, in der die entwicklungspsychologie ‘sozialisation’ datiert, in mir antisozialisierendes stattfand: es fand etwas statt, was in keiner entwicklungspsychologie vorgesehen ist: ich lernte denken, das heisst: ich lernte kritisch, in widersprüchen und gegen meinen vorteil denken: in den läufelfinger tagebüchern wurde ich zum wahrheitsfanatiker, zum moralisten und insofern zum religiös denkenden menschen; dieser ‘wille zur wahrheit’ (subjektiv verkantet, in schwachen zeiten falsch), blieb, auch nachdem sich zu beginn des jahres 77 in der wg viele innere spannungen lösten, und suchte sich ein neues feld der auseinandersetzung: es erwachte das interesse an gesellschaftlichen und politischen zusammenhängen: fragen nach recht, macht und gewalt tauchten auf: die cincera-affäre (nov./dez. 76), die gösgener ereignisse (sommer 77), schleyer (herbst 77), moro (frühjahr 78) waren prägende erlebnisse.

in der schulzeit freilich war wenig von diesen entwicklungen vorgezeichnet: ich war ein braver schüler. allerdings findet sich auch in dieser zeit prägendes jenseits des lehrbuchs: das platonische hingezogensein zu einer schulkameradin über neun jahre, ohne ihr je die liebe gestanden, ohne sie je berührt zu haben. die ersten sexuellen berührungen: homosexuelle. ich erinnere latenzzeitliche Arztspiele mit einem schulkameraden: naive neugier nach anderen körpern. dazu: was ich zehn jahre verdrängt hatte und erst in einer denkwürdigen stunde in münchenstein (75/76) schreibend aus mir herausriss und so unschädlich machte: ein sechzehnjähriger (den ich seither nicht mehr gesehen habe), der mich, einen zehnjährigen im nachbarlichen bauernhof wiederholt mitnahm auf die heubühne, auf den dachboden des spinnwebenverhangenen remises, wo er sich und mich der kleider entledigte (ich erinnere mich keines zwangs), sein schamhaarumwachsener, harter schwanz, den ich mit den händen, mit zähnen und zunge zum erguss bringen sollte, sein spiel mit meinem kleinen glied, später sein potenzstolz über den milchigen schleim, der von seinen schenkeln tropfte, in seinem nabel schwamm. – ich hatte seither nie mehr homosexuellen kontakt. das gemeinsame duschen mit männern während des seminars, im fussballclub, später im militär: die körper haben mich weder angezogen noch abgestossen, sie wurden mir gleichgültig. allerdings habe ich bis heute eine grosse scheu davor, männer zu berühren, gesten des mitgefühls, der sympathie, des mitleids sind mir bis heute nur verbal möglich.

IX

lesend in den tagebüchern verliere ich mich. das bedürfnis zu zitieren: es ist nicht schlüssig zu beweisen, dass meine zunehmenden staatsbürgerlichen fehlleistungen im bezug auf die armee (die allerdings zwingend reziprok mit meinem versuch verknüpft sind, zu leben wie ein mensch) den punkt erreicht haben, jenseits dessen ich die loyalität mit meiner heimat nur noch in form von langsamer selbstzerstörung beweisen könnte. die diskrepanz zwischen dem, was ich für moralisch richtig halte, und der politischen praxis nicht nur in unserem land, zu der ein stetig wachsender militärischer apparat (mehr aus wirtschaftlichen als aus wehrpolitischen gründen) unabdingbar gehört, beginnt mich zu zerreissen, zu spalten in einer weise, die ich noch vor einigen jahren – trotz alledem – nicht für möglich gehalten hätte. die flucht in eine von körper, geist und seele gleichermassen gesteuerte und vorangetriebene dienstuntauglichkeit scheint die einzige möglichkeit, nicht weiter korrumpiert zu werden von der allumfassenden geisteskrankheit: der politischen vernunft (nicht nur in der schweiz).

