Die grosse Scham der kleinen Leute

 

Warum das erste Wort von Gotthelfs «Bauern-Spiegel» derart wichtig ist

 

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1. 

Der Vater meines Vaters hiess Friedrich Lerch, und seine Herkunft war während meiner Kindheit und Jugendzeit von undurchdringlichem Schweigen umgeben. Er, der Lerch-Grossvater, sei ein Verdingbub gewesen, sagte man mir, und mehr wisse man nicht. Eine beunruhigende Andeutung: Gab es irgendwo eine Verdingwelt, in die man gesteckt werden konnte, möglicherweise dann, wenn man nicht gehorcht hatte? Wenn man über diese Welt nichts wissen konnte, war sie also nichts als ein schwarzes Loch – ohne Lederfussball, Briefmarkenalbum und Blockflöte, ohne Eltern, Daheim und Herkunft, für die es Wörter gäbe? Und wie kam der Grossvater schliesslich heraus aus dieser Welt? Denn herausgekommen war er, vor vielen Jahren an geheimem Ort durch eine geheime Tür, stellte ich mir vor, um hier, in dieser Welt, die Rosa Schär, meine Grossmutter, zu heiraten.

In den Jahren, in denen ich heranwuchs, sass der Grossätti als längst pensionierter Ziegeleiarbeiter mit schweren Händen auf der Gartenbank vor seinem Häuschen, trank ab und zu in kleinen Schlucken ein Glas Veltliner oder Valpolicella aus der Literflasche und schwieg. Über die Verdingwelt sagte er nie ein Sterbenswörtchen. Am 18. Oktober 1973 erlaubte er sich, gut achtzigjährig, einmal etwas länger liegen zu bleiben als gewöhnlich. Als seine Frau nach ihm schaute, war er tot. An der Abdankungsfeier in der Dorfkirche erfuhr ich – unterdessen neunzehnjährig – über die Verdingwelt nichts Neues. Bevor er hierher ins Dorf gekommen sei, um eine Einheimische zu heiraten, sei der Friedrich Lerch «im Luzärner hinge» als Verdingbub aufgewachsen. Mehr gab es dazu auch jetzt nicht zu sagen.

2.

Dass die Verdingwelt kein schwarzes Loch der Sprachlosigkeit ist, lernte ich beim Lesen des «Bauern-Spiegel»-Romans, der «Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf von ihm selber beschrieben». Darin beeindruckte mich zuerst die Schilderung der «Bettlergemeinde», eines Viehmarkts, an dem statt Rinder Kinder verschachert wurden: «Es war fast wie an

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einem Markttag», schrieb Pfarrer Albert Bitzius 1837, «man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück, fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt.» Hier wurde auch der kleine Jeremias, der Miasli, feilgeboten, nachdem sein Vater beim Holzen von einer rutschenden Buche getötet und seine Mutter danach von den braven Bauern des Dorfes in den Ruin getrieben worden war. «‘La gseh, wer wott dä Bueb, er ist gar e tolle un e muntere, un ist guet kleidet, er isch e halbe Knecht oder es ganzes Kingemeitschi!’ so wurde ich ausgerufen.» Schliesslich lässt sich «ein noch ziemlich guter Bauer» bereden, Mias «um zehn Kronen jährlich» zu nehmen mit der Mahnung, sich «gut zu halten».(1)

Die Kinder wurden an der «Bettlergemeinde» also unter den begutachtenden Bauern versteigert, paradoxerweise aber nicht an den, der am meisten, sondern an den, der am wenigsten bot. In der «Armennot», die Pfarrer Bitzius 1840 bereits unter seinem Pseudonym Jeremias Gotthelf veröffentlichte, fand ich für diese Art des Kinderverschacherns den Begriff der «Mindersteigerung»: «Da wurden Kinder förmlich ausgerufen wie unvernünftiges Vieh. ‘Wer will minder als zehn Taler für das Meitschi, es ist ein gewachsenes und ist brav gekleidet’ usw. So musste das Kind sich ausrufen hören, musste hören, wie es Batzen um Batzen hinuntergesteigert wurde, und mit jedem abgemärteten Batzen wurde ein ganzes Jahr lang seine Behandlung um so härter, das wusste es. Man schlug sie den Mindestbietenden zu, sehr oft, ohne dass man wusste, wer sie waren.»(2) Mit der Zeit begriff ich den sozialgeschichtlichen Hintergrund dieser «Mindersteigerung»: Die Heimatgemeinde des Verdingkindes, in der die «Bettlergemeinde» stattfand, war verpflichtet, jenem Bauern, der das Kind aufnahm, ein Kostgeld zu bezahlen. Teils wegen starkem Geburtenüberschuss, teils wegen der Funktionsweise der burgerlichen Armenpflege, wonach alle auswärts Verarmten in die Heimatgemeinde abgeschoben wurden, standen gerade arme Landgemeinden finanziell

