Atlantis-Fahrt

«Der Zusammenbruch des Kommunismus (…) führte uns in eine bislang unentdeckte Welt: eine Welt ohne eine kollektive Utopie, ohne eine bewusste Alternative zu ihr.»
(Zygmunt Bauman: «Die Wiederverzauberung der Welt»)

«…und öfters über des kühnen Herkules Säulen hinaus, zu neuen seeligen Inseln
Tragen die Hoffnungen ihn…»
(Friedrich Hölderlin: «Der Archipelagus»)

Samstag, 4. November 1989

Am Morgen noch kurz auf die Redaktion, um den Schreibtisch aufzuräumen. Die NZZ spricht jetzt, überfliege ich, von einer «Zeitenwende», die «angesichts des Zerfalls der kommunistischen Herrschaftsideologie und des Niedergangs des ‘realen Sozialismus’ möglich» scheine. Die noble Diktion der Sieger des Kalten Kriegs. Mit wenig Gepäck hinaus zum Flughafen. In Kloten Dreckwetter.

Kaum hatte sich unser Fahrgestell von der weissen Piste gehoben, war von den gelben Bodenlichtern nichts mehr zu sehen, kein Schimmer, so schneite es. Ich sah nur das grüne Blinklicht an unserer Tragfläche, die heftig schwankte, man kam sich wie ein Blinder vor. Später wurde der Flug ruhiger. «Am Anfang beherrscht», las ich gelangweilt im Merian-Reiseführer, «ein Klischee die Phantasie: Urlaub unter Palmen am Meer, die Sonne strahlt vom knallblauen Himmel auf einen blendend weissen Sandstrand. Eine Kitschpostkarte. Man fliegt zu den Kanaren, um dieses klassische Urlaubsmotiv in der Realität wiederzufinden. Und siehe da, das Klischee stimmt.» Anlässlich einer Zeitenwende in einem Klischee baden gehen – ein bisschen Schicksal, ein bisschen Selbstschutz. Plötzlich gleissendes Sonnenlicht. Wie Trümmer eines untergegangenen Kontinents schwimmen die weissen Gipfel der Hochalpen als Inselgruppen im Nebelmeer. Später schlief ich ein.

Kurz darauf berührt mich eine Stewardess an der Schulter, um mich zu wecken und überreicht mir eine grüne Schwimmweste: «Entschuldigen Sie, eine routinemässige Alarmübung.» Ich bemerkte erstaunt, dass sich die grüne Schwimmweste, kaum nehme ich sie in die Hand, in ein blaues Buch verwandelt. Ich schaue fragend zur Stewardess auf. Sie ist weg. Dafür sitzt plötzlich ein älterer, in merkwürdige Tücher gehüllter Herr neben mir, der zuvorkommend sagt: «Beunruhigen Sie sich nicht, das gehört alles zur Alarm-Übung.» Als mein Blick ratlos zum Buch in der Hand zurückgeht, blättert es sich auf und fliegt mir sozusagen gewalttätig unter die Nase. Ich entziffere nichts als «…so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats.» Was der Unfug solle, will ich ausrufen, aber bereits klatscht mir die nächste Passage vors Gesicht: «Solange das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren; solange die Produktivkräfte noch im Schosse der Bourgeoisie selbst nicht genügend entwickelt sind, um die materiellen Bedingungen durchscheinen zu lassen, die notwendig sind zur Befreiung des Proletariats und zur Bildung einer neuen Gesellschaft – solange sind diese Theoretiker nur Utopisten.» Scheiss-Alarm-Übung, denke ich, unterdessen ist die reale Praxis dieser Utopisten eben daran, im Orkus der Geschichte – «Hades, mein Herr, bei uns sagen wir Hades», sagt der Herr neben mir und fügt bei: «Zu meiner Zeit warf man den Theoretikern allerdings nicht vor, Utopisten zu sein. Man verehrte im Gegenteil die Utopisten als Theoretiker.»

Sonntag, 5. November

Ausgezeichnet geschlafen. Das Hotel hier heisst «Residecia Pricipesa» und liegt an der Calle Princesa Guayarmina auf La Isleta, dem nördlichsten Wohnquartier von Las Palmas. In kaum fünf Minuten bin ich an der Playa de Las Canteras, einem breiten, mässig verschmutzten Sandstrand mit Fischerbooten, dahinter hässliche Allerweltshochhausklötze, zweihundert Meter weit draussen im Wasser wellenbrechende Kalksandsteinriffe, die der Reiseführer «Los Rompientes» nennt. Liege seit Stunden hier und öle mich, trotz der Wolken, die der Passatwind meerwärts treibt, fleissig ein.