X

ich habe zwei brüder: einen älteren (h.-u., geboren am 22. 3. 50) und einen jüngeren (a., geboren am 3. 10. 57). obschon oder gerade weil ich mich vom älteren bruder in vielem geprägt fühle, haben wir uns in zwei entgegengesetzte richtungen entwickelt, so dass es schon heute schwer wird, dem anderen noch mit etwas anderem zu begegnen als mit toleranz. im herbst 72 flog er für seinen arbeitgeber nach japan und wurde vor einem guten jahr chef der neueröffneten vertretung dieser firma in hong kong. er ist eine spielernatur (eigentlich spiele ich auch gerne, aber im gegensatz zu ihm niemals um geld): ich erinnere mich, dass er einmal auf besuch in der schweiz voller stolz erzählte, dass er in las vegas in einer einzigen nacht tausend dollar verloren habe (wohlverstanden: diese tausend dollar waren von vornherein für dieses vergnügen budgetiert: mein älterer bruder kann rechnen), er spekuliert zu seinem vergnügen mit gold, silber und US-boden und denkt immer in weltpolitischen dimensionen (sein wissen über weltpolitische zusammenhänge ist allerdings beeindruckend): für ihn ist der mensch, wenn nicht an sich böse, so doch an sich unfähig, das gute zu wollen: der dritte weltkrieg demzufolge unvermeidlich. so ist das: derweil ihm die zuspitzung der weltpolitischen lage (vor allem im mittleren osten) täglich mehr recht gibt, sinne ich darüber nach, wer oder was warum robert walser zerstört habe. – mein jüngerer bruder besucht das technikum in biel. er lebt mit einer frau und deren kleinem sohn zusammen, ist ein begabter posaunist und steht in vielem zwischen mir und dem ältesten bruder: er sucht die beschwichtigende mitte.

XI

drei monate nach den tagen mit b. begann die geschichte mit s. (unter herbstlich hohem, nächtlichem wallis-himmel, mit einem sternenbeschienen spaziergang um ein kleines dorf, oben, über sembracher an einer bergflanke klebend; ich erinnere mich, betrunken gewesen zu sein). s. war zwei jahre älter als ich, seminaristin eine promotion über mir, ehrgeizig, unsicher und sie konnte mir das nicht sein, was ich suchte, wie sie perfiderweise auf die rückseite eines kunstkreisbildes, das sie mir in einem wechselrahmen zur weihnacht 72 schenkte, schrieb, mit der idee, dass ich das bild sicher erst auswechseln würde, wenn unsere beziehung zu ende sei (diese idee war richtig). sie bereitete sich während der wintermonate gegen den willen ihrer eltern und zwischen ihren abschlussarbeiten für das lehrerseminar auf die aufnahmeprüfung für die schauspielschule vor. sie war anouilhs antigone und emilia galotti, küsste mich immer wie im vorbeigehen, verschloss sich meinen berührungen (ihr verletzendes kichern jeweils, wenn meine hand ihren körper suchte, aus dem ich immer wieder heraushörte: nur unkultivierte rüppel vom land können solche schweinereien suchen) und erklärte unsere ‘beziehung’ für beendet, als sie im februar 73 die aufnahmeprüfung bestanden hatte. sie ist heute schauspielerin irgendwo in deutschland und ich erwähne diese geschichte nur, weil mich ihre unaufrichtigkeit (die nicht so oberflächlich falsch war, wie ich sie jetzt dargestellt habe) derart verunsichert hat, dass ich für längere zeit keine beziehung mehr zu einer frau suchte (so war ich ein jahr später allein, als ich unbedingt jemand gebraucht hätte, um den lehrer-schock und die rekrutenschule zu verarbeiten). – immerhin: noch war ich als seminarist mit ungebrochenem ICH und ungebrochener erfahrungswelt nicht zu erschüttern in den zweitklass-klischees, die ich mir als ‘bildung’ aneignete. ich lebte zwischen blankversen und dem tristanakkord, zwischen alkoholischen exzessen und freudschem libido-masochismus (wie süss war damals noch die tragik der eigenen existenz…), gewann am turntag den wettbewerb im kugelstossen und spielte an der patentierungsfeier zusammen mit einem kollegen ein telemann-doppelkonzert für blockflöte und cello. ich erhielt einen preis von hundert franken für eine ‘freiwillige, wertvolle leistung’ (gestiftet vom rotary- oder einem ähnlichen club) für ein hörspiel, das nichts mehr und nichts weniger zum inhalt hatte, als den weltuntergang und liess mich gern als nihilisten apostrophieren, ohne genau zu wissen, wer oder was das sei. vieles in dieser letzten seminarzeit war eitler selbstbetrug und ich muss es gewusst haben: wieso sonst endete die patentierungsfeier für mich mit einem sinnlosen besäufnis?