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unter grossem Druck. Über die Hartherzigkeit hinaus waren die Gemeindevertreter deshalb interessiert, für die Verdingkinder möglichst wenig bezahlen zu müssen. Umgekehrt hatte der mindestbietende Bauer gerade deshalb, weil er von der Gemeinde sehr wenig Kostgeld bekam, das Interesse, die ersteigerte Arbeitskraft möglichst intensiv zu brauchen, um auf diese Weise auf die Rechnung zu kommen. Ob mein Grossvater auch einmal an einer Bettlergemeinde ausgerufen worden ist?

«Die Armennot» ist ein Sachtext, der für Gotthelf «einen bestimmten und nicht bloss einen schriftstellerischen und subjektiven Zweck»(3) haben sollte. Er hat dieses Buch nicht zuletzt in seiner Funktion als Präsident der Verwaltungskommission der 1835 gegründeten Armenanstalt Trachselwald geschrieben – als einer also, der die Machenschaften im Verdingwesen bestens kannte. In der «Armennot» kritisierte er deshalb nicht nur die «Mindersteigerung», sondern das ganze System, das er kurzerhand als «Erwerbszweig» für die Bauern bezeichnete: «Es gibt eine grosse Menge Leute, welche ob verdingten Kindern etwas verdienen wollen; das Kostgeld soll ihnen einen Zins oder den Hauszins oder das Milchgeld etc. liefern. Sie wollen ob den Kindern ihr eigen Leben besser fristen.»(4)

In der «Armennot» werden vier schlechte Arten von Pflegeeltern unterschieden: Solche, die selber «nichts zu beissen, nichts zu brechen» haben; solche, die «arbeiten wie die Pferde Tag und Nacht» und «von des Menschen Bestimmung so wenig einen Begriff» haben «als ein Heugabelstiel vom lieben Gott»; solche, die keine eigenen Kinder, aber den Ruf «besonderer Gutmeinenheit» haben und die Verdingten «wie Schosskatzen» verziehen und schliesslich solche, die er unumwunden als «Diebe und Trunkenbolde, […] Ruchlose und Gottlose» anspricht. Kinder, die es zu letzteren traf, litten am meisten: «Es liessen sich eine Menge wirklich grässlicher Geschichten erzählen über die Behandlung solcher Kinder, erzählen von Arm- und Beinzerschlagen, von Schändung von Mädchen und Knaben, von Anführen zum Diebstahl, von fürchterlichen Martern […] wie man arme Kinder erfrieren liess, barfuss das Vieh weiden in Nässe und hartem Reif, ihnen erst um Weihnacht Schuhe und Strümpfe anschaffte, dass sie für ihr Leben lang arbeitsunfähig wurden, wenn sie

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nicht schnell unter fürchterlichen Schmerzen starben.» Empört hat sich Gotthelf insbesondere darüber, «dass solches alles nicht nur ungestraft geschah, sondern dass man den gleichen Leuten immer wieder Kinder zuteilte.»(5) Wie mein Grossvater es wohl getroffen haben mag?

Glück hatten übrigens, so Gotthelf weiter, jene Verdingkinder, die «zu sehr rechtschaffenen, tüchtigen Leuten» kamen – freilich nur dann, wenn sie in die Familie aufgenommen und nicht zum «Spielball» des «Gesindes» gemacht wurden, sonst seien sie «missbraucht» und «ihr Charakter durchaus zugrunde gerichtet» worden.(6) Zu einer solchen Familie kommt im «Bauern-Spiegel» Mias bei seiner ersten Verdingung: Er trifft es zwar nicht schlecht, wird aber nicht in die Familie aufgenommen, sondern hat als «Kingemeitschi» des Bauern Kinder zu erziehen. Sprechend zeichnet Gotthelf den Ort des Buben in der Familie mit einer Feierabendszene in der Bauernstube – Mias soll sich im Lesen üben: «Zunächst dem Lichte sassen die Spinnenden, dann die Kinder; war auch noch der Bauer am Tisch und nicht auf dem Ofen, so kam ich so weit vom Lichte ab, dass es auf meinem Buche ganz dunkel war. Klagte ich darüber, so hiess es: ‘Meinst du, du ghörst obe a Tisch, oder me söll für di aparti Liecht ha? Mir wey nid geldstage wie dy Vater etc.»(7) Mias überwirft sich in der Folge mit der Bäuerin, kommt erneut vor die Bettlergemeinde und wird insgesamt vier Mal verdingt, bevor er als Knecht auf die eigenen Beine kommt.(8)

