Wo ist die linke Öffentlichkeit?

Was man nicht alles findet, wenn man in alten Papieren wühlt: Unter dem Titel «Können Journis streiken?» habe ich Mitte Juli 1993 in der WoZ Nr. 28 kurz über gescheiterte Verhandlungen um einen neuen Gesamtarbeitsvertrag im Bereich der Printmedien berichtet. Auf den Text bin ich gestossen, weil ich zur Zeit den WoZ-Jahrgang 1993 durchforste nach eigenen Texten, die es aus meiner Sicht verdienen, in das Textlabyrinth dieser Website eingeordnet zu werden.

Geschrieben habe ich damals Folgendes: «Am Mittwoch dieser Woche haben die JournalistInnenverbände SJU und SVJ ihre Verhandlungen mit dem Verlegerverband SZV um einen neuen Gesamtarbeitsvertrag GAV ergebnislos abgebrochen.

Nachdem seit dem 1. Januar 1993 ein vertragsloser Zustand herrscht, kam es zwischen den Vertragspartnern Mitte März zu einer Einigung, die für die JournalistInnen ‘an der äussersten Grenze des Zumutbaren’ war. Trotzdem lehnte die Mehrheit der Verleger dieses Ergebnis kurz darauf an einer Delegiertenversammlung ab und schaltete bis zum 1. Juli eine Denkpause ein.

An einer neuerlichen Delegiertenversammlung hat der SZV am 2. Juli seine ‘Marschrichtung’ festgelegt und damit den sofortigen Abbruch der Verhandlungen provoziert: Seine Forderungen in den Bereichen Mindestlöhne, Arbeitszeit und Urheberrecht sind für die Verbände der JournalistInnen inakzeptabel: ‘Es kann nicht Aufgabe eines GAV sein, schlechteste Markt- und Arbeitsbedingungen für Jahre zur Norm zu erklären und somit langfristig den Billigjournalismus zu fördern.’

Wie weiter? Thomas Bernhard, Zentralsekretär der SJU: ‘Am Verhandlungstisch haben wir alles ausgereizt. Nun liegt der Ball auch bei unseren Mitgliedern. Das Thema Streik darf nicht mehr tabu sein.’»

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Das war eine Momentaufnahme – ohne Kontext fürs Textlabyrinth eher nicht geeignet. Den Kontext bietet jetzt Stephanie Vonarburg im eben erschienen «Widerspruch» Nr. 67: Nach meinem WoZ-Beitrag damals ist es noch zweimal – 1996 und 2000 – zu GAV-Vertragsabschlüssen gekommen. Per Ende Juli 2004 hat der Verlegerverband den GAV gekündigt, weil, so Vonarburg, der vertragslose Zustand den Zeitungsverlegern gelegen gekommen sei, «um Restrukturierungen kostengünstiger vollziehen zu können».

Seither, seit bald zwölf Jahren, herrscht ein vertragsloser Zustand. Vonarburg, Zentralsekretärin Presse und Elektronische Medien bei der heutzutage zuständigen Gewerkschaft syndicom, schliesst: «Um einen GAV zu erreichen, der die drastisch verschlechterten Arbeitsbedingungen in den Medien wieder verbessert, wird es […] viel Einsatz und grosse Mobilisierung der Medienschaffenden brauchen.»[1] Ich habe den Eindruck, eigentlich habe sie schreiben wollen: «Das Thema Streik darf nicht mehr tabu sein.»

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Mir erging es in dieser Zeit so: Ende 2001 trat ich aus der Infolink-Genossenschaft, die die WoZ herausgibt, aus, um als freier Journalist im Pressebüro puncto in Bern weiterzuarbeiten. Grund war vor allem, dass mir die Pendlerei nach Zürich zu viel geworden war und ich hoffte, nach dem Abschluss des zehnjährigen Nebenbei-Projekts NONkONFORM wieder vertieft journalistische Themen bearbeiten zu können. Wegen der Intensität der Arbeit an der C. A. Loosli-Werkausgabe bekam ich zwischen Anfang 2006 und Frühling 2009 die radikalen und irreversiblen Veränderungen nur ungenügend mit, die die Printmedienbranche erfassten und den freien Journalismus rasch weitgehend aus dem Markt drängten. Zwar versuchte ich ab Frühling 2009 als Freier noch einmal Fuss zu fassen. Gelungen ist mir das nicht mehr existenzsichernd.