XII

meine eltern: der vater stammt aus einer arbeiterfamilie. sein vater war waise und verdingbub auf einem hof hinter melchnau, heiratete nach roggwil, arbeitete hier als waldarbeiter und in der ziegelei. vater arbeitete, nach einem welschlandaufenthalt vor dem krieg (er machte seine rs 1940, gehört also noch voll zur aktivdienstgeneration, was unsere gespräche über die armee meistens im keime erstickte), zeitlebens in der textilfabrik gugelmann in roggwil, zuerst als hilfarbeiter, heute als ‘obermeister’. er wird dieses jahr 60, hat nervlich bedingte herz- und magenbeschwerden und oft ist er von seinem samstäglichen jass betrunken nach hause gekommen, was zu lauten szenen zwischen ihm und der mutter geführt hat. mutters vater war dorfschmied in roggwil, baute einen kleinen betrieb auf, der heute von zwei brüdern der mutter weitergeführt wird. dieser grossvater war, wie man erzählt, ein gütiger mensch, streng und gerecht gegen die kinder, gemeinderat. er starb in den frühen sechzigerjahren an einem herzinfarkt. mutter (heute 58) erhielt nie gelegenheit zu einer ausbildung, obschon sie gerne lehrerin geworden wäre. sie blieb zu hause, bis sie von meinem vater geheiratet wurde und besorgte dort den haushalt und die betreuung ihrer drei jüngeren brüder. die grossmutter führte derweil einen kleinen wolladen und musste meine mutter durchaus als gratis-magd betrachtet und gehalten haben. – seit der läufelfingerzeit fragt mich die mutter immer etwa wieder (wenn ich mich hinreissen lasse und ‘merkwürdige’ dinge erzähle): ‘was haben wir bloss bei deiner erziehung falsch gemacht? sie war doch die gleiche wie bei den anderen beiden.’ dann sage ich immer: ‘nichts’, und ich meine das so: man hat mich meinen spielen und meinen träumen überlassen. später haben mich die eltern bei beiden ausbildungen unterstützt (seminar, scola). dass ich als resultat dieser ausbildungen nicht so bin, wie ich zugegebenermassen (und einfachheitshalber) auch sein könnte, versuche ich dann der mutter irgendwie zu erklären. der vater fragt nie; mit ihm habe ich nur selten ein gespräch geführt.

XIII

im sommer 75 kündige ich meine stelle als primarlehrer in läufelfingen (aus dem tagebuch: ‘Die Kündigung trägt das Datum des 3. 6., dem 51-sten Todestag Kafkas. Ob mir der gute Mensch aus Prag jetzt über die Schulter blickt?’, meine eltern vermitteln mir bei bekannten ein zimmer in münchenstein (wie sollte ich damals fähig sein, selbständig ein zimmer zu suchen, da mir jeder atemzug unabsehbare konsequenzen zu haben schien, da mich jeder entscheid, den ich zu treffen hatte, ängstigte, da ich oft stundenlang im schulzimmer sass über der vorbereitung des nächsten schultags und unfähig war zu entscheiden, wie der nächste schultag ausehen sollte), und in den ersten oktobertagen gehe ich nach münchenstein, obschon ich in der zwischenzeit die aufnahmeprüfung an die scola nicht bestanden habe und nun ein vorbereitungsjahr absolvieren soll, was mich aber, obschon ich mich gegenüber anderen bitter beklage, nicht wirklich verzweifelt macht: denn eigentlich traue ich mir ja sowieso nicht zu, irgendein studium zu schaffen (minderwärtigkeits- und grössenwahngefühle lagen damals dicht beieinander). während der ersten zeit in basel, erinnere ich mich, hatte ich dann viel kraft, um zu arbeiten: aus läufelfingen weggekommen zu sein (gehandelt zu haben!), versetzte mich eine zeitlang in eine euphorie, die ich in lerneifer, in intensive lektüre (damals las ich systematisch die werkausgaben verschiedener schriftsteller und dichter: in mir war stark die krankhafte idee, mir nun das wissen der ganzen welt aneignen zu müssen, um dann als tragische und missverstandene intelligenz der ganzen welt überlegen zu sein) und natürlich in tagebuchschreiben umsetzte. was ich aber vorallem damals versuchte: die schiere verzweiflung der nicht zu überwindenden einsamkeit in ein erstrebenswertes ziel umzufunktionieren. ich wollte ‘autonom’ werden: jenseits jedes sozialen, menschlichen zusammenhangs wollte ich leben (diese idee auch als falsche quintessenz der lektüre verschiedener künstlerbiografien). unter dem 16. 5. 76 steht im tagebuch:

