«Ohne Echo verstummt die Kultur.» – Ja, aber welche?

In der ersten Augusthälfte berichteten die Medien wie jedes Jahr ausführlich über das Filmfestival in Locarno. Es ist ja auch ein dankbares Thema: Zu tun gibt es nichts als technisch perfekte PR-Texte, -Bilder und -Töne in den Jargon der Objektivitäterei zu übersetzen. Daneben dürfen die angereisten Schurnis – was selten geworden ist – auf Spesen in einem Hotel übernachten und einige Tage lang auf Augenhöhe mit der Prominenz vor gewöhnlichem Publikum die eigene Wichtigkeit zur Aufführung bringen.

Neben dem offiziellen Filmprogramm wird jeweils auch drum herum einiges geboten. Am Nachmittag des 14. August 2014 zum Beispiel luden «Impressum», der grösste Berufsverband der Medienschaffenden des Landes, zusammen mit «syndicom», der Gewerkschaft Medien und Kommunikation, zur öffentlichen Diskussion ein zum Thema «Kampf der Magersucht im Kulturjournalismus!» Unterstützt wurde der Anlass von «Suisseculture», dem Dachverband von mehr als zwei Dutzend Organisationen für professionelle Kultur- und Medienschaffende. Zur Diskussion gestellt wurde ein 22-zeiliges «Manifest gegen die Abwärtsspirale im Kulturjournalismus», das den Titel trug: «Ohne Echo verstummt die Kultur».

Ich war nicht in Locarno. Aber ich wusste von der Veranstaltung und war deshalb auf die Medienberichterstattung gespannt. Insgeheim hoffte ich auf einige selbstkritische oder gar kämpferische Nebensätze. Als ich nach dem 14. August über Tage weder in den Medien noch im Netz auch nur einen einzigen berichterstattenden Beitrag gefunden hatte, bat ich «syndicom» per gemailter «Journalistischer Anfrage» um Auskunft. «syndicom»-Zentralsekretärin Stephanie Vonarburg schrieb umgehend zurück, die Veranstaltung sei «tatsächlich praktisch nirgendwo aufgenommen worden, obwohl sie interessant war». Ausser einem einspaltigen Veranstaltungshinweis im «Giornale del popolo» und einem Bericht in «La Regione» war ihr keine Medienreaktion bekannt geworden (Vonarburg an fl., Mail, 20.8.2014).

Erstaunlich. Da mussten ja gleich reihenweise «Impressum»-, «Syndicom»- und «Suisseculture»-Mitglieder die eigenen berufspolitischen Organisationen boykottiert haben. Durfte ich das als Streik der Medienschaffenden deuten gegen die weitherum Jahr für Jahr schlechter werdenden Arbeitsbedingungen? Aber warum bestreikten die Schurnis ausgerechnet die eigenen Arbeitnehmerorganisationen? Hatte die feuilletonistische Elite der schweizerischen Medien im Eifer des Gefechts vergessen, dass Arbeitnehmerorganisationen im beruflichen Notfall zum Streiken, nicht im beruflichen Normalfall zum Bestreiken da sind?

Oder war der weitgehende Ausfall der Berichterstattung als quasi kunstsinniges Happening der Absenz zu deuten? Ging es um die Aussage, dass das, was diese Veranstaltung in Locarno kritisieren wollte, bereits heute in einem Mass zutrifft, dass sie selber dem Kritisierten zum Opfer fallen musste: Wollte der Kulturjournalismus zum Ausdruck bringen, dass er als Transmissionsinstanz zwischen Produktion und Rezeption bereits kollabiert ist (ausser auf der Piazza Grande in Locarno)?

Oder hatten die KulturjournalistInnen die Weisung erhalten, sich ausschliesslich den Filmtagen zu widmen und insbesondere linkem Geschwätz aus dem Weg zu gehen? Wurde ihnen im Guten eingebläut, dass man die Werbebudgetverantwortlichen der Kulturindustrien aller Länder und Sparten nicht erschrecken dürfe? Dass ansonsten die nächsten Sparmassnahmen – so leid es dem Konzernmanagement tue – vermutlich wieder zuerst die Feuilletonredaktion treffen werde?

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Ein bisschen enttäuscht war ich schon. Immerhin wäre es bei dieser öffentlichen Diskussion in Locarno um etwas gegangen, was mich interessiert: um Kultur.

