Humpty-Dumpty sagt: Erfinden ist kindisch

Über den 1992 posthum veröffentlichten Roman «Schock und Alltag» hat Walter Vogt (1927-1988) als Motto ein Zitat aus Lewis Carrolls Roman «Alice hinter den Spiegeln» (1871) gesetzt: «Erfinden ist kindisch, sagte Humpty-Dumpty, lass uns lieber alles so aufschreiben, wie es ist. Wow, rief Alice und begann alles haargenau so zu notieren, wie es war.» «Schock und Alltag» ist eine Sammlung von Notizen, deren authentische Wirkung zu belegen scheint, dass Vogt die Schreibmethode von Alice nachzuvollziehen versucht hat. Das Motto wäre demnach eine Stellungnahme für ein streng chronikalisches Schreiben ohne narrative Fisimatenten.

In unmittelbarer Nachbarschaft mit diesem Motto steht allerdings als Untertitel des Buchs «Tagebuchroman». Dieser Untertitel ist nicht der Verkaufsförderung des Verlags geschuldet: Laut Typoskript von «Schock und Alltag», das im Schweizerischen Literaturarchiv liegt, stammt der Untertitel von Vogt. Tagebuchroman? Ist das nicht ein Widerspruch in sich selber? Entweder notiert man doch, wie es war, oder man saugt sich eine Fiktion aus den Fingern.

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Nimmt man Zitat und Untertitel als Konstellation, ist hier eine paradoxe Behauptung formuliert: Wer sich vornimmt, alles so aufzuschreiben, «wie es ist», wird trotz heissem Bemühn kein chronikalisches Werk verfassen, sondern einen Roman, eine Fiktion, einen Dschungel voller narrativer Fisimatenten.

Aber warum das? Darum: Je konsequenter der Versuch ausfällt, «zu notieren, wie es war», desto mehr steht der Text zwar subjektiv, für die notierende Person, tatsächlich für das, was war, aber für alle anderen ist diese einmalige Sicht auf die Wirklichkeit als objektive nicht nachvollziehbar und bleibt deshalb eine nicht überprüfbare Erzählung, eine Fiktion, ein Roman. Anders: Was produktionsästhetisch Tagebuch sein mag, ist rezeptionsästhetisch Roman.

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Aber wenn es tatsächlich so ist, dass der konsequente Versuch, alles so aufzuschreiben, «wie es ist», zum paradoxen Ergebnis einer Fiktion führt, was entsteht dann, wenn man umgekehrt konsequent aufschreibt, was einem als Erfindung einfällt (auch wenn’s kindisch ist)? Entsteht dann ein Sachbuch?

In gewissem Sinn und ebenso paradoxerweise: ja.

Um dies zu begründen, muss ich mir (wieder einmal) erklären, warum aus meiner Sicht heute kein erfundener Plot, keine gebastelte narrative Struktur ein ernstzunehmender Roman ergeben wird: Die grosse Zeit der Romane war in Europa das 19. Jahrhundert, weltweit das zwanzigste. Die Ungleichzeitigkeit hat mit der ungleichzeitigen sozialen Atomisierung der Gesellschaften zu tun: Je atomisierter eine Gesellschaft ist, desto mehr ist auch jeder subjektive Versuch, sich die Welt durch die Schaffung und Ausgestaltung einer narrativen Struktur zu erklären, von atomisierter Bedeutung. Die Relevanz der Romanform ergibt sich gerade dadurch, dass es mit ihr einem gesellschaftlich eingebundenen Subjekt gelingt, seine Gesellschaftsschicht, seine «Klasse», in die es eingebunden ist, zu spiegeln. Wenn diese These stimmt, werden im 21. Jahrhundert weltweit nur noch in Randregionen Romane von Bedeutung entstehen, weil diese Regionen rückständig sind, das heisst: sozial noch vergleichsweise homogen überlebt haben. Es gibt, das ist meine Überzeugung, literarische Formen, die wegen des sozialen Wandels obsolet werden.

Umgekehrt vermögen in unseren Breitengraden verfasste Romane heute grundsätzlich nichts mehr zu spiegeln als den atomisierten gesellschaftlichen Ort und die narzisstische Bedürftigkeit der Autorenschaft: Gespiegelt wird eine über das schreibende Subjekt hinaus irrelevante Beschränktheit (die freilich nichts mit Dummheit, sondern mit der sozialen Vereinzelung des schreibenden Subjekts zu tun hat).

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Nun ist es aber eine Tatsache, dass massenweise Romane erscheinen (und noch viel mehr geschrieben werden).

Klar, Romane werden gekauft, also kommen Romane als Waren auf den Markt. Bekannt ist, dass Verlage über gattungsmässig grenzwertige Texte gerne «Roman» schreiben, weil die Buchhandlungen dann wissen, wo sie die Ware hinstellen müssen und das Publikum statistisch gesehen öfter zugreift, weil es sich von dieser Lektüre Unterhaltung und Ablenkung verspricht. Diese Tatsache hat im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren zum Beispiel einen veritablen Kriminalroman-Tsunami ausgelöst.

Aber diese kulturindustriell gefertigten, brav ausgepinselten Narrationen – von Lektoratsprofis verkaufsfördernd optimiert – scheitern heute an der relevanten Spiegelung von Wirklichkeit. Sie sind Selbsterfahrungsberichte von zumeist Bildungsprivilegierten und ökonomisch Abgesicherten, die es sich leisten können, ihr persönliches Problem als Buch unter die Leute zu bringen.

Das persönliche Problem, das mit diesem Schreiben als Therapie zu lösen versucht wird, ist jenes der sozialen Selbstverortung. Was die Form des Romans heute noch zu leisten vermag, ist die Auspinselung jener Tatsache, die Endo Anaconda (Stiller Has) 1996 in vier Verszeilen auf den Punkt gebracht hat: «verlore wie ne gagu / schwäben i dür ds läären all / und us däm all da gits kei uswäg / will das hueren all isch überall» (aus: «so long, hasi», in: «moudi»).

Oder anders: Was heute produktionsästhetisch ein Roman sein mag, ist rezeptionsästhetisch ein selbstherapeutischer Erfahrungsbericht, den ich als Buchhändler zu den Sachbüchern stellen würde.

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Übrigens ergreift bei Vogt Humpty-Dumpty schon nach wenigen Seiten erneut das Wort: «Nun schreibst du doch beim Bearbeiten alles um, änderst Wörter, streichst ganze Passagen, […], so ist es doch gar nicht mehr, wie es wirklich war. Dafür war es wirklich so, wie es jetzt aufgeschrieben ist, sagt Alice, ein bisschen verunsichert allerdings.»

Was Alice mit diesem neuerlichen Paradox vermutlich sagen will: Jeder gedruckte Text ist auch ein Fetisch, der zur Textgläubigkeit nötigt über seine Bedeutung hinaus. Zweifellos ist auch das ein Grund, warum die verbliebenen Hohepriester der schrumpfenden Feuilletons weiterhin ohne Risiko, ausgelacht zu werden, mit der grossen Glocke läuten können, wenn die Literaturindustrie die grossen Druckmaschinen bemüht hat für den neusten «epochalen» Roman.

Walter Vogt: Schock und Alltag. Tagebuchroman. Werkausgabe, vierter Band. Zürich/Frauenfeld (Verlag Nagel & Kimche) 1992, hier 7 + 19. 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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