«Abends: zweistündiger Spaziergang durch das sonntagabendliche Basel. Für Augenblicke der Zustand des autonomen Seins, der grösstmöglichen Unabhängigkeit von allem, was mich abhängig macht. Stand lange auf der Wettsteinbrücke, blickte auf die schwarze, träge Masse des Rheins; links oben das beleuchtete Münster: Ich war nicht allein, sondern ich war autonom, das äusserste, was ein Mensch zu erreichen vermag: Jenseits der Einsamkeit stehen, in kristallener Klarheit und umfassender Leere als Lebenselement. Weiter gehen ist unmöglich, wohin auch? Der luftleere Raum, das Vakuum ist erreicht: Ich stand für Augenblicke auf dem Gipfel, den ich verlassen musste, bevor die Rückschläge kommen würden, denn niemand wäre da, mich zu halten, verlöre ich das Gleichgewicht – der Sturz in die schwarze träge Masse, die wollene Jacke, die mir die Mutter gestrickt hat, würde sich augenblicklich mit Wasser vollsaugen, überhaupt die Bleigewichte und weit oben das beleuchtete Münster, das nicht Sturm läuten würde, weil es mich nicht sähe, weil es blind ist – blind und tot. Das ist der Gipfel, den ich erreicht habe: Euphorie und Lebensverneinung vereinigen sich, das grosse Glück und die Selbstvernichtung heben sich auf, der dialektische Prozess des Vorwärtsgehens ist vergessen. Es gibt kein Entweder-oder mehr, sondern nur noch die Umkehr zum Entweder-oder. – Prometheus hat den Göttern das Feuer gestohlen; Prometheus wird leiden müssen. […].»

dieser schrecklich schöne augenblick, an den ich mich sehr wohl erinnere, war der äusserste vorstoss in einen luftleeren raum und heute verstehe ich ihn auch als reflex auf die situation in der scola, wo eine sehr internationale studentenschaft in einer eigenen welt lebte. ich habe an der scola nie anschluss gefunden: in den vier jahren hat sich kein persönlicher kontakt ergeben, der die vier basler jahre überdauert hätte. – noch ein beispiel für meine damalige situation: am 9. 5. 76 beging ulrike meinhof selbstmord, der kommentar im tagebuch:

«Nur: bin nicht auch ich Anarchist? Natürlich der Unterschied: Ich sah von vornherein ein, dass es völlig sinnlos ist, Bomben zu schleudern, unschuldige Menschen zu killen, weil man ja, wenn man nur ehrlich wäre, die Handgranaten fressen müsste, um zuerst die verheerenden Zustände ‘innerhalb’ gewaltsam zu zerstören.»

XIV

am dreizehnten abschnitt schreibend plötzlich angst: ich spürte, dass ich von diesen gedanken nicht befreit werden kann, dass sie möglicherweise stärker sind als ich. werde ich mir auf die dauer gewachsen sein? ich erinnere mich jetzt auch: im ersten semester des lehrerseminars (70) wochenlang das gefühl, rückwärts zu fallen. überhaupt: angstzustände. das weiterschreiben wird mir schwer.

(Sie, herr vogt, haben mich gefragt, ob ich depressiv sei. ich fragte dagegen, was das schon heisse. ist es möglich, dass ich mich denkend schon über meine physischen und psychischen grenzen hinausgewagt habe?)

XV

weiter:

