Zwischen Stuhl und Futtertrog

Am 20. August 1986 fand in der Roten Fabrik in Zürich ein Podiumsgespräch statt unter dem Motto: «Das verstummte Gespräch. Gibt es (noch) eine Deutschschweizer Literaturszene? Auf dem Podium nahmen Platz: Christoph Bauer, Silvio Blatter, Mariella Mehr, Niklaus Meienberg, Paul Nizon, Hansjörg Schertenleib und der Gesprächsleiter Peter Zeindler [1]. Auf die Frage im Motto antwortete an jenem Abend

• Christoph Bauer: «Für mich gibt’s diese Szene sicher nicht. Ich glaube, dass es ein Mythos ist, wenn man sagt, dass die Schweizer Literaturszene je irgendwelche Zusammenhänge gehabt habe. Die Autoren waren immer sehr grausam zueinander. Schreiben ist ein Medium des Monologs, und da wird eher weltweit kommuniziert als innerhalb der Landesgrenzen. Ich finde das völlig absurd, innerhalb der Landesgrenzen irgendwelche Verwandtschaften feststellen zu wollen. Wenn man extrem eine eigene radikale Ästhetik verfolgt und nicht unbedingt den Konsens sucht mit den bestehenden kulturellen Inhalten, die hier vorherrschen, dann steht man völlig abseits.»

• Silvio Blatter: «Zu einer Literaturszene gehört nicht nur der Autor, da gehören auch Leser dazu, Buchhändler, Lektoren, Verleger, Kritiker. Der einzelne Autor kann gar nicht sagen, er gehöre da dazu oder nicht. Das sagen andere Leute. Man gehört einfach dazu, weil die Bücher hier gelesen und besprochen werden. Ich würde sagen, es besteht heute eine Literaturszene. Es ist nur die Frage, aus welcher Distanz man sie betrachtet. Zum Beispiel war letzthin ein Literaturwissenschaftler aus England in der Schweiz, der hat eine Bestandesaufnahme gemacht. Es war ein Schwede hier, es waren Chinesen da. Aus einer gewissen Distanz kann man ohne Weiteres eine Literaturszene ausmachen.»

• Mariella Mehr: «Ich kann mich laut Literaturstudium an Zeiten erinnern, wo sich Schriftsteller miteinander solidarisiert haben über die persönlichen Animositäten und Antipathien hinweg, wenn es um gemeinsame Ziele ging, nämlich zu einer Zeit, da Literatur wirklich noch die Funktion hatte, aktiv und radikal ins politische Geschehen einzugreifen. Mich würde bei diesem Gespräch hier wahnsinnig interessieren, wie eigentlich Schriftsteller sich vorstellen, Energien für ihre eigenen Arbeiten, für ihre politischen Anliegen – ich verbinde Schriftstellerei immer auch mit politischen Anliegen – zu behalten und neu zu entwickeln, wenn unter ihnen kein Gespräch stattfindet.»

• Niklaus Meienberg: «Ich glaube auch, dass es keine Literaturszene gibt. Was ist das überhaupt für ein Wort? ‘Szene’ bedeutet Theater. Wer ist der Theaterdirektor? Wer ist der Regisseur in dieser Sache? Wenn wir bei diesem Wort bleiben, müssen wir unbedingt Herrn Unseld hier haben, der heute die Schweizer Literaturszene dirigiert mit Auflagen und mit entsprechenden Kritikern. Als Unselds Untermanager und für die Schweiz doch wiederum Obermanager müssten wir Herrn Muschg da haben, der darüber entscheidet, wer welchen Literaturpreis bekommt, wer wo besprochen wird, wer wie lange in den Suhrkamp-Brutofen kommt, bevor er veröffentlicht wird. Hier sitzen, soweit ich sehe, lauter Leute, die keine Macht ausüben.»