Obschon die Zeitgenossen die literarische Leistung von Jeremias Gotthelfs «Bauern-Spiegel» erkannten, kritisierten sie, das Buch sei «ein eigentliches Nachtstück», «eine zu grell ins Schwarze malende Farbe herrsche darin vor». Man bemängelte, dass es nur «Wunden und Schäden»

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blosslege, «ohne die Heilmittel zu zeigen».(9) In der Tat betreibt Gotthelf – nicht zuletzt in den Passagen zum Verdingwesen – ungeschminkte Sozialkritik. Warum er das tat, hat 1861 bereits der erste Gotthelf-Biograf Carl Manuel gesagt auf die Frage, warum der Pfarrer von Lützelflüh als bereits 39jähriger Mann noch Schriftsteller geworden sei.  Manuel war der Meinung, dass nach ausserliterarischen Antworten gesucht werden müsse, da «für Schöngeisterei unser Klima viel zu rauh» sei und Bitzius in seinem Beruf längst ein «ganz genügendes Einkommen» gefunden habe. Manuels Antwort: «[Bitzius] empfand das Bedürfnis, zu reformieren, gewisse Zweige des öffentlichen Lebens, deren Gebrechen ihm genau bekannt waren, wie das Armenwesen, das Schulwesen, verbessern zu helfen, hineinzuzünden mit der Leuchte vernünftiger Einsicht in die Krankheitszustände der Zeit und durch rückhaltlose Darlegung der Tatsachen auf Abhülfe hinzuwirken. Dieser Zweck erscheint als das determinierende Motiv von Bitzius’ Schriftstellertum.»(10)

Dass sich Bitzius als Sozialreformer im «Bauern-Spiegel» des Schreibens bediente und nicht umgekehrt dem Schriftsteller ab und zu eine sozialkritische Passage unterlief, hat hundert Jahre später noch den Literaturwissenschaftler Walter Muschg geärgert: Zwar habe «Der Bauern-Spiegel» als «sozialer Roman in der deutschen Literatur kein Seitenstück» und zeuge von «grosser Erzählgabe» und «grosser Gestaltung». Jedoch sei der Text «stofflich» und «inhaltlich» von einer «barbarischen Ursprünglichkeit» und wolle mit seinem «krassen Naturalismus des Stils» «sittlich wirken, die Menschen und die Welt verändern»: «Deshalb stösst [Gotthelf] die Leser, nicht immer geschmackvoll, mit der Nase auf die Tendenz des Buches.» Wegen der «qualvollen Häufung der Elendsmotive» drohe die Darstellung – man denke! – «in die blosse Reportage abzusinken» und «die realistisch-volkskundliche Schilderung Selbstzweck zu werden».(11)

Es ist nun allerdings so, dass nicht nur Gotthelfs Erstling eine «Tendenz» aufweist, sondern auch die zeitgenössische und spätere Rezeption des

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«Bauern-Spiegels». Von den Zeitgenossen bis zu Walter Muschg bewunderte man zwar die literarische Leistung, störte sich aber an der «Tendenz». Denn eigentlich wusste die bieder-bürgerliche Kunstbetrachtung seit jeher: Entweder hat ein Buch eine Tendenz, oder es ist Literatur. So wurde Gotthelfs Sozialkritik verharmlost oder gar tabuisiert. Und deshalb bekamen die «Bettlergemeinden» 1837 zwar ein literarisches Denkmal. Aber abgeschafft waren sie deshalb noch lange nicht.

3.