Der merkwürdige Reisende im Flugzeug hat sich übrigens dann vorgestellt: «Gestatten Sie, Kritias, Grieche, seit Jahrtausenden unterwegs nach Atlantis.» Ich antwortete wie selbstverständlich: …Lerch, Toruist, Destination Cran Canaria.» – «Schauen Sie», deutete er aus dem Fenster, «die nördliche Säule des Herakles, hier endet unsere Welt.» Unter uns dunkelblau die andalusische Mittelmeerküste in spätherbstlichem Mittagslicht, darüber ein makelloser Himmel. Worauf der Grieche deutete, war der Fels von Gibraltar, aussen Postkartensujet, innen britische Militäranlage, wie man weiss. «Gibraltar», sagte ich. «Calpe, ja», erwiderte er, «und hinter der Meerenge Ceuta. Das sind die Säulen des Herakles. Und dahinter lag Atlantis. So hat es Solon von den Ägyptern vernommen und Dropides, mein Urgrossvater, von Solon. So habe ich’s Sokrates erzählt. So hat’s Platon aufgeschrieben. Sie fliegen zum ersten Mal hin?» – «Wenn Sie Gran Canaria meinen, ja.» – «Die Insel Atlantis, müssen Sie wissen», fuhr der Alte fort, «versank, obschon grösser als Asien und Libyen zusammengenommen, vor 9000 Jahren wegen gewaltiger Erdbeben und Überschwemmungen im Meer. Zuvor hatten die Könige von Atlantis geherrscht über ihre und weitere Inseln, sogar über Teile des Festlandes innerhalb der Säulen des Herakles, von Libyen bis Ägypten, aber auch in Europa, in Tyrrhenien.» – «Wenn ich Sie richtig verstehe», bekundete ich höfliches Interesse,  fliegen Sie zu einer Insel, die vor 9000 Jahren versunken ist. Darf ich fragen wozu?» – «Die Menschen dort waren», erwiderte Herr Kritias, «den Gesetzen gehorsam und freundlich gegen das verwandte Göttliche gesinnt, denn ihre Gedanken waren wahr und durchaus grossherzig, indem sie bei allen sie betreffenden Begegnissen sowie gegeneinander Weisheit mit Milde gepaart bewiesen. So setzten sie auf jeden Besitz, den der Tugend ausgenommen, geringen Wert. Müssten wir solche Menschen nicht sogar dann überall und zu allen Zeiten suchen, wenn es sie gar nie gegeben hätte?» – «Zu nah an der Sonne schmelzen allerdings die Wachsflügel, vor allem in Zeiten von Zeitenwenden», versuchte ich geistreich zu sein. Mein Nachbar blieb stumm. Als ich mich nach ihm umwandte, war er weg. Neben mir stand die Stewardess und reichte mir freundlich das blaue Buch, das mir heruntergefallen sei. Als ich es aufschlug, wurden eben die Bremsklappen geöffnet, man spürte es, las ich, wie eine Faust gegen den Magen, bremsen, sinken wie im Lift, im letzten Augenblick verlor ich die Nerven, so dass die Notlandung nichts als ein blinder Schlag war, Sturz, vornüber in die Bewusstlosigkeit. Ich bin mit rasendem Herzklopfen erwacht. Rechts unten im Dunst erkannte ich Teneriffa. Problemlose Landung auf dem Aeropuerto de Las Palmas in Gando/Gran Canaria. Draussen warm und ein angenehmer Wind.

Montag, 6. November

Wilde Gestalten gibt’s hier. Wurde gestern gegen abend – wohl weil ich die NZZ unter dem Arm trug – bei der Rückkehr vom Strand von einem ziemlich abgerissenen, graubärtigen Freak angequatscht, einem Deutschen, der mir ohne Umschweife, getrieben von einem offensichtlichen Mitteilungsbedürfnis, seine neulinke Biografie zu erzählen begann. Eine ziemlich wirre und politisch etwas mysteriöse Geschichte, die in der Behauptung gipfelte, er habe hier vor fünfzehn Jahren sein «Exil auf den letzten Trümmern einer untergegangenen Utopie» gefunden. Was er damit meine? – «Atlantis», erwiderte er. Eine der unzähligen Theorien, die Platons Mythos von Atlantis zu lokalisieren versucht hätten, eben die «Trümmertheorie», sei davon ausgegangen, dass die Kanarischen Inseln letzte Spitzen des untergegangenen Kontinents von Atlantis seien. Die Theorie sei zwar geophysikalisch längst widerlegt, im Atlantik sei in den letzten paar Millionen Jahren kein Kontinent abgesoffen, aber die Tatsache, dass einer, der es mit der «Revolution», wie er sagte, einmal halbwegs ernst gemeint habe, ausrangiert auf den letzten Trümmern einer gesellschaftlichen Utopie des Altertums dahinlebe, müsse doch zweifellos das Augenzwinkern einer listigen Vernunft sein.

Ich habe Tom, wie er sich vorstellte, zum Essen eingeladen, wenn er mir dafür eine Kneipe mit guter einheimischer Küche zeige. Er wies in Richtung der Isleta und sagte beim Weitergehen, natürlich wisse er aