Auch ich bin verrückt

tv-radiozeitung: «A propos: Wo haben Sie ihr Herz?»
Walter Vogt: «Im Brustkasten zwischen den Lungenflügeln, links von der Mitte.» (1972)

1.

17. Januar 1980: Als Walter Vogt die Haustüre öffnet, steht draussen im trübkalten Mittag einer jener jungen Männer, die hier vorsprechen, weil sie lieber geisteskrank sein als länger Militärdienst leisten wollen. «Im Parterre gelangt man zuerst, in eine kleine Halle. Links geht es zu meinem Sprechzimmer, rechts neben der Treppe ist die Türe zum Wartezimmer.» («Schizogorsk», 1977) Vogt geht voran, weist auf einen Korbstuhl und setzt sich gegenüber in den roten Sessel. Er nimmt einen jener hellblauen Halbkartonbögen, die gefaltet den Umschlag der Krankengeschichten bilden, und bittet um die Angaben zur Person, notiert: «Lerch Alfred (Fredy)/Na Sdt, Füs Stabskp 39». Danach hört er sich die Geschichte dieses Exploranden an, der angibt, nach 199 Diensttagen den bevorstehenden fünften Wiederholungskurs auf keinen Fall mehr absolvieren zu wollen. Nichts Besonderes: «Depr. RS Qual. Nervös seit Aufgebot. Reagiert aggressiv auf Of (Unif).»

2.

Walter Vogt, Röntgenarzt am Berner Tiefenauspital, kommt 1966 standespolitisch unter Druck, als er sich als Schriftsteller erlaubt, mit dem Roman «Wüthrich» seiner Zunft den Spiegel vorzuhalten: «Im Krankenhaus war ich über Nacht kein guter Röntgenarzt mehr. Die Chefärzte nörgelten plötzlich an Bildqualitäten, an meinen Befunden herum, begannen mich mit wahnsinnigen Ausbauplänen zu quälen, schrien endlich nach einem Pflichtenheft für den Röntgenarzt.» («Altern», 1981) 1968 wechselt er als Assistent an die psychiatrische Universitätsklinik Waldau. 1972 eröffnet er in seinem Haus an der Weststrasse 3 in Muri bei Bern eine psychiatrische Praxis. Während er mit Drogen im Selbstversuch experimentiert und darüber schreibt, hat er als Psychiater unter jungen Männern schnell den Ruf, jenen zu helfen, die von der Armee frei kommen wollen, ohne den Dienst zu verweigern und dafür ins Gefängnis zu gehen. Unter den jährlich etwa 5000 Männern, die damals psychiatrisch ausgemustert werden, befinden sich regelmässig Klienten Vogts. Nach seinem Tod im September 1988 stapeln sich in seinem Archiv mehrere hundert Dossiers mit Kopien von Gutachten.

Peter Bolliger ist heute Chef des psychologisch-pädagogischen Dienstes der Armee. In den achtziger Jahren hatte er als Kreisarzt zu entscheiden, ob die eintreffenden Gutachten sofort «in absentia» zu erledigen oder an die Militärische Untersuchungskommission (UC) weiterzuleiten seien. Er erinnert sich, dass er damals den Verdacht verschiedener UC-Militärärzte abzuklären gehabt habe, der Psychiater Vogt – seit 1972 aus gesundheitlichen Gründen ausgemusterter Sanitätshauptmann – verfasse als Linker politisch motivierte Gefälligkeitsgutachten. Deshalb besuchte Bolliger Vogt mehrmals und nahm dessen Gutachten unter die Lupe, indem er sich in mehreren Fällen Gutachten und Person vergleichend anschaute. Sein Schluss: Zwar stimme, dass die Gutachten jeweils «blumig» formuliert waren mit Exkursen auch ins Gesellschaftspolitische, und es stimme auch, dass Vogt für seine Klienten «fast anwaltschaftlich Stellung genommen» habe, wenn er es für angezeigt hielt. Aber: «Bei aller Parteinahme und nach Abstrich der literarischen Zutaten: Was er schrieb, stimmte.» In den Besprechungen mit den Klienten Vogts habe man stets das Gefühl gehabt, den Mann bereits seit längerer Zeit zu kennen, wenn man vorher das Gutachten gelesen habe. «Vogt hat keine Gefälligkeitsgutachten gemacht.»

3.

Nach der Aufnahme der Anamnese stellt Vogt dem Exploranden an diesem 17. Januar 1980 routinemässig zwei Hausaufgaben: L. soll einen Lebenslauf schreiben und einen Test machen, der darin besteht, innert anderthalb Stunden zu 566 Aussagesätzen Stellung zu nehmen («Manchmal kommen mir sonderbare Gerüche»: ja/nein). Bereits einen Tag später schickt der Explorand den ausgefüllten Test mit Begleitbrief zurück. Vogt nimmt zur Kenntnis, dass der Explorand den Vorschlag ablehnt, den im Februar bevorstehenden Wiederholungskurs mittels Arztzeugnis zu verschieben: «der entschluss, zu Ihnen zu kommen, war auch der entschluss, auf kollisionskurs mit dem absolut unerträglichen einzuschwenken.» Bisschen pathetisch, der junge Mann, mag Vogt denken. Den ausgefüllten Test leitet er zur Auswertung an den «Medical Computer Service» weiter.