Vermutlich war mir schon 1973 während der Abdankung klar, dass über die Herkunft des Lerch-Grossvaters mehr in Erfahrung zu bringen sein müsste als die Tatsache, dass er Verdingbub gewesen ist «im Luzärner hinge». Die Frage begann mich zu beschäftigen: Es musste doch noch jemanden geben, der sich erinnerte – und wenn nicht, dann mussten sich in Dorfarchiven oder Kirchenrodeln schriftliche Spuren finden lassen. Im März 1984 nahm ich einen unbezahlten Urlaub mit dem Vorsatz, einen Blick zu tun in das schwarze Loch von Grossvaters Verdingwelt. Ich kehrte ins Dorf zurück, bezog im Elternhaus mein ehemaliges Zimmer, besuchte fleissig die betagte Witwe des Grossvaters, korrespondierte mit Gemeindeschreibern, telefonierte mit Lokalhistorikern, Pfarrern und uralten, schwerhörigen Bauersleuten im unteren Emmental. Am Ende des Urlaubs war immerhin soviel klar:

Mein Ur-Ur-Grossvater väterlicherseits hiess, wie schon dessen Vater, Kaspar Lerch. Er wurde 1820 geboren, war zuletzt Knecht im Weiler «Junkholz» bei Heimiswil und starb 1894 an einer Lungenentzündung. Im August 1849, als ihm am 12. seine Frau Anna Barbara, geborene Brand, den Sohn Friedrich – meinen Ur-Grossvater – gebar, lebte er mit seiner Familie in Sumiswald. Sowohl Sumiswald als auch Heimiswil liegen in unmittelbarer Nachbarschaft von Lützelflüh. Deshalb darf als höchstwahrscheinlich gelten, dass mein Ur-Ur-Grossvater den 1854 verstorbenen Pfarrer Bitzius vom Sehen gekannt hat.

In den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war dieser Ur-Grossvater Friedrich Lerch Melker im Weiler Holzmühle bei Hindelbank; sein Meister habe Hänni geheissen. In dieser Zeit arbeitete dort auch die

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Wäscherin und Landarbeiterin Annamaria Ryser, die während ihrer erster Ehe Wiedmer geheissen hatte. Im Herbst 1892 wurde die 37jährige Frau vom 43jährigen Melker schwanger – wohl kaum ein Wunschkind. Am 11. Februar 1893 reisten die beiden nach Bern. Jeweils samstags, erzählte mir die Grossmutter, hätten damals im Berner Münster für arme Paare kostenlose Massentrauungen stattgefunden. Mein Grossvater ist am 20. Mai 1893 in Münchringen, einem kleinen Dorf neben Hindelbank, zur Welt gekommen.

Annamaria Lerch-Ryser hatte eine Schwester, die Elisabeth hiess und mit dem Bauern Peter Stalder verheiratet war, der um die Jahrhundertwende den Hof «Burgacker» in Lützelflüh bewirtschaftete. Sicher ist, dass die Familie Lerch im Burgacker verkehrt hat, vermutlich hat man auf dem Hof zeitweise mitgearbeitet. Auf jeden Fall ist Annamaria Lerch dort am 8. Mai 1905, erst 50jährig, gestorben. Die Todesursache ist bisher nicht bekannt. Zurück geblieben sind der Urgrossvater mit seinem Sohn und mit Luise, der Stieftochter aus der ersten Ehe seiner Frau. Der 12jährige Fritz bleibt als Verdingbub bei seiner Tante im Burgacker. Als die Familie Stalder um 1911 einen Hof im Weiler Ludligen im luzernischen Altbüron übernimmt, geht der nun 18jährige mit.

Am 14. August 1913 um «sieben Uhr nachmittags» – wie das Totenregister Band A LIV, Seite 203, Nr. 968 des Zivilstandskreises Bern festhält – stirbt der Ur-Grossvater 64jährig in Bern – im Inselspital, wie die Grossmutter weiss. «Dr Vattr», ihr Mann, sei sofort nach Hindelbank gereist und habe später ab und zu erzählt, dass man den Sarg mit Ross und Wagen am Bahnhof Hindelbank abgeholt und zur Holzmühle hinüber geführt habe.

Als mein Grossvater am 18. Dezember 1919 – sechs Monate vor der Geburt meines Vaters – Rosa Schär heiratet, vermerkt der Beamte des «Zivilstandskreises Pfaffnau» unter der Rubrik Beruf: «Melker». Das junge Paar lässt sich in Roggwil nieder, wo es sich 1931 ein eigens Haus bauen lässt. Der Grossvater arbeitet als Ziegelei- und als Waldarbeiter, die Grossmutter als Arbeiterin in der Textilfabrik Gugelmann.

