Von selbständigen Berner Köpfen

Die Strasse, an der ich wohne, mündet in den Haspelweg, der hangabwärts zum Bärengraben führt, wo täglich Eingeborene und Touris die vollgefressenen Viecher in ihrem Sandsteinverlies begaffen, als blickten sie in einen Spiegel. Jenseits des Haspelwegs erhebt sich ein licht bewaldetes Hügelchen mit einem häckselbestreuten Spazierweg: einige Aren Naherholungsnatur, unter der bernische Staatskultur verschwunden ist: Hier oben stand der Galgen «untenaus»[1], an dem am 25. Oktober 1653 Ueli Galli, ein 65jähriger Bauer aus dem oberen Emmental, gehängt wurde. «Han i rächt grichtet?», hat an jenem Tag Meister Michel, der Henker von Bern, nach vollstrecktem Urteil gefragt und der Grossweibel der Stadt, der mit dem Blutstab in der Hand die Hinrichtung inspizierte, hat geantwortet: «Du hesch rächt grichtet. Mach wyter, was dir befohlen isch.»

In der Altjahrswoche 1652 lädt Ueli Galli eine Gruppe von vertrauenswürdigen Männern zur Aussprache auf seinen Hof, den «Giebel» ob Eggiwil. Seit dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs ist das Leben hart geworden: Die reichen Flüchtlinge sind abgereist; Bettlerbanden von heimgekehrten Söldnern machen das Land unsicher; die Preise sind eingebrochen; mehrere Überschwemmungen haben das Emmental verwüstet. Die Obrigkeit in der Stadt Bern produziert neue Strafmandate im Akkord, bereits treiben die Landvögte einen Drittel der Staatseinnahmen mit Bussen ein. Und nun noch die Abwertung der Batzen um die Hälfte just nach dem Martini-Markt im November, als viel Geld bei den Bauern liegt. Für sie bedeutet das doppelte Schulden und halber Besitz. Das will man nicht hinnehmen. Man beginnt sich zu organisieren. Mitte April eröffnet Galli in Sumiswald eine Volksversammlung, an der zweitausend Abgesandte aus mehreren Eidgenössischen Orten teilnehmen. Man beschliesst die Abfassung eines neuen Bundesbriefs zur Reformierung der Eidgenossenschaft, leistet den Bundesschwur, wählt Niklaus Leuenberger zum Bundesobmann und bestellt einen Kriegsrat.

Neben dem «Bären», vor dem vor 350 Jahren diese Volksversammlung stattgefunden hat, steht in Sumiswald die Kirche, in der am 13. April 2003 im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes Elisabeth Zölch als Regierungspräsidentin des Kantons Bern und der Berner Bundesrat Samuel Schmid als Vertreter der Eidgenossenschaft des Bauernkriegs gedenken. Zölch spricht vom «inneren und sozialen Frieden im Kanton», der nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfe, Schmid vom «Aufstand des Volkes», der heute «Gott sei Dank» an der Urne stattfinde. Auf der Kirchturmspitze weht eine Schweizer Fahne – ob als Standarte der Gnädigen Herren oder als Fahne der Bauern bleibt offen.

Über solches Gedenken lacht Urs Hostettler. Als Verfasser einer 750seitigen historischen Reportage über den «Aufstand der Emmentaler 1653» ist er zur Zeit im Bernbiet ein gefragter Referent. Bei den Diskussionen ernte er häufig Widerspruch, wenn er die offizielle Sprachregelung ignoriere, indem er statt vom Bauernkrieg-«Gedenkjahr» vom «Jubiläum» der «grössten und erst noch revolutionären Volkserhebung der Schweizer Geschichte» spreche.

Aber wessen im Bernbiet gedacht und wo jubiliert wird, bestimmt nicht Hostettler. In Sachen Jubiläum waren Zölch und Schmid bereits am 6. März unterwegs. In der Französischen Kirche in Bern feierten sie zusammen mit nationaler und kantonaler Prominenz die 650ste Wiederkehr des 6. März 1353, an dem Bern mit den Waldstätten ein Bündnis abgeschlossen hat, was heute als Berns Beitritt zur Eidgenossenschaft gilt. Zölch sprach von der Brückenfunktion des «weltoffenen Kantons», Schmid gar von Berns «Europapolitik», als er auf die mittelalterliche Diplomatie des Stadtstaats zu sprechen kam.