Und in den 22 Zeilen des Manifests war doch immerhin eine Position formuliert – wenn auch nicht meine: Erst durch Veröffentlichung, lese ich dort, werde das Kunstwerk zum Kulturbeitrag. In die Öffentlichkeit werde das Kunstwerk durch den Kulturjournalismus der Medien transportiert. Erst dieser Transport bringe die Werke auf den «Marktplatz der Kultur», wo durch «profunden Sachverstand», der durch «anständigen Lohn» zu ermöglichen sei, ohne das «Diktat einer Mehrheit» – quasi kulturdemokratisch – die Spreu vom Weizen geschieden werde. Funktioniere dieser Marktplatz der Kultur nicht mehr, bekämen immer weniger «neu geschaffene Kunstwerke» die Chance, wahrgenommen und «zum Kulturgut» zu werden. Denn im Echolosen verstumme die Kultur.

Schlimm, jaja.

Denn was ist die Produktion von Kleingewerblern, wenn ihre Waren auf dem Marktplatz der Kultur nicht einmal mehr als Ladenhüter ausgestellt werden, wo sie doch immerhin einer small-talkenden Schickeria als Kulisse dienen? Was, wenn diese Dienstleistung der Transmission eingestellt wird, die die bildungsbürgerliche Feuilletonistik nun gut zweihundert Jahre lang für die Kunstproduktion schlecht und recht, aber gratis und franko garantiert hat? Dann – tatsächlich – bleibt diese Produktion nichts weiter als die private Bastelei von Möchtegerns. Für die kunstschaffenden Kleingewerbler ist der Untergang des Kulturjournalismus deshalb verständlicherweise ein standespolitischer Skandal.

Ob’s allerdings auch ein kultureller ist, ist eine andere Frage. Denn: Die herrschende Kultur ist, wie man weiss, der Neoliberalismus. Diese Kultur hat viele Seiten, aber eine ganz gewiss: Sie zwingt die Öffentlichkeit, mit dem Markt kongruent zu werden. Ihr Axiom: Was als Ware nicht erfolgreich ist, kann nicht öffentlich sein. So erledigt der Neoliberalismus das avantgardistische Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts. Das Geschäft mit der Ware Kunst soll ein Geschäft wie jedes andere sein: Die Nachfrage bestimmt das Angebot; industrielle Produktion ist billiger als Kunsthandwerk; durch grosse Kanäle lässt sich mehr transportieren als durch kleine, weshalb nur grosse beworben werden – und Mainstream verkauft sich besser als Special Interest.

In neoliberaler Logik ist deshalb Kulturjournalismus in erster Linie Gratisinseratefläche, die Medienredaktionen nach undurchsichtigen Kriterien vergeben. Hier geht es nicht um «profunden Sachverstand», sondern um klientelistische Wettbewerbsverzerrung. Deshalb gehört in dieser Logik die Kulturberichterstattung der Medien, auf jeden Fall soweit sie sich auf Waren bezieht, ganz abgeschafft. Wer mit künstlerischer Ware in die Öffentlichkeit geht, soll – wie alle anderen Produzenten von Waren und Dienstleistungen auch – den Inseratetarif bezahlen. Und falls sich das nicht rechnet, ist bewiesen, dass das Angebot nichts taugt.

Der Untergang der medialen Transmission im Kulturbereich ist also keine kulturelle Verarmung, sondern der Triumph der hegemonial gewordenen Kultur. Dass die Diskussion in Locarno von den Schurnis ignoriert worden ist, hat vermutlich auch diesen Grund: Kunstschaffende, die sich einbilden, das, was sie herstellten, sei anderes oder mehr als Ware, sind wie jene Schurnis, die heute noch darauf bestehen, was nicht mit Schreibmaschine geschrieben sei, sei kein Text. Zweifellos ehrenwert, aber obsolet. Es gibt einfach Diskussionen, die sind gelaufen.

Klar kann man sich auf den Standpunkt stellen, die heute herrschende Kultur müsse kritisch hinterfragt werden. Und klar kann man der Meinung sein, in Locarno über die «Abwärtsspirale des Kulturjournalismus» zu diskutieren, sei ein kritischer Beitrag. Aber wenn das den Herrn Markt nicht interessiert, dann schweigt die Frau Öffentlichkeit eben. Immerhin leben wir hier im neoliberalen Patriarchat.

Aber eigentlich ist ja auch nicht entscheidend, ob Kultur ein Echo hat oder verstummt ist. Entscheidend ist, dass sie entsteht. Denn Kultur entsteht immer und überall trotzdem. (1.9.2014)

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