Soweit war ich mit meinen Nachforschungen, als mich meine Grossmutter am Vormittag des 28. März 1984 anrief und sagte, sie müsse mit mir reden. Als ich in ihrer Stube sitze, fragt sie, wie es mit meiner Familienforschung stehe. Ich zeige ihr die Dokumente, die ich bisher zusammen-

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getragen habe. Nun beginnt sie von einer Fernsehsendung zu reden, in der ein Ahnenforscher gezeigt worden sei und man gesagt habe, es gebe noch weitere solcher Forscher. Ob ich auch fürs Fernsehen arbeiten würde? Ich verneine. Trotzdem bittet sie, ich solle mit meiner Fragerei aufzuhören: Was an diesen Geschichten noch interessant sei? Das sei doch alles längst vorbei. Und wenn schon, solle ich im Leben der Reichen herumwühlen, über Leute wie sie gebe es nichts zu schreiben.

4.

1991 hat der Historiker Marco Leuenberger eine Lizentiatsarbeit über die Verdingkinder des Kantons Bern verfasst.(12) Dieser nicht gedruckte Text ist die einzige zeitgenössische historische Arbeit über das Verdingwesen. Im Juni 2003 hat deshalb Ruedi Baumann als Nationalrat der Grünen eine Motion mit folgendem Wortlaut eingereicht: «Der Bundesrat wird eingeladen, endlich eine fundierte historische Aufarbeitung der Problematik der Verdingkinder in die Wege zu leiten.»(13)

Nach Leuenbergers Darstellung ist klar: Im Prinzip wäre es möglich gewesen, dass mein Grossvater noch 1905 an einer Bettlergemeinde vorgeführt und der Mindersteigerung unterworfen worden wäre. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass er im Quervergleich mit den gut 5000 verdingten Kindern, die es damals im Kanton Bern gab, ein vergleichsweise gutes Los gezogen hat.

Mindersteigerungen wurden im Kanton Bern erstmals mit dem Armengesetz von 1847 ausdrücklich verboten, «Verding-» oder eben Bettler-

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gemeinden mit dem Armengesetz von 1897. Trotzdem heisst es noch 1920 – 83 Jahre nach der Veröffentlichung des «Bauern-Spiegels» – im Tagblatt des Berner Grossen Rats, dass nach wie vor die eine oder andere Gemeinde versuche, Bettlergemeinden «nach altem Brauch» durchzuführen. Das allerdings waren dann doch Auswüchse an Hartherzigkeit und Unfähigkeit – wie auch der Tod eines fünfeinhalbjährigen Verdingbuben in Frutigen 1945, dessen Leiche man am gerichtsmedizinischen Institut in Bern schliesslich als «typischen Fall einer Kindsmisshandlung mit tödlichem Ausgang» den Studenten vorgeführt hat.(13a)

Neben solchen Auswüchsen gab es eine alltägliche Praxis mit ausdifferenzierten Kategorien von fremdplatzierten Kindern – insbesondere im Kanton Bern, der, so Leuenberger, «der klassische Pflegekinderkanton» sei. Man sprach von Verding-, Kost-, Güter-, Hof-, Rast-, Hüter- oder Loskindern. Es gab fremdplatzierte Kinder von vorübergehend unterstützten «dürftigen» und von dauernd unterstützten «notharmen» Eltern. Man kannte die freiwillige und die zwangsweise Fremdplatzierung. Leuenberger definiert: «Unter ‘Verdingkindern’ verstehen wir von behördlicher oder privater Seite bei Pflegefamilien mit oder ohne Entschädigung zur Ernährung, Pflege und Erziehung untergebrachte arme(ngenössige) Kinder, die ihre Pflege durch die eigene Arbeit verdienen mussten.»

Dass es «aus freien Stücken (…) infolge Todesfalls eines der beiden Ehepartner» zur Verdingung kam, wie im Fall meines Grossvaters, muss in ländlichen Gebieten insbesondere in Familien ohne Grundbesitz das Naheliegendste gewesen sein – wie auch, dass ein Pflegeverhältnis im Verwandtenkreis gesucht wurde. Vermutlich hat die Tante Elisabeth, die Bäuerin auf dem Burgacker in Lützelflüh – ob freiwillig oder wegen der  «Verwandtenunterstützungspflicht» von Gesetzes wegen – auch die Vormundschaft meines Grossvaters übernommen. Dass er seine ganze Jugend auf dem gleichen Hof verbringen konnte, war im übrigen ein Glück und alles andere als selbstverständlich, stellt doch Leuenberger als einer der grossen Missstände des Verdingwesens «eine unvorstellbare Mobilität der Verdingkinder» fest. Anzunehmen ist zudem, dass mein Grossvater eines der vielen in privater Initiative versorgten Kinder war, das gar nie mit den Mechanismen der staatlichen Fürsorge konfrontiert worden ist. 1931 zum Beispiel ergab die Volkszählung im Kanton Bern 12000 Pflegekinder,

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während der Kanton zwei Jahre zuvor nur 5500 unter seiner Aufsicht hatte.