• Paul Nizon: «Es scheint so zu sein, dass unter den Schriftstellern weniger ein freundschaftlicher Austausch, denn ein unglaublicher, bösartiger Konkurrenzkampf herrscht. Solidarität entwickelt sich meistens nur, wenn man so etwas wie einen gemeinsamen Feind oder eine Bedrohung am Horizont ausmachen kann. Dann setzt man sich – ich denke an die Exilliteraten während des Zweiten Weltkriegs – wohl oder übel zusammen, um gemeinsame Unternehmungen zu organisieren. Sonst, das ist auch meine Erfahrung, gibt es eigentlich wirklich so gut wie kein Gespräch und keine Hilfe unter Schriftstellern.»

• Hansjörg Schertenleib: «Mich persönlich hat der Begriff ‘Literaturszene’ eigentlich gar nie interessiert. Ich wollte einfach meine Arbeit machen und fertig. Ich empfind sowieso diese ganzen Szenen als Fiktionen des Feuilletons. Beispielsweise die doch sehr berühmte Wiener Szene: Wenn man die einzelnen Autoren fragt, ob sie sich jemals als Teil dieser Szene empfunden hätten, dann wissen die gar nicht, dass es diese Szenen gegeben hat. – Ich hab das Gefühl, ich gehöre eigentlich zur selben Szene wie Meienberg, nur arbeite ich eben mit anderen Mitteln. Deshalb bekomm ich genau von der falschen Seite auf den Sack. Genau die WoZ ist es dann eben, die auf mich einhackt.» (vgl. WoZ 25 / 1985)

Die Literaturdiskussion in der Roten Fabrik konnte es in der Folge nicht allen recht machen: das Publikum war am Schluss unzufrieden, und Stefan Howald im Tages-Anzeiger betont lakonisch: «Grosse Erwartungen – glorios enttäuscht» (22.8.1986). Darum scheint es hier angebracht, für einen Augenblick das spätsommerliche Wollishofen zu verlassen, um, über das Land hinblickend, einige neuere Bildungen von «Literaturszenen» zu beobachten, die, hin- und hergerissen zwischen den Polen Geld und Ideologie, als höchst schillernde und instabile Phänomene emporschiessen, unter Absonderung einiger belletristischer Fürze bengalisch abfackeln und verlöschen, noch ehe die staunende Gemeinde «Ah!» resp. «Oh!» gesagt hat.

48 Polaroid-Dichter

Vorbemerkung: Schon draussen vor der Roten Fabrik hören wir Zeindler noch gerade eben fragen, ob Meienbergs Pendeln zwischen Zürich und Paris seinen Grund darin habe, dass er sich «in keiner Szene heimisch» fühle und Meienberg antworten: «Ich fühl mich immer wieder kurz heimisch, wenn ich die wahnsinnige Unehrlichkeit unter Schriftstellern erlebe, dieses unheimliche Schimpfen in den Kulissen und dann vor dem Vorhang der nette Händedruck. Diese Dolche, die man da am liebsten in verschiedene Rücken stossen würde und dann wieder dieses Grinsen fürs Publikum.»