4.

«Zu Gutachterzwecken macht der Experte aus einem solchen Jungen einen Fall», schreibt Vogt («Exploranden», 1984), und: «Sie [diese Jungen, fl.] sind nicht besonders kämpferisch, sehen in vielem keinen Sinn, wagen kaum, Kinder auf die Welt zu stellen, schrecken vor dauerhaften Beziehungen zurück, ihre Karriere ist ihnen egal.» An anderer Stelle hat er behauptet: «Wer schreibt, ist verrückt. (…) Und wenn ich von mir selbst sprechen darf: ich bin auch verrückt», und: «Ich versuche mich gern als Dolmetscher zwischen Wissenschaft und Kunst.» («Schizophrenie der Kunst», 1969) Lisbeth Vogt, die Witwe des Arztes, erinnert sich, dass Vogt ihr jeweils abends seine Porträts der jungen Männer in die Schreibmaschine diktiert und dabei mehr als einmal gesagt habe: «I gloube, ds Beschte won i schribe, sy di Guetachte.»

5.

Es mag sein, dass Vogt am 4. Februar 1980, bevor der Explorand zur zweiten Sitzung erscheint, dessen maschinengeschriebenen Lebenslauf überfliegt, der unterdessen eingetroffen ist. In seinem Gutachten wird er später urteilen: «Der Stil ist, für mich, unerträglich unsachlich, kunstgewerblich-pseudoexistentiell, aufgeblasen bis zum Salonblödsinnigen hin. Immerhin dürfte er L.s subjektive Wahrheit enthalten.» In dieser Sitzung geht es aber um die Testergebnisse, die der Computer geliefert hat: «Dieser Patient hat etwas feminine Interessen. Er ist passiv, unselbständig, sensibel und schwernehmend.» So sind viele. Vogts Kommentar hält der Explorand seinerseits in seinem Tagebuch fest: «ich sei viel zu normal, unselbständig und sensibel, dazu feminine züge, was er damit anfangen solle; ich solle den test noch einmal machen und mich dabei nicht normaler geben als ich sei, kurzfristig schreibe er mir ein ärztliches zeugnis, damit ich vom wk dispensiert werde.» Der Explorand arbeitet sich ein zweites Mal durch die 566 Aussagesätze und versucht, sich nicht normaler zu geben, als er ist. Bei der Eintrittsmusterung des WKs am 11. Februar in Lotzwil schickt ihn der Militärarzt nach einem Blick in Vogts Zeugnis ohne Rückfragen nach Hause. Gelesen hat er, dass der Mann, dessen Diensttauglichkeit zur Zeit abgeklärt werde, vom WK zu dispensieren sei: «Nach meinen bisherigen Erhebungen handelt es sich um ein depressiv-aggressives Syndrom, das jedoch auch manische Züge aufweist. (…) Der Explorand ist überdies in einem sehr hohen Masse gegen das Leisten von Militärdienst motiviert. Diese ‘Anti-Motivierung’ muss noch genauer abgeklärt werden.»

6.

Für den 21. Februar 1980 figuriert in Walter Vogts Staatsschutzfiche ein Eintrag, der auf eine Telefonabhörung verweist. Er endet mit der Frage: «Werden hier ev. Gefälligkeitszeugnisse ausgestellt?» Aus dem Aktenstück, das zu diesem Ficheneintrag gehört, geht hervor, dass sich der Anrufer «Leuenberger» nennt und sagt: «Ich möchte gerne einmal zu Ihnen in die Sprechstunde kommen. Wäre dies möglich?» Ob es sich um eine Militärsache handle. «Es hat einen Zusammenhang damit.» In Militärsachen, sagt Vogt, sei er völlig ausgebucht. «Leuenberger» insistiert: «Ich würde gleichwohl gerne vorbeikommen, auf jeden Fall.» Vogt lässt sich erweichen und gibt ihm einen Termin: 4. März, 17 Uhr.

7.

Die dritte Sitzung mit dem Exploranden L. findet am 28. Februar 1980 statt und ist kurz: «vogt hatte das resultat des zweiten kreuzeltests in der hand, murmelte, gerade sehr viel seis auch diesmal nicht, immerhin, alkoholgefährdet und depressiv, das habe man ja hören wollen.» Im einzelnen hat der Computer herausgefunden: «Der Patient ist etwas ängstlich und depressiv. Auf Stress reagiert er mit Schlaflosigkeit, Müdigkeit und verminderter Leistung. Die Grundstimmung dieses Patienten ist depressiv; diese ist kaum zu beeinflussen.»