Am 10. Juni 2012 habe ich deshalb Stephanie Vonarburg, damals «meine» Zentralsekretärin, geschrieben und den Austritt aus der Gewerkschaft syndicom erklärt: Weil ich nicht mehr 50 Prozent meines Einkommens aus dem Journalismus zu generieren im Stande sei, sei es richtig, mich aus dem Berufsregister zu streichen: «Der einzige Grund, den ich für mich im Moment noch sehen würde, syndicom-Mitglied zu bleiben, wäre der Vorhalt, ich müsse mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der Printmedienbranche – in einer anderen war ich ja nie tätig – solidarisch sein. Ich habe mich entschieden, darauf zu antworten: Nein, das muss ich nicht. Die einzigen Leute, die sich, ohne zu PR-Söiniggeln zu werden, in den kommenden Jahren in dieser Branche noch werden halten können, sind die Festangestellten der verbliebenen Medienhäuser – also jene, die mich in der letzten Zeit zunehmend für einen Tagesansatz von 120 bis 150 Franken brutto haben arbeiten lassen. Es gibt auf der Welt noch Leute, mit denen solidarisch zu sein ich mich verpflichtet fühle. Die eben Erwähnten gehören nicht dazu.» Seither bin ich Mitglied der Gewerkschaft Unia, der ich meinen Obolus mit Überzeugung entrichte, auch wenn ich als Berufsmann in jener Gewerkschaft nichts verloren habe.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Vor Stephanie Vonarburg habe ich Respekt. Sie kämpft als hartnäckige Doña Quijote für die gerechten Arbeitsbedingungen ihrer Schafe. Es ist eben schon wahr, dass eher eine Schafherde durch ein Nadelöhr geht, als dass eine Herde von Schurnis branchensolidarisch einen Arbeitskampf führt. Die Journi-Zunft ist die denkbar unsolidarischste, bestehend aus immer besser Aus- und immer penetranter Eingebildeten, die ihren Opportunismus für Objektivität, ihre Schnellschreibe für Prosa, ihren Narzissmus für gesellschaftliche Bedeutung und ihre Feigheit für den Ausdruck exklusiven Durchblicks halten. (Wie gesagt: Ich muss das wissen, weil ich lange genug selber Journi gewesen bin.)

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Davon wollte ich eigentlich hier gar nicht schreiben. Sondern davon: Am 20. April fand im Zentrum Karl der Grosse in Zürich zur Lancierung des erwähnten, «Widerspruchs» «Medien, Internet – Öffentlichkeit» eine Podiumsdiskussion statt. Titel: «Wo sind die freien Medien?» Ich lud mich selber ein hinzugehen, auch weil mit Nick Lüthi mein mehrjähriger puncto-Pultnachbar das Gespräch leitete und Susan Boos und Guy Krneta mitdiskutierten. Erstere war zwischen 1987 und 2001 eine meiner WoZ-Kolleginnen; letzterer der Co-Dozent zweier Kurse zum Thema über Literarische Recherche am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel (2010/11). Drei Gschpändli von früher also, die mir zusammen mit der NZZ-Redaktorin Brigitte Hürlimann und dem Bündner SP-Grossrat Jon Pult die aktuelle Medienwelt erklären würden. So machte ich, sozusagen im Rahmen eines autodidaktischen Pensionierungsvorbereitungskurses, ein Schulreislein nach Zürich (Lernziel: Das Positive sehen am melancholischen Rückblick).

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Die Veranstaltung war unterhaltend – engagierte Leute sind immer unterhaltend, weil sie wissen, wovon sie reden –, viel Neues war allerdings nicht zu erfahren – auch engagierte Leute können nicht zaubern. Allerdings wurde die Ausgangsfrage – «Wo sind die freien Medien?» –, die von Lüthi gleich zu Beginn heruntergebrochen wurde auf die einfachere «Wo sind die linken Medien?» – ungenügend beantwortet. Mag sein aus Unachtsamkeit, mag sein aus einer gewissen SP-Loyalität, die auf dem Podium vorherrschte. Behauptet wurde, an freien resp. linken Medien gebe es in der Deutschschweiz neben der WOZ heutzutage nur noch die nur regional gelesenen sozialdemokratischen Blätter Linke Zeitung Zürichs p.s. und Schaffhauser AZ. Unterschlagen wurde insbesondere das vierzehntäglich erscheinende, in der ganzen Deutschschweiz gelesene «Work» der Gewerkschaft Unia. Diese Zeitung ist neben der WoZ die politisch wichtigste linke Stimme der Deutschschweiz, eine Zeitung, die im Dienst ihres Zielpublikums, das deutsch zu einem bedeutenden Teil als Fremdsprache liest, eine spezifische Form des linken Boulevardjournalismus entwickelt und damit die bisher letzte bedeutende formale Innovation linker Printpublizistik geschaffen hat. (Und nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang das Magazin «Rote Anneliese» im Oberwallis, das für die Work-MacherInnen eine wichtige Inspirationsquelle gewesen ist.)

Aber abgesehen davon stimmt natürlich der Tenor auf dem Podium in Zürich: Die mediale linke Öffentlichkeit wird immer kleiner und punktueller.

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Im Frühsommer 1976 hat Max Frisch seine Rede vor dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei unter den Titel gestellt: «Haben wir eine demokratische Öffentlichkeit?» Bei dieser Gelegenheit hat er die SP daran erinnert, dass es eine solche Öffentlichkeit immer weniger gebe: «Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (und das gleiche gilt für die Gewerkschaften) zehrt von einem Erbe, von einem Demokratie-Verständnis, das Arbeiter und andere in einem kapitalistischen Jahrhundert mühsam genug geschaffen haben; ich sage: Sie zehrt, sie verlässt sich darauf, dass ein politisches Bewusstsein weiter besteht ohne eine Presse, die das Volk erreicht.»[2] Anders: Ohne Medien, die eine flächendeckende linke Öffentlichkeit herzustellen im Stande sind, gibt es längerfristig auch kein gesellschaftlich relevantes linkes politisches Bewusstsein (sondern bloss einzelne Linke, die sich in ihren Subkulturen den Mund fusselig reden).