Nach der Versammlung in Sumiswald wollen die Landleute 1653 Nägel mit Köpfen machen: Am 11. Mai stehen an die zwanzigtausend von ihnen auf dem Murifeld vor Bern. «Diese Truppenmacht», urteilt Hostettler, «reichte zweifellos aus, um die Stadt im Handstreich einzunehmen.» Nun war, wenn nicht Europapolitik, so doch Diplomatie gefragt: Während aus dem Welschland Hilfstruppen anrückten, verhandelte eine Delegation der Aristokraten unter freiem Himmel mit den Bauern. Alte Kämpfer wie Galli, die mit der Obrigkeit ihre Erfahrungen gemacht hatten, plädierten dafür, Bern sofort einzunehmen, die Regierung zu ersetzen und die Gültbriefe zu vernichten. Obmann Leuenberger dagegen liess sich über den Tisch ziehen: Gegen Versprechungen, die später nicht gehalten wurden, schickte er seine Truppen nach Hause. Diese wurden in den nächsten Wochen als kleine Einheiten militärisch aufgerieben, ihre Führer verhaftet und abgeurteilt. Ende August wurde Leuenberger in Bern gevierteilt. Galli, der sich vorerst hatte verstecken können, wurde Ende September, als er zu Hause auftauchte, «um noch etwas zu reichen», gefangen genommen, nach Bern verbracht, gefoltert und zum Tod verurteilt.

Eggiwil, 26. Januar 2003: Abends steige ich mit anderen von der Emme her zum Hofacker und dann den Weg hinauf, der links auf den Sonnseitenberg führt. Unter den Schuhen knirscht Schnee, der Weg ist mit Ölfackeln beleuchtet. Oben ein Bauernhaus: der «Giebel». Wir werden in die niedrige Stube gebeten, am Tisch sitzt der Hausherr, Ueli Galli, mit seinen Getreuen: Altjahrswoche 1652, Szene eines Stationentheaters. Auch ich bin damit einverstanden, dass wir diese Batzenabwertung nicht einfach hinnehmen.

Man muss sagen: ein probates Tandem, Bundesrat Samuel Schmid und Regierungsrätin Elisabeth Zölch. Gleichzeitig repräsentieren sie die Gnädigen Herrn von 1353 und 1653 und die Aufständischen, die im Bauernkrieg «der Obrigkeit Rechte abgerungen» haben (Schmid) – denn immerhin gehören sie beide der SVP an, die bis 1971 als BGB die Bauern im Parteinamen geführt hat. Wenn aber Regierende vorgeben, Obrigkeit und Aufständische zu vertreten, wo ist dann der Ort der Opposition? In Bern ist nichts beständiger als der obrigkeitliche Paternalismus, den kritische Einwände grundsätzlich narzisstisch kränken, weil in seinem Wesen Herrschaft und Opposition immer schon versöhnt sind im Interesse des von ihm definierten Allgemeinwohls.

Soviel zur permanenten Revolution à la bernoise. Der Rest ist Diplomatie und Abschreckung: Gallis verwesenden Leichnam zum Beispiel liess man monatelang am Galgen hängen. Als der Gehängte am Morgen des 12. Mai 1654 geköpft unter dem Galgen lag, witterten die gnädigen Herren einen Anschlag auf die Autorität der obrigkeitlichen Gerichtsbarkeit und befahlen, der Rumpf sei mit einer Kette unter den Armen durch erneut aufzuhängen. Der Kopf aber, der sich selbständig gemacht hatte, sei festzumachen, wo er hingehört: mit einem grossen, eisernen Nagel. 

[1] Die Angabe des Orts ist ungenau. Grabungen des Archäologischen Diensts des Kantons Bern haben 2009 ergeben, dass der Galgen der Richtstätte «untenaus»  etwa 200 Meter östlich von diesem bewaldeten Hügelchen, jenseits der Bitziusstrasse, gelegen hat.

Unter Verwendung von Urs Hostettler: Der Rebell vom Eggiwil, Bern (Zytglogge) 1991.

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