Die Geschichte von den 48 Polaroid-Dichtern: Die Idee hiess «Der Wurf», stammte vom Fotografen Michael von Graffenried mit der noblen Adresse Junkerngasse 35 in Bern, wurde redaktionell bearbeitet von Emanuel LaRoche, Mitglied der Redaktionsleitung des Tages-Anzeigers und wurde publiziert im Magazin 32/1986 ebendieses Blattes. Die Idee besteht darin: An den Solothurner Literaturtagen 1986 hat der clevere Graffenried alles, was nach Dichter und Denkerin aussah, vor seine Polaroid-Kamera gebeten, abgedrückt und die Dichterinnen und Denker das dergestalt entstandene Bild mit deren Unterschrift zieren lassen. In einem zweiten Arbeitsgang hat er dann die Charakterkopfbildli-Sammlung so schief neben- und übereinander gebüschelt, dass es fast ein Bitzeli wie spontan hingeworfen aussah. Nun hat er flugs eine Gesamtansicht seiner Sammlung auf ein Foto gebannt und fertig war die Schweizer Literaturszene, fertig war des Pudels Kern der postmodernen Dichterzunft: Wer seine Unterschrift kann und erst noch einen Kopf hat, der ist dabei! Den dialektisch tiefgründelnden Rest besorgte LaRoche dieser Idee mit seinem Kommentar. Neben die von ihm acquirierten Helgeli notierte er: «Nicht die Köpfe sollte man abbilden, sondern die Texte abdrucken, die diesen Köpfen entspringen.» Wieso aber hält sich der ernsthafte Berichterstatter bei einer solch ärgerlichen Belanglosigkeit auf? Darum: Der Tages-Anzeiger macht, als grösste Forumszeitung hierzulande, seit längerem Eigenwerbung von der Art: «Pro und Kontra. Der Tagi bringt’s.» Na und? Er propagiert als Ideologie ein «Sowohl-als-auch-Denken», das darüber hinwegtäuscht, dass man so gar nicht denken kann, ohne sofort handlungsunfähig zu werden. Also das alte Lied von der Handlungskompetenz? Nicht nur! In der journalistischen Praxis funktioniert dieses Hirnkrebsdenken so, dass man die grösste Gemeinsamkeit aller relevanten Interessen zu einem bestimmten Thema dokumentiert: So sagt man nichts Falsches (auch nichts Richtiges). Und weiter? Die grösste Gemeinsamkeit der Schweizer Literaturszene ist nun eben, dass alle Leute einen Kopf haben und ihren Namen schreiben können. Was Redaktor LaRoche nirgends schreibt: Dass es ja völlig wurscht ist, was diese halbbackenen Dichterkläuse schreiben, Hauptsache, er verdirbt’s mit niemandem. Und die Pointe? Die führenden Köpfe der Schweizer Literatur geben sich dazu her, mit ebendiesem ein Eigeninserat für die Ideologie des Hirnkrebsdenkens zu gestalten; ein Denken immerhin, das zwar die schriftstellerische Arbeit nicht verunmöglicht, aber sie – sofern sie noch einen letzten Rest von emanzipativem Anspruch verteidigt – endgültig sinnlos macht. (Übrigens hat Graffenrieds «Wurf» noch eine wirklich lustige Pointe: Die sozialdemokratische Diagonale von Steiner Jörg über Walter Otto F., Frisch Max, Bichsel Peter zu Muschg Adolf. Sie führt von links oben nach rechts unten.)

19 Bankpoeten und 1 Präsidentin

Vorbemerkung: 1970 traten rund zwanzig Schriftsteller aus dem bürgerlichen Schweizerischen Schriftsteller-Verein aus ((damals ging es zwischendurch auch unter Dichtern noch um Politisches). Sie gründeten die «Schweizer Autoren Gruppe Olten» und gaben sich Statuten, unter anderem einen Zweckartikel: «(Die Gruppe Olten) unterstützt politische Bestrebungen auf nationaler und internationaler Ebene, die die gerechte Verteilung der materiellen Güter, die Demokratisierung der Wirtschaft und der öffentlichen Einrichtungen sowie die Wahrung der Menschenrechte bezwecken. Ihr Ziel ist eine demokratische sozialistische Gesellschaft.» (Artikel 2, Absatz 4)