Nimmt man zu diesen Indizien die Tatsache, dass meine Grossmutter mit keinem Wort erwähnt hat, ihr Ehemann hätte je darüber geklagt, dass er es als Verdingbub speziell schlecht getroffen habe, so darf man vermuten: Er hat Glück gehabt. Dass er auf dem Standesamt später seinen Beruf als «Melker» angab, war wiederum naheliegend. In der Regel war Knecht oder Magd zu werden die gegebene Berufsperspektive von Verdingkindern. Sie wurden, zitiert Leuenberger eine Quelle von 1894, «tüchtig zur Landarbeit, aber weniger zum Schulbesuch angehalten».

5.

Nach dem Gespräch mit der Grossmutter rief mich am Nachmittag des 28. März 1984 der Vater aus der Textilfabrik Gugelmann an: Er habe mit seinem Bruder, meinem Onkel, gesprochen, der in der gleichen Fabrik gearbeitet und zu jener Zeit täglich im Elternhaus vorbeigeschaut hat. Die Grossmutter sei seit Tagen in Aufregung wegen meiner Nachforschungen, sie rede nur noch davon, schlafe nachts kaum mehr, sei nicht mehr zu beruhigen, man müsse befürchten, dass «s Müeti übereschnappi». Ich solle sie auf keinen Fall mehr weiter mit Fragen belästigen.

Nach diesem Gespräch setzte ich mich an die Schreibmaschine und notierte die Gründe für den unfreiwilligen Abbruch meiner Recherche. Grossmutters Aufregung erklärte ich mir als «Tabuisierung der eigenen Geschichte»: «Zu den kleinen Leuten zu gehören, ist offenbar unanständig, muss bekämpft, überwunden, verdrängt werden. Die Geschichte der Grosseltern kann ich lesen als geradlinigen Weg, aus dieser Kleinheit herauszukommen: Endlich etwas haben: ein eigenes Haus; endlich etwas sein: Hausbesitzer. Mit meiner Fragerei muss ich an dieses Tabu gerührt haben. Die Tabuisierung der eigenen Herkunft als Triebfeder, seine soziale Position zu verbessern. Wer nichts hat, ist nichts. Erst wer etwas hat, kann etwas werden, etwas sein.»

In der Arbeit von Marco Leuenberger finden sich verschiedene Hinweise, dass diese Tabuisierung der eigenen Geschichte historisch handfeste Gründe hat: Im 17. und 18. Jahrhundert, schreibt er, habe sich die Ar-

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menpflege auf die Anwendung von Polizeigewalt gegen das «Bettler- und Vagantentum» erschöpft; damals seien «arbeitsfähige Arme auf eine ähnliche Stufe wie Verbrecher» gestellt worden. Im 19. Jahrhundert dann sei die «Stigmatisierung der Armut ein beabsichtigtes Mittel der Armenpolitik» gewesen: «Jedermann sollte sehen und wissen, wer arm war. Durch die Verbindung der Hilfe mit einer öffentlich moralischen Disqualifikation sollte dem Armen sein Zustand vor Augen geführt werden.» Verdingkinder zum Beispiel trugen «mindere Kleidung».

Im zweiten Teil der «Leiden und Freuden eines Schulmeisters» (1839) zitiert Gotthelf den Paragraphen 85 des damaligen kantonalen Schulgesetzes, wonach der Lehrer «die Schamhaftigkeit unter seinen Kindern» zu befördern habe. Sarkastisch fügt er bei, wenn der krass unterbezahlte Lehrer «selber Schamhaftigkeit» habe, so dürfe er ob seiner eigenen Armut «den ganzen Tag die Augen nicht aufschlagen»(14) Wer arm war, heisst das, hatte sich seiner Armut zu schämen, zu arbeiten und zu schweigen. Hoffnung war nicht vorgesehen. Noch 1876 sprachen die kantonalen Beamten laut Leuenberger im Verwaltungsbericht der «Direktion des Innern, Abtheilung Armenwesen», von der «Heredität der Armuth» – Armut war für sie demnach eine Frage der Vererbung. Wer arm war, kam aus einer erblich vorbelasteten Familie: gewöhnlich ein hoffnungsloser Fall.