nachdem ich im sommer 77 eine woche nach gösgen h. kennengelernt habe, hat sich meine innere welt stabilisiert, verfestigt (heute fühle ich in mir schon wieder gegenströme, die alles in frage stellen, alles von neuem in bewegung bringen wollen), so dass nach aussen hin mehr energien frei wurden. parallel zum letzten jahr an der scola begann ich (vielleicht auch deshalb) im herbst 78 an einer anderen abteilung der musikakademie, am konservatorium, musiktheorie zu studieren (je länger desto mehr fühlte ich mich zu den theoretischen und philosophischen aspekten der musik hingezogen; die blockflöte – mein hauptfachinstrument –, wurde mir schnell zum nebenfach, das ich oft stiefmütterlich behandelte, indem ich wochenlang kaum übte). durch die wahl meines instruments musste ich mich von allem anfang an auf die auseinandersetzung mit der musik von 1550 bis 1750 beschränken. die fragen, die mich aber wirklich interessierten: kann mir musik eine sprache sein? mit welcher musik kann ich mich ausdrücken? blieben weitgehend unbeantwortet. «musiker zu sein» schien sich vorallem darauf zu beschränken, als unkritischer handwerker jeden tag stundenlang zu üben, mit dem ziel, später bühnenreif zu werden. den plan, ausführender musiker zu werden, hatte ich aber nie im ernst, und meine vorbehalte gegen den konzertbetrieb, wie ich ihn in basel kennenlernte (bildungsalibi des ‘bildungs’bürgertums) wuchsen derart, dass ich monatelang keine konzerte mehr besuchte. das theoriestudium blieb vorderhand in den anfängen stecken: im sommer 79 packte ich meine sachen in basel und zog nach zollikofen; der plan, musiktheorie weiterzustudieren (möglicherweise in bern) bleibt allerdings bestehen.

XVI

aus der ferienbekanntschaft mit h. im sommer 77 entwickelte sich eine festere beziehung; unsere treffen in basel, in ihrem (burgdorf) oder meinem (roggwil) elternhaus, bei gemeinsamen bekannten in langnau, in thun, der wunsch zusammenzuleben: ihre versuche, aus der engeried-krankenschwesterausbildung wegzukommen (der scheiterte), mein auszug aus der wg, die sich inzwischen (herbst 78) in eine reine frauen-wg gewandelt hatte, das zunehmend gespannte verhältnis zur musik, die rückkehr in ein kleines zimmer, nähe spalentor, erinnerungen an die herbstmesse: bücherantiquariate, gebrannte mandeln, herbst über dem rhein, fastnachtsbilder: die wohltuende einsamkeit in trommelnden, pfeifenden gassen, der zertretene mimosenzweig im konfettihaufen, lange stunden am cembalo, an dem ich immer anfänger und doch glücklich gewesen bin, die stillen letzten monate in basel – der entscheid war gefallen: ich würde basel verlassen, um mit h. zusammenleben zu können –, die vorbereitungen auf die schlussprüfungen, die ersten notizen zur diplomarbeit, die zeitlosen stunden an den flipperkästen der kleinbasler spielsalons, der nächtliche rhein am unteren rheinweg, das vorsommerliche licht über dem marktplatz, die tauben, aufflatternd vor meinen gedankenverlorenen schritten (vielleicht bin ich ein träumer), der abschied von der scola, an dem mir niemand die hand reichte (fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus: immer ein wenig winterreise, auch unter juli-sonne), wie ein spuk: die vielen leute vom riehenring verschwunden: beat und antoinette, stefan, gisela, peter, hansgeorg, bettina: gesichter, bilder, geschichten (halbliterkrüge voll dunklen biers im alten warteck vorne an der mustermesse), an einem gewittrigen sommerabend werfe ich meinen gerümpel und hundert kilo bücher in einen vw-bus, mein jüngerer bruder fährt, tags darauf trage ich den plunder in die zollikofer zweizimmerwohnung an der schützenstrasse, ein paar tage später rufe ich das heks an, ob sie noch einen brauchen könnten: zehn tage, nachdem ich basel verlassen habe, beginne ich in roggwil zu arbeiten – seither proben wir abends und in freitagen das kleine glück in unserer kleinen wohnung: ab und zu ist sehnsucht in mir nach nirgendwo.