Die Geschichte von 19 Bankpoeten und einer Präsidentin. «Auf dem Gipfel des Spalenberg, dort wo der Dreier vorbeikeucht und man bereits die ersten Käsewölklein vom Glauser riecht, hier, in diesem urheimeligen Stücklein Basel also, findet man eine Filiale der Kreditanstalt, kurz SKA.» So ist -minu, der Basler Lokaljournalist mit der gnadenlos pötischen Feder, in der Basler Zeitung auf die Ausstellung in der SKA-Filiale Spalenberg zu sprechen gekommen, die ab 31. Mai 1986 unter dem Titel «Schreiben ist Arbeit» in ihren Schaufenstern 19 Schriftsteller und Schriftstellerinnen von Basel und Umgebung versammelte. Das heisst: Alle 19 durften «1 Foto, Biografie, Werkverzeichnis, 1-2 Bücher, 1 Lieblingsgegenstand» zur Schau stellen. Ursprünglich hatte die SKA-Filiale ein Schaufenster der Basler Schriftstellerin Charlotte Seemann überlassen wollen. Um das verstummte Gespräch in der Basler Dichterzunft wieder in Gang zu bringen, habe sie sich, sagt sie heute, für diese Form der Ausstellung eingesetzt: «Hier in Basel onanieren alle vor sich hin und jeder hat Angst, dass jemand ihm eine Buchidee wegnimmt.» Mit dem Mitgliederverzeichnis der Gruppe Olten und mit offiziellem Briefpapier der SKA-Filiale war es ein Leichtes, eine repräsentative Schar von DichterInnen zu versammeln: Burri Peter, Dean Martin R., Dillier Julian, Duvanel Adelheid, Faes Armin, Fringeli Dieter, Gansner Hanspeter, Geerk Frank, Hammel Hanspeter, Herzog Samuel, Jenny Hans, Kaiser Ingeborg, Pfeifer Tadeus, Regenass René, Schmidli Werner, Seemann Charlotte, Weber-Thommen Vreni, Weibel Jürg, Wiesner Heinrich. Dreizehn dieser neunzehn Namen finden sich auch im neusten Mitgliederverzeichnis der Gruppe Olten. Wie Charlotte Seemann heute festhält, sei das Gespräch in der Zunft durch die Aktion nicht entscheidend gefördert worden. Der Handel: Imagepflege eines Geldinstituts dank Dichterköpfen gegen Gratis-Werbefläche für die Verlage dieser Dichterköpfe ging ohne Rest auf. Honorar war keines vorgesehen. So macht private Literaturförderung Spass!

Am 20. August 1986 hatte bei der Verleihung der diesjährigen Buchpreise auch die Präsidentin der Literarischen Kommission der Stadt Bern, Gemeinderätin Gret Haller, eine kleine Schar der lokalen Dichterzunft um sich versammelt: Frauchiger Urs, Gfeller Alex, Heiz André Vladimir, Hess Hans Rudolf, Werthmüller Hans, dazu Spoerri Elka, die für ihre Bemühungen um Adolf Wölflis schriftstellerisches Werk einen Herausgeber-Preis erhielt. In ihrer Ansprache dachte Haller dabei just über jene Art der Kulturförderung öffentlich nach, die die SKA am Spalenberg in Basel kostengünstig betreibt: «Ich glaube, dass wir unsere besondere Aufmerksamkeit der Nahtstelle zwischen Vermarktung und Verweigerung widmen sollten. (…) Der oder die Kulturschaffende selber kann sich dieser Nahtstelle ja gar nicht entziehen, denn ganz ohne die Verweigerung dieser Vermarktung wird Kulturschaffen inhaltsleer und stirbt letztlich. Vielleicht sollte die Frage gestellt werden, was denn an der Vermarktung überhaupt verweigert wird. (…) Der private Kulturinvestor oder die private Kulturinvestorin stecken sich die Kultur an den Hut, sie wollen bei möglichst vielen Leuten gut ankommen. (…) Diesem Dilemma sieht sich der oder die Kulturschaffende ausgesetzt. Einerseits ist die Öffentlichkeit nötig für das Kulturschaffen (…). Und auf der andern Seite besteht die Gefahr, dass man von jemandem auf dessen Hut gesteckt wird, und zwar im Sinne eines Kulturverständnisses, das man eigentlich verweigern sollte. Welche Umschreibung würde da besser passen als der Begriff der ‘Prostitution’?»