Zu all dem muss für meine Grossmutter hinzu gekommen sein, dass ich das Tabu des Fragens verletzt habe: Ist es nicht so, dass nur der fragt, der es nötig hat zu fragen? Wer fragt, weiss etwas nicht; wer fragt, will eine Auskunft; wer fragt, braucht etwas. Umgekehrt: Nur wer etwas braucht, hat es nötig zu fragen. Darum hat Fragen etwas Unanständiges. Fragen hiess ja noch bis in die Jahre des Wohlfahrtsstaates hinein auch hausieren, und wenn das nicht ging: betteln. Während meiner Jugend war im Oberaargau noch an der einen oder anderen Haustüre zu lesen: «Betteln verboten».  Betteln war unanständig. Wer arbeitet, braucht nicht zu betteln. Wer arbeitet, braucht nicht zu fragen. Wer arbeitet, weiss, was er zu tun hat.

Dass ich damals meine 1991 verstorbene Grossmutter hartnäckig zu befragen begann, muss für sie bedeutet haben: Statt dass der Grossbub etwas Richtiges arbeitet, versucht er das Familientabu der überwundenen Armut ans Licht und damit den Namen der Familie in den Dreck zu ziehen.

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Als am Abend jenes 28. März 1984 der Vater von der Arbeit heimkam und wir noch einmal über die Reaktion der Grossmutter redeten, erzählte er, wenn seine Mutter auf der Strasse von jemandem nicht gegrüsst werde, mache sie sich jeweils ein Gewissen und frage sich, was sie wohl dieser Person zuleide getan habe. Wie oft habe er von ihr während seiner Jugend zu Hause gehört: «I by haut nume s Schär Rosi.»

Hinter dieser Verunsicherung der Grossmutter steckte möglicherweise die Frage: Wenn ich nicht mehr gegrüsst werde, gibt es mich dann überhaupt noch? Die Scham der Frau des Verdingbuben gebot nicht nur, über die Herkunft zu schweigen, sie rief auch immer wieder neu die Angst vor der sozialen Nullifizierung durch die Gesellschaft hervor. Wer arm war, musste nicht nur im materiellen, sondern auch in einem sozialen Sinn dauernd darum kämpfen, dass es ihn noch gab. Von allen aber die Ärmsten – und das heisst: die materiell und sozial Gefährdetsten – waren von alters her die verdingten Kinder. Dass mein Grossvater im Vergleich zu anderen dabei vermutlich ein gutes Los gezogen hat, spielte keine Rolle. Verdingkind sein hiess: sich seines Soseins zu schämen und sich dauernd davor zu fürchten, dass es einen plötzlich nicht mehr gibt. Nicht mehr Verdingkind sein zu wollen hiess: So lange zu schweigen und zu arbeiten, bis man eines Tages nicht mehr arm sein würde – und danach bis zum Tod zu schweigen über das schwarze Loch der Herkunft.

Dass ich bei meiner abgebrochenen Suche nach den Wurzeln der Lerch-Sippe schliesslich nur einige Namen und eine Reihe amtlich registrierter Eckdaten gefunden habe, hat nicht nur, aber auch mit dieser vermutlich kulturell tief verwurzelten Scham zu tun, die gebot, in gottgefälliger Bescheidenheit möglichst spurlos wieder aus der Welt zu verschwinden.

An diesem Punkt schliesst sich der Kreis zum ersten Satz des «Bauern-Spiegels»: «Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand, in einem Jahre, welches man nicht zählte nach Christus.»(15) Das ist ein Satz von nicht zu überschätzender literarisch-weltanschaulicher und sozialgeschichtlicher Bedeutung:

• Literarisch-weltanschaulich findet sich darin das Programm des Sozialreformers Bitzius: Die Welt, die er sich darzustellen vornimmt, ist eine unverständige, das heisst: unaufgeklärte, und zwar weil sie die Jahre nicht mehr in der Nachfolge Christi zählt. Gotthelfs Schriftstellerei

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ist nicht nur, aber auch eine bis zu seinem Tod immer konservativer werdende Aufklärung auf dem Fundament des Christentums gegen die gesellschaftlichen Missstände.

• Sozialgeschichtlich ist die Erzählposition im «Bauern-Spiegel» von grösster Bedeutung. Im ersten Satz sagt ja nicht Bitzius als allwissender Erzähler «ich», sondern Jeremias Gotthelf: Hier spricht ein ehemaliger Verdingbub, der die Scham der Herkunft überwunden hat, sich nicht um Tabus kümmert und in seiner Geschichte mit dem Unsinn aufräumt, Armut sei eine Erbkrankheit: Wo es soziales Unrecht gibt, gibt es nie nur Opfer, sondern immer auch Täter. Weil der «Bauern-Spiegel» als fiktive Autobiografie eines Opfers geschrieben ist, spiegelt er die Täter umso schonungsloser.