Nun schreibt Vogt ein Gutachten. Wichtiger als die «eher nichtssagende Anamnese» sei der «klinische Befund» dieses «unheimlich frustrierten Menschen», der ihn «bedrängt und mit Papier überschwemmt» habe, beginnt er. Die stigmatisierenden Sätze, die der soziale Preis sind für den «blauen Weg», lauten: «Ich zögere nicht, von einem manisch-depressiven Syndrom zu sprechen, dem, wie hierzulande üblich, auch der geringste syntone Zug abgeht, das eher von einer gewissen Schizothymie geprägt ist. Die Prognose halte ich für äusserst reserviert, den Ausbruch einer eigentlichen, phasenhaften manisch-depressiven Psychose möglich.» Vogts Antrag an die Kommission: «Ausmusterung. Nicht hilfsdiensttauglich.» Datum: 4. März 1980.

8.

Ob «Leuenberger» an diesem 4. März bei Vogt war, ist nicht belegt, aber wahrscheinlich: Der nächste Eintrag auf dessen Staatschutzfiche datiert nämlich vom 5. März 1980 und verzeichnet eine «Notiz betr. Abklärungen bzgl. Dienstverschiebungen». Kurzresümee: «Über Dr. V. (…) ist nicht bekannt, dass er sich für ein Gefälligkeitszeugnis einsetzen würde. Gilt als guter Facharzt (FMH Psychiater).» Das zum Ficheneintrag gehörende Aktenstück trägt die Signatur 0/937. Es sei, bedauert der «Sonderbeauftragte für Staatschutzakten» schriftlich, «in der Ablage unauffindbar». Offenbar ist also «Leuenbergers» Spitzelbericht schamvoll vernichtet worden. Trotzdem ist klar: Der staatliche Versuch, dem politischen Arzt Vogt nachzuweisen, dass er seine Gutachtertätigkeit zur Zersetzung der vaterländischen Wehrkraft missbrauche, schlug fehl.

9.

Am 13. März 1980 erhält der Explorand L. das «Merkblatt zum UC-Entscheid» zugestellt. Er ist «in absentia» für dienstuntauglich erklärt worden. Mit Brief vom 25. März informiert er Vogt über den erfreulichen Ausgang, bittet aber darum, jetzt das Gutachten über sich selbst lesen zu dürfen: «es besteht nun ein dokument, das mir attestiert, in einer krankhaften art von der norm abzuweichen. das wissen um dieses dokument wird mich höchstwahrscheinlich auf die dauer mehr belasten als der inhalt selbst, denn es kann jederzeit gegen mich verwendet werden. davor habe ich angst.» Vogt beantwortet diesen Brief nicht. Dem insistierenden Exploranden sagt er am Telefon, er werde ihm das Gutachten nicht vorlegen, denn auch wenn ein Explorand nichts davon zu glauben vermeine, würde es ihn doch belasten. Am 31. März 1980 hat L. seinem letzten militärischen Aufgebot Folge zu leisten und seine Ausrüstung im Zeughaus Bern abzuliefern. Seine Krankengeschichte im hellblauen Halbkartonumschlag wird ihm Lisbeth Vogt zwanzig Jahre später auf seine erneute Bitte hin übergeben.

Am 18. Januar 1979 hat Walter Vogt notiert: «Mit Eilboten eingetroffen: ein Lebkuchen, mit Schokolade gedeckt und verspielt-geometrisch dekoriert, von einem Klienten, bei dem ich die militärische Ausmusterung beantragt habe. Auf den Lebkuchen hat er mit Zucker geschrieben: ‘ig bi untouglech/ in absentia/ danke viumau/ u liebi grüess’.» Vogts Kommentar: «Hinter dem Jubelruf spürt man die durchgestandene Angst.» («Altern», 1981)

Walter Vogts psychiatrisches Gutachten über mich hat mir Ende der neunziger Jahre anlässlich eines Besuchs bei ihr Vogts Witwe Lisbeth geschenkt. Inwiefern Vogt sich bei der Abfassung des Gutachtens auf Angaben von mir gestützt hat, ergibt sich aus dem Vergleich mit dem von mir zu seinen Handen verfassten Lebenslauf unter dem Titel «stillstände»

Mit meiner Ausmusterung aus der Armee habe ich mich 1981 in Gedichtform auseinandergesetzt, vgl. «freikauf» im «Konvolut» ( S. [152])

Zur Frage, warum ich es mir am 21. September 2013 – anlässlich von Vogts 25. Todestag – ein zweites Mal angetan habe, öffentlich über meine «Pathologisierung» und damit Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnostik zu sprechen, habe ich mir in jenen Tagen unter dem Titel «Wie ich meine allgemeine Wehrpflicht abschaffte» Gedanken gemacht. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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