Würde sich der ernsthafte Berichterstatter um eine Moral dieser Geschichte bemühen, ginge er von folgender Feststellung aus: 19 schreibende Intellektellen handeln mit weniger kulturpolitischem Bewusstsein als Gret Haller als Repräsentantin des offiziellen Betriebs immerhin öffentlich vertreten kann. Anders: 19 schreibende Intellektuelle machen sich zu Gratis-Litfasssäulen für ein Geldinstitut, von dem man in den letzten Jahren dises und äis gehört hat, während eine sozialdemokratische Exekutivpolitikerin vor ihren preiswürdigen Dichtern über die Dialektik von Vermarktung und Verweigerung räsonniert.

12 Bundesfeierdichter / Faes / Vogt

Vorbemerkung: Als 1889 in Paris die II. Internationale gegründet wurde, gab sie mit der Forderung des 8-Stunden-Tags der Bewegung ein gemeinsames Kampfziel, für das jedes Jahr am 1. Mai demonstriert werden sollte. Weil sich die Schweizer Sozialdemokraten dieser Bewegung alsbald anschlossen, gibt es seit jener Zeit 1. Mai-Kundgebungen. Andererseits wurden die 1. August-Feier «am 1. 8. 1891 zum ersten Mal begangen. An diesem Tag erklangen abends um 8 Uhr die Glocken aller Kirchen in der Schweiz. (…) So schlug diese Bundesfeier im ganzen Schweizerlande feste Wurzeln.» (Historisch-biografisches Lexikon der Schweiz) Dritterseits gilt die Epoche von 1880-1890 in der Geschichte der vaterländischen Pädagogik als Zeit der «nationalen Erziehung», in der dem Begriff des «Klassenkampfs» von bürgerlicher Seite jener des «Patriotismus» entgegengestellt worden ist.

Die Geschichte von den zwölf Bundesfeierdichtern / Faes / Vogt. «Es ist kaum zu glauben», hebt der Kulturredaktor des Aargauer Tagblatts, Hermann Burger, in seiner Bundesfeier-Literaturbeilage vom 1. August 1986 an, «der letzte systematische Versuch, die Literatur im Aargau zu erfassen, stammt aus dem Jahr 1953.» Nachdem er diese im Folgenden so präzis erfasst, dass er nicht umhinkann, zweimal diskret auf sich selber zu verweisen, schliesst er: «Im Aargau wirkende Autoren werden mit internationalen Preisen ausgezeichnet (dies der dritte diskrete Selbstverweis des Klagenfurt-Preisträgers 1985, fl.) Das ist die Frucht eines Klimas, das bereits einsetzte, als die Gründer der Pro Argovia von der Idee überzeugt waren, für den Aargau mit seiner dezentralen kulturellen Struktur eine vermittelnde Institution zu schaffen. (…) Seit 1978 ist noch der von der Aargauischen Kantonalbank gestiftete ‘Aargauer Literaturpreis’ hinzu gekommen. Nein, die Literatur im Aargau braucht sich nicht zu verstecken…» Auf den folgenden Seiten präsentiert Burger, wem er im Aargau – in dem «die ‘Provinz’ (…) längst eine Wendung ins Positive genommen hat» – literarischen Rang und Namen zugesteht; immer schön eine Seite Werbung neben einer Seite Dichtkunst inkl. Personenkasten & Bild. Das ergibt folgende Startreihenfolge: Berner Urs auf SVP-Kulturprogramm; Blatter Silvio auf Migros; Burkhart Erika auf Architekturbüro Eduard Bolliger; Dean Martin R. auf ‘Weekend’-Stumpen; Halter Ernst auf Möbelhaus Tip-Top; Lotar Peter auf Opel; Merz Klaus auf VW; Schertenleib Hansjörg auf Schlör Süssmost; Schneider Hansjörg auf Coop Metzgerei; Schriber Margrit auf Meissner Bücher; Storz Claudia auf Weltwoche. Dichtkunst mit Leibchenwerbung, aufgemacht als «Bundesfeier-Beilage», zusammengehalten mit dem Titel: «Literatur im Aargau 1986 – eine Dreisternliteratur» (die drei Sterne, liess sich der ernsthafte Berichterstatter sagen, bezögen sich aufs Aargauer Wappen, nicht auf die Qualität der Texte), gedüngt mit Werbegeld. Auf diesem Mist erblüht die Schöngeistigkeit: «Die wichtigsten Erfahrungen werden uns zuteil durch Sensibilität.» (Burkhart Erika) Genau das meint der ernsthafte Berichterstatter auch schon die ganze Zeit. (Pro Seite Dichtkunst bezahlte das Tagblatt pauschal 400 Franken. Neuheit des Textbeitrags war nicht Bedingung.)