XVII

im frühjahr 78, in musikgeschichtevorlesungen und während sinnlosem blockflötengeübe, während die letzten holzscheiter im ofen knackten, der kirschbaum schon blühte vor dem fenster, begann ich mein erstes ernstzunehmendes literarisches projekt zu planen, eine lyrische standortbestimmung zwischen vaterland und sprachlosigkeit, zwischen widerstand und resignation. die ganzen semesterferien (juli - oktober 78) sammelte ich meine vereinzelte sprache, trug ich zusammen, verwarf ich, plante ich, dachte ich mich in eine neue form, schuf ich neu, riss ich nieder, entstand ein lächerlich kleines universum, so gross wie ich, in dem ich mich sah, in dem ich mich auch heute noch zu einem guten teil wiederfinde. – in der wohngemeinschaft, in der ich immer noch lebte, waren viele neue leute, lauter frauen, eingezogen; ich war akzepitiert, man liess mich in ruhe, zu guten worten und gesprächen kam es oft, zu berührungen kaum, ein spontaner, freundschaftlicher kuss liess mich erröten (schon damals begann das zu wachsen, was h. und mich nun zu quälen beginnt: unsere gegenseitige fixiertheit, die ausschliesslichkeit unserer beziehung). ich sass in meinem zimmer und schrieb. ich spazierte durch basel und sammelte sprache. ich spielte schachpartien auf den grossen brettern vor der mustermesse und erdachte verse, nächtlich stand ich auf der pfalz und erlauschte die stille über dem rhein, erinnernd blickte ich hinunter auf die wettsteinbrücke. – vieles war möglich, nichts war, alles wurde; der tägliche fortschritt: zwei seiten gesudel: leben: sprache, lesend, sehend, gehend, fragend, basel, heimat, meine welt: die gewalt beginnt nicht erst dort, wo geschossen wird, die uniformen der in den zeitungen abgebildeten offiziere sind sauber; subalterne offiziere, angetrunken, lassen sich dazu hinreissen zu behaupten: politik sei eine schweinerei, in den kantonnementen herrscht sauberkeit und ordnung, im ‘Butt’ ist zu lesen des plattfischs behauptung: töten ist sexualität mit anderen mitteln – NICHTS WAR, ALLES WURDE: machtmissbrauch beginnt dort, wo das naheliegende auseinandergenommen wird, wo das unlogische logisch wird (mit einem gewehr den frieden verteidigen), wo das logische unlogisch wird (ohne waffe sei frieden unmöglich), wo gehorsam mit disziplin verwechselt wird, wo das gespräch über bäume schon immer ein verbrechen war, weil es schon immer das schweigen über so viele verbrechen miteinschloss. – DIE SOMMERMONATE: es geschah prägendes, irreversibles, wieder war ich allein, aber diesmal glücklich, stark: ich beschrieb angst, damit sie nicht mehr quälte, ich setzte ‘SCHULD’ ausser mich, um endlich stark genug zu werden, auch schuld auf mich nehmen zu können, um leben und atmen, um handeln zu können. ich verleugnete nicht meine unsicherheiten, meine not (die nun nicht mehr nur meine not war) und wie ich (endlich) schwäche eingestand, wurde ich stärker. (ich habe vom ‘oratorium’ ‘nach dir kräht kein hahn’ fünfundzwanzig exemplare hergestellt und sie in meinem weiteren bekanntenkreis verteilt).

XVIII

für h.

da wir
aufeinanderzugehend
uns aus den augen verlieren
da wir
uns in die augen sehend
hinter den augen
(was ist dort?
was ist dort?)
fremder werden

da wir
uns neu durchdringend
suchen und suchen
da wir uns brauchen
immer noch/
immer wieder/
immer mehr/
wächst liebe und angst

XIX

und all dieses um zu zeigen: ich kann nicht mehr, wie das gesetz es befiehlt: stieg ich in die wunde meiner vergangenheit und fand eiterndes. rückschritt (‘orale regression’) und fortschritt: nun wieder rauchend dachte ich mich in die neusten tage, behaupte, einen punkt erreicht zu haben, den ich in weiter ferne glaubte (denn so war es geplant: am 270. diensttag, nach neun monaten, im letzten wk, wollte ich die idee der endgültigen verweigerung gebären, wollte ich meiner verzweiflung lauf lassen, auf einem düsteren hv-platz ‘nein’ sagen und zu diesem ‘nein’ stehen vor einem divisionsgericht oder wo immer) und nun dieses: ich kann nicht, es fehlt die kraft durchzuhalten, es fehlt jeder wille, noch länger den staatlich verordneten wahnsinn mitzumachen, es fehlt mir der glaube, dass fliegender puls, dass scheisse wie wasser, dass immer wiederkehrende angstträume, dass zwei oder mehr monate militärschrecken im jahr aufgewogen wird von jenem ‘nein’ in vier jahren, in fünf jahren (oder nie) auf einem hv-platz, unverstanden, belächelt und beschimpft zwischen so vielen rechtschaffenen. hochtrabende argumentationen: religiöse, politische, pazifistische, moralische, psychologische, soziologische. gewiss, viele argumente beeindrucken mich; und nun sage ich bloss: ich kann nicht mehr, lasse mich beschimpfen als weichling, feigling, drückeberger, lasse mich (wie es allem abnormen geschieht) des wahnsinns oder der subversion verdächtigen und sage: ich kann nicht mehr.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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