So eindrücklich Gotthelf mit dem «Bauern-Spiegel» zeigt, dass nur auf die eigenen Beine kommt, wer die Scham der Herkunft überwindet, so eindrücklich hat er übrigens kurz darauf gezeigt, wie vernichtend diese Scham sein kann, wenn sie tabuisiert bleibt. Nichts anderes als sie führt in der Erzählung «Elsi die seltsame Magd» (1843) dazu, dass Elsi und Christen erst im Augenblick des gemeinsamen Todes zusammenfinden können.(16)

Die Opfer von Vulkanausbrüchen finden Archäologen nur noch als Hohlräume in der versteinerten Asche. Solche Hohlräume gibt es auch in der Sozialgeschichte. Man kann sie – statt mit Gips – mit «logischer Fantasie» (Niklaus Meienberg) ausgiessen. Ein ganz kleiner solcher Hohlraum ist folgender: Der Verdingbub Fritz Lerch wird in Lützelflüh schon als 12jähriger darauf hingewiesen worden sein, dass unter dem wuchtigen Grabstein an der Südseite der Dorfkirche ein bedeutender Mann begraben liege. Vielleicht hat man ihm sogar gesagt, da liege ein ehemaliger Pfarrer, der zwischenhinein gedichtet habe. Aber den «Bauern-Spiegel» oder «Elsi die seltsame Magd» hat ihm wahrscheinlich nie jemand zu lesen gegeben.

Zitiert wird nach Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke, Erlenbach-Zürich (Rentsch) 1911-1977; I-XXIV (Werkbände) und 1-18 (Zusatzbände).

(1) I, 68+69.

(2) XV, 103f.

(3) 5/41 (an Rudolf Fetscherin).

(4) XV, 103.

(5) XV, 104f.

(6) XV, 106f.

(7) I, 83.

(8) Zweite Verdingung: I, 91ff; dritte Verdingung: I, 115ff; vierte Verdingung: I, 136ff. – Übrigens hat Gotthelf auch an anderen Stellen seines Frühwerks das Verdingwesen angesprochen: In der Erzählung «Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen» (1838) wird die Marei verdingt (XVI, 20f); in «Anne Bäbi Jowäger» verbringt Meyeli seine Kindheit als «armes Waisli» um «dr Gottswille» beim «Götti in Raxigen», nachdem «Ätti und Müetti» in «Hudelbank» gestorben sind (V, 120).

(9) Carl Manuel: Jeremias Gotthelf. Sein Leben und seine Schriften. Zürich (Eugen Rentsch Verlag) 1861/1922, 56f.

(10) Carl Manuel, a.a.O., 45ff.

(11) Walter Muschg. Jeremias Gotthelf. Ein Einführung in seine Werke. München (Lehnen Verlag/Dalp Taschenbücher 303). o. J., 48ff.

(12) Marco Leuenberger: «Verdingkinder. Geschichte der armenrechtlichen Kinderfürsorge im Kanton Bern 1847-1945». Lizentiatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz 1991. – Wo nicht anders vermerkt, stützt sich die Darstellung in diesem vierten Abschnitt auf Leuenbergers Arbeit.

(13) Der Bundesrat hat die Motion am 26. September 2003 abgelehnt. Baumann kommentierte danach, so mache es sich der Bund zu einfach. Jetzt brauche es politischen Druck auf den Nationalfonds und interessierte HistorikerInnen, die ein Projekt ausarbeiteten. (WoZ 42/03) – Seither hat sich um den Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder eine Gruppe vom HistorikerInnen zusammengefunden, die den Themenkreis der Verdingkinder kontinuierlich bearbeitet (siehe z. B. Marco Leuenberger/Loretta Seglias [Hrsg.]: Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen, Zürich [Rotpunktverlag] 2008). 

(13a) Nachtrag: Die ausführliche Darstellung dieses Falls findet sich in: C. A. Loosli: «Anstaltsleben». Werke Band I, Zürich (Rotpunktverlag) 2006, 299ff. und 518ff. 

(14) III, 212f.

(15) I, 7.

(16) XVII, 195ff.

Erstveröffentlichung in: Paul Ott/ Fritz von Gunten [Hrsg.]: Gotthelf lesen. Auf dem Weg zum Original, Bern (h.e.p. Verlag) 2004, 11-25.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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