Harter Schnitt. Telefongespräch mit dem in Baden (AG) wohnhaften Schriftsteller Urs Faes, warum er in Burgers Beilage nicht mitgemacht habe. Er sei übergangen worden, warum, wisse er auch nicht. Ob er mitgemacht hätte, wenn er angefragt worden wäre? Immerhin sei das Aargauer Tagblatt rechtsfreisinnig und habe gerade in der letzten Zeit durch apartheid-freundliche Südafrikaberichterstattung zu reden gegeben. Faes: Er wisse schon, was ich hören möchte. Aber er müsse ehrlich sein, er könne nicht sagen, wie er reagiert hätte. Das Tagblatt sei die einzige Zeitung in der Region, die solche Beilagen machen und auch bezahlen könne. Er hat Verständnis für seine Kolleginnen und Kollegen, die dem Burger einen Text geschickt haben. ich sage ihm, was ich weiss: 400 Franken seien bezahlt worden. «Vierhundert Franken sind vierhundert Franken», sagt Urs Faes.

Harter Schnitt. Am 29. August 1986 wird in Bern Bekannt, dass dem in Muri bei Bern wohnhaften Schriftsteller Vogt Walter der grosse Literaturpreis des Kantons Bern zuerkannt worden sei, Preissummer 25000.-. Am Abend des gleichen Tages gibt Vogt dem Lokalradio «Bern 104-Förderband» Auskunft auf die Frage, ob er als praktizierender Arzt das Geld wirklich behalte. Vogt: Er verdiene knapp so viel wie ein Gymnasiallehrer, und er habe keine Altersvorsorge. Von daher habe er keine Probleme, das Geld anzunehmen.

Würde sich der ernsthafte Berichterstatter um eine Moral dieser Geschichte bemühen, ging er von folgender Feststellung aus: Entweder übt, wer Literatur produziert, tagsüber einen vernünftigen Beruf aus und schreibt doppelbelastet, oder seine ökonomischen Bedingungen sind so miserabel, dass er seine Sprache in jeden Zusammenhang stellen muss, auch wenn er theoretisch weiss, dass man in einem falschen Zusammenhang nichts Richtiges sagen kann. Der Begriff «Prostitution», den Gret Haller leicht moralinsauer verwendet, hat seinen Wirklichkeitsgehalt, wenn er sich auf die ökonomischen Zwänge der Literaturproduktion bezieht.

46 LyrikerInnen und 1 Einspruch

Vorbemerkung: es gibt zwei grundsätzlich zu unterscheidende Ausgangspunkte, Literaturszenen bilden zu wollen. Es gibt den Versuch «von oben»: Mit Geld (wie viel kostet das eigene Bild im TAM als Inserat? Wieviel kostet Werbefläche in einer SKA-Filiale? etc.) werden Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die wegen ihrer prekären ökonomischen Situation (und ihrer notorischen Eitelkeit, die wiederum in dialektischem Verhältnis zur sozialen Desintegration als Berufskrankheit steht) extrem korrumpierbar sind, zu Repräsentationszwecken, das heisst: zu einem Defilee vor der Ehrentribüne des herrschenden Kulturbegriffs versammelt. Diesen Vorgang hat sich der ernsthafte Berichterstatter nun an verschiedenen Beispielen aufzuzeigen bemüht. und es gibt, trotz allem Wenn und Aber, den Versuch «von unten», der Emanzipation statt PR, Aufklärung statt Integration anstrebt.