Vermutlich waren die 1970er Jahre der historisch spätest mögliche Zeitpunkt für Sozialdemokratie und Gewerkschaften, ihre schwächer werdende zersplitterte Medienmacht zu konzentrieren und eine linke Tageszeitung zu gründen. Im Rückblick auf die neunziger Jahre hat Susan Boos 2014 geschrieben: «Man hätte längst eine linke Tageszeitung für die ganze Schweiz schaffen müssen. Aber das ging nicht, es gab zu viel Zoff und zu wenig Geld. Eine Arbeiterzeitung nach der anderen starb. Es war traurig anzuschauen.» (WOZ Nr. 37/2014)

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Unterdessen gehe ich eilig entlang dem Limmatquai zurück zum Hauptbahnhof, um den 22 Uhr-Intercity-Zug Richtung Bern noch zu erwischen.

Wie weiter? Das Podium in Zürich hat keine Antworten gegeben. Dabei wären linke Antworten dringend: Der Präsident des Verlegerverbands, Hanspeter Lebrument, hat eben in diesen Tagen die redaktionelle Freiheit der Printmedien überhaupt zur Disposition gestellt: «Als Verleger kann ich nicht den Helden spielen und dabei einen Grosskunden verärgern.» Darum sei «eine saubere Trennung zwischen dem Werbemarkt und dem redaktionellen Teil einer Zeitung […] viel schwieriger geworden als vor zwanzig Jahren, als es die finanzielle Lage erlaubte, die redaktionelle Unabhängigkeit über alles zu stellen». (NZZ am Sonntag, 17.4.2016)

Wenn es einerseits so ist, dass die kommerziellen Zeitungen nur noch schreiben, was ihnen die Grossinserenten erlauben und andererseits Frischs Diktum stimmt, dass für politisches Bewusstsein eine mediale Öffentlichkeit Voraussetzung ist, dann folgt ziemlich logisch:

• Es braucht jetzt, sofort eine flächendeckende linke – oder sagen wir: links-grüne – Öffentlichkeit. Also braucht es ein links-grünes tagesjournalistisches Medium, das von den Parteien, den Gewerkschaften und allen NGO’s getragen wird, die an einer links-grünen Öffentlichkeit interessiert sind.

• Auch wenn ein Printmedium vielleicht Vorteile hätte: Seine Produktion wird vermutlich nie mehr, aber sicher nicht innert nützlich Frist bezahlbar sein. Darum bleibt nur die Planung einer Website. Ihr Arbeitstitel: «Die linke Öffentlichkeit».

• Diese Website bietet neben einem redaktionellen Teil, der konkurrenzfähig ist mit den Websites der grossen Tageszeitungen, eine gut sichtbare und übersichtliche Linksammlung zu allen Organisationen, die das Medium tragen. Ziel: Die insgesamt wohl hunderttausende von Partei-, Gewerkschafts- und NGO-Mitgliedern nehmen immer häufiger den Umweg über die «Linke Öffentlichkeit», bevor sie zu ihrer jeweiligen Organisation weiterklicken. Und mit der Zeit besuchen sie die Seite routinemässig – einfach weil’s spannend ist und immer etwas Neues zu entdecken gibt.

• Die grundsätzlich unabhängige Redaktion der «Linken Öffentlichkeit» ist gross genug, damit die Arbeit getan werden kann. Die Leute können von ihrer Arbeit leben, arbeiten mit den Öffentlichkeitsabteilungen ihrer TrägerInnen zusammen, soweit sinnvoll auch mit Radaktionen anderer Onlinemedien, und sie haben ein Budget für freien Journalismus, um ab und zu ein Nice-to-have einzukaufen. (Ich schreibe dann was über linke Pensionierungsvorbereitungskurse.)

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Als ich dem Zug entlang zu einem der weniger besetzten vorderen Wagen eile, winkt mir durch die Scheibe lachend ein bereits Sitzender zu. Ich winke überrascht zurück: der Beizer des ayurvedischen Restaurants im Quartier, in dem ich in Bern arbeite. Gute Idee, denke ich, statt brotlos zu spintisieren, will ich wieder einmal zu ihm essen gehen.

Ich setze mich in ein freies Abteil. Ich bin auf eine durchaus positive Art melancholisch gestimmt. Kursziel erreicht.

[1] Stephanie Vonarburg: Journalistische Arbeit unter vertragslosen Bedingungen. Ein Medien-Gesamtarbeitsvertrag ist unabdingbar, in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik Nr. 67. Zürich (Rotpunktverlag) 1. Halbjahr 2016, S. 75-79.

[2] Max Frisch: Haben wir eine demokratische Öffentlichkeit? in: ders.: Gesammelte Werke Band 7. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, S. 20-24.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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