«8 bis 10° fühlen sich ganz angenehm an»

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Marie-Luise Könneker wurde am 20. Mai 1945, wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im niedersächsischen Remlingen geboren und ist laut Wikipedia-Eintrag eine «deutsche Autorin». Allerdings lebt sie seit 1984 in Bern. Als sie damals aus Berlin hierher kam, war sie Literaturwissenschaftlerin und Mutter von der heutigen Schauspielerin Kea und von Till, dem Künstler und Mitgründer der Firma Apps with love, den man auch als Kolumnisten der Berner Kulturagenda kennt. Hierher gekommen ist sie, um mit ihrer Lebenspartnerin, der Medizinhistorikerin und Therapeutin Esther Fischer-Homberger zusammenleben zu können. 2014 hat sie für ihr vorletztes Buch «Asseblick» – über das grosse Atommüllager Asse II im instabilen Untergrund bei Remlingen – einen Literaturpreis des Kantons Bern erhalten.

In ihrem neuesten Buch legt sie nun ihre Autobiografie vor: «einfach schön und gut», in dem sie – so der Untertitel – ein «Leben an den Rändern der Konsumgesellschaft» beschreibt.

Der weite Weg in die Wassermühle

Eine Autobiografie ist, so Könneker, «meist weder Dichtung noch objektive Wahrheit», sondern «Autofiktion», eine zur Erzählung verdichtete Auswahl aus Erinnertem. Sie selber wählt als chronologisch ersten Satz jenen, den ihre Mutter, eine Bäuerin, jeweils brauchte, wenn sie über die letzten Schwangerschaftswochen sprach: «Mir war alles egal.» Was dann bei der Geburt doch nicht stimmte, «denn ich hatte das falsche Geschlecht. Der ersehnte Hoferbe war wiederum ausgeblieben.»

Esszwang sei das erste, was sie danach bewusst erlebt habe. Für solche wie sie habe die Psychiatrie damals das Wort «Frühgestört» gebraucht. Sie habe sich «weder weiblich noch männlich» gefühlt und bald einmal sei ihr klar gewesen, dass ihre «einzige Chance die Sprache und das Sprechen» sei.

Sie geht an die Technische Universität nach Berlin, mietet 1967 «mit sechs anderen Kommunarden» eine grosse Wohnung, trifft ihren Partner, den Maler und Grafiker Gernot Bubenik, und wird zur desillusionierten Altachtundsechzigerin: «Mitte der siebziger Jahre war die Studentenbewegung fraktioniert und eine neue Welle von Investment schwappte über bis dahin autonome Projekte. Kinderläden nahmen ‘Staatsknete’.» Als sie an einer Veranstaltung mit amerikanischen Hippies von deren «home-base The Farm» hört, fährt sie hin und trifft in der Nähe von Nashville auf die Realität eines anarchistischen Traums: «Alle teilten alles und hatten sich zu freiwilliger Armut verpflichtet.»

‘Konsumverweigerung’, die bei ihr ‘lange, bevor das Wort geprägt wurde’, Lebenspraxis gewesen sei, bleibt für sie dabei eine ‘befreiende Erfahrung’.

Geblieben ist sie dort nicht. Aber der Traum von der Realisierung des Traums ist geblieben. Mit ihrer Partnerin Fischer-Homberger baute sie später in der Auvergne eine ehemalige Wassermühle zur Wohnung aus und lebt seit dem Tod der Partnerin, wenn sie nicht in Bern ist, allein in «La cheix». «Konsumverweigerung», die bei ihr «lange, bevor das Wort geprägt wurde», Lebenspraxis gewesen sei, bleibt für sie dabei eine «befreiende Erfahrung». An Kälte zum Beispiel kann man sich gewöhnen: «+5° sind gerade noch möglich, 8 bis 10° fühlen sich ganz angenehm an.» Unterdessen muss sie bei allem, was sie in «Le cheix» tut, daran denken, «dass ich das hinterlassen, hinter mir lassen werde, auch diesen Text», weil sie es versäumt habe, «ihn zu löschen».

Nicht schrauben, nageln, kleben, löten

Aber eigentlich ist die Autofiktion doch eine Autobiografie? – Ja, aber erst, wie sie erzählt wird, macht sie als Lektüre so faszinierend. Das Buch ist der Ästhetik der literarischen Moderne verpflichtet: Das Dargestellte wird durch Montage fragmentiert und so zu nichtlinearer Komplexität verdichtet. Neben Prosa- und Gedichttexten von Könneker begegnet man lesend Zitaten und Versen von Christa Reinig, Bertolt Brecht, Mascha Kaléko, Jakob von Hoddis, Janis Joplin, Lawrence Ferlinghetti und vielen anderen. Der kleinteilig montierte Bau des Textes lässt so neben dem sozialen und dem geographischen auch den intellektuellen und den weltanschaulichen Weg der Autorin erahnen.

Könneker reflektiert ihre Methode des Schreibens variantenreich: Etwa wenn sie der Herkunft der Wörter «Technik, Text und Textil» nachgeht (von texere = weben, flechten) und kommentiert, diese Wörter bezeichneten «ein jeweils kunstvoll Zusammengefügtes, Geknüpftes, Verflochtenes». Oder wenn sie über die Einrichtung ihrer Räume nachdenkt, den Begriff der «Assemblage» einführt und schreibt: «Ich wollte, vielleicht entscheidungsschwach, in meinem Interieur möglichst wenig festlegen, nicht schrauben, nageln, kleben, löten, damit meine Auswahl vorübergehend ist, ein Angebot, ohne Aufwand revidierbar.» Oder wenn sie sich auf Friederike Mayröckers Begriff des «Proems» bezieht, einer Mischform aus Poesie und Prosa, und so die essayistisch-autofiktionale Textfläche charakterisiert, auf der sie ihr musée imaginaire des eigenen Lebens inszeniert.

Zusätzlich ist Könnekers Text mit über 40 poetischen Stilleben des Fotografen Ernst Fischer durchsetzt, die Einblick gewähren in die Lebenswelt der Autorin am Rand der Konsumgesellschaft. Zu dieser Lebenswelt gehören auch die Frühlingsanfänge, an denen sich seit 2020 «Esthers Todestag» jährt: «Dieser strahlende Tag, der reine blaue Himmel über dem blühenden Garten, ihre Hand in meiner.»

Marie-Luise Könneker: einfach schön und gut. Leben an den Rändern der Konsumgesellschaft (mit Fotos von Ernst Fischer); Biel: verlag die brotsuppe, 192 Seiten.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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