Die Geschichte von 46 LyrikerInnen und einem Einspruch. Am 18. Juni 1986 ist das Buch «SchreibStadt St. Gallen – Momentaufnahme Lyrik» erschienen. Herausgeber: Christian Mägerle und Richard Butz[2]. Diese Lyrikanthologie zeigt Arbeiten von 46 AutorInnen im Alter von 21 und 84 Jahren. Im Vorwort schreiben die Herausgeber: «Über ein Jahr dauerte die gemeinsame Arbeit an unserer Momentaufnahme der Lyrik aus St. Gallen. Die Beschäftigung mit so vielen Worten und Gedanken entwickelte sich zu einer Auseinandersetzung. Sie führte zu Fragen wie der, was das Schreiben überhaupt – und das von Gedichten im besonderen – noch soll. (…) Doch: Ist nicht gerade das Schreiben, der sorgfältige Umgang mit dem Wort, eine Möglichkeit des Widerstands?» Allerdings, ruft hier der ernsthafte Berichterstatter relativ pathetisch aus, und fast wäre er bereits, über die Widersprüche hinwegzuschauen, die auch diesem grundsätzlich emanzipativen Versuch der Szenenbildung eingegraben sind. Die einzige Voraussetzung für das Mitmachen an der Anthologie sei «St. Galler Wohnsitz oder enge, noch bestehende Verbindung zur Stadt». Hier zeigt sich der unbedingte Wille der Geldgeber (in diesem Fall Stadt, Kanton und Ortsbürgergemeinde St. Gallen, Kantonalbank, Migros und die Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur), Literatur als chauvinistische Repräsentation zelebriert zu bekommen. Eigentlich gilt sogar die Umkehrung: Nur was chauvinistisch repräsentiert, ist Kultur. Interessant ist aber, was Hans Fässler über den Säntisgipfel, was Christine Sonderegger-Fischer über die Waisenhausstrasse sagt. Was interessiert «St. Galler Literatur»? (Was interessiert «Schweizer Literatur», die es sich meint zur Aufgabe machen zu müssen, als Kunst am Bau der Nation in anderen Nationen zu repräsentieren? Was interessiert eine Literaturszene, die sich diesem Zweck verschrieben hat?)

«Grüningen und Zürich, im August 1986. EINLADUNG ZUM EINSPRUCH. Lieber Fredi Lerch. Wir laden Dich ein zur Mitarbeit an einer Zeitschrift, die auf Dich angewiesen sein will: EINSPRUCH – ZEITSCHRIFT DER AUTOREN. ‘Einspruch’: wogegen, gegen wen? Freie Meinungsäusserung ist hierzulande garantiert. Wir sehen sie dennoch in Gefahr. Nicht nur durch die Pressekonzentration, sondern auch durch einen ‘professionellen’ Journalismus, der alles Eigenständige rundum absichert und auf seine Normen bringt. (…) Die Folgen dieses Zustandes sind eklatant: Öffentlichkeit zerfällt von einer allgemeinen zur speziellen und spezialisierten Angelegenheit einiger hundert Informations- und Meinungstechniker – der freie Autor zieht sich zurück in die Nischen des Privaten, Nur-Subjektiven, Apolitischen. EINSPRUCH: natürlich meinen wir den Einspruch gegen die Umweltzerstörung, die Fremdenpolitik, die Militärgesetzgebung und was da sonst jedem Linken in den Sinn kommt; aber wir meinen auch den Einspruch gegen die Verhinderung persönlicher Betroffenheit durch die Konventionen postmoderner Alltagsroutine. Vielleicht werden gewisse Dinge in gewisser Form erst wieder gesagt, wenn ein Forum dafür vorhanden ist (…). Mit freundlichen Grüssen: Alexander J. Seiler und Bruno Schärer, in Verbindung mit Max Frisch, Arnold Künzli, Adolf Muschg, Harald Nägeli, Rolf Niederhauser, Erica Pedretti, Alice Vollenweider, Otto F. Walter.»

Diese Versuche der emanzipativen Szenenbildung haben etwas sympathisch Unzeitgemässes; hier juckt der anachronistische Nerv des persönlichen Idealismus (EINSPRUCH mutet den AutorInnen zu, in der ersten Zeit auf ein Honorar zu verzichten). An diesem Punkt weiss der ernsthafte Berichterstatter auch nicht weiter. Er beharrt lediglich stur auf der Benennung der Widersprüche, weil er felsenfest der Überzeugung ist, dass die Privatisierung und Tabuisierung der Arbeits- und Produktionsbedingungen der AutorInnen den fulminanten Niedergang der gesellschaftspolitischen Relevanz von Literatur hierzulande mitverursacht hat. Die Spannung zwischen gesellschaftspolitischer Utopie und privater Misere ist als private nicht kreativ umsetzbar: Immer bleibt so die gesellschaftliche Utopie auf der Strecke. Gut, es mag viele geben, die sein möchten wie Simmel & Konsalik und’s einfach nicht können. Die sind nicht der Rede wert. Jene aber, die begriffen haben, dass der emanzipative Anspruch und die ökonomische Notwendigkeit als unversöhnlicher Widerspruch innerhalb des Schriftstellers ein politischer ist, die müssten – ja, warum nicht auf die Strasse?

6 Fragen und 1 klare Antwort

«Weshalb diese Leiden nicht auf die Strasse bringen?» Das ist jetzt wieder Mariella Mehr, die das in den Saal ruft, als wir von unserem Rundgang durch das Reservat der aufschiessenden Literaturgeysire in die Rote Fabrik zurückkehren. «Wir haben einmal achtziger Jahre gehabt, jetzt sind die schon wieder Geschichte, da haben junge Menschen, die zehn, zwanzig, dreissig Jahre jünger sind als wir, auf die Strasse gebracht, was sie zu leiden hatten. Weshalb können wir Schriftsteller das eigentlich nicht? Weshalb spielt sich die Literatur nicht auf der Strasse ab? In den Kneipen? Weshalb spielt sie sich nur noch in Verlagen ab wie Suhrkamp? Weshalb machen wir das nur noch so?»

«Ich finde es lächerlich, eine solche Frage zu stellen», meldet sich nun noch einmal Paul Nizon zu Wort, «weil die ganze Realisierung einer schriftstellerischen Produktion mit Verlag und mit dem ganzen Markt zusammenhängt. Im Grunde, wenn man alles zusammenfasst, beklagt sich doch jeder Autor, dass er nicht genügend Möglichkeiten hat, die Sache, an die er glaubt, erstens realisieren und zweitens unter die Leute bringen zu können. Wenn wir nun in einem einzelnen Fall einen Verlag und einen Autor haben, wo das gelingt, sollten wir doch eher diesen Fall unterstützen und akklamieren als zynisch runterzureissen. Das ist ja die Sache, die wir uns alle wünschen.» (Paul Nizon publiziert im Suhrkamp-Verlag.)

[1] Das Typoskript der integralen Transkription meiner damaligen Tonbandaufzeichnung zu dieser Veranstaltung findet sich hier

[2] Christian Mägerle /Richard Butz [Hrsg.]: SchreibwerkStadt St. Gallen: Momentaufnahme Lyrik, St. Gallen (Verlagsgemeinschaft VGS) 1986.

Handschriftliche Notiz auf meinem Belegexemplar: «(Ende August bis 3.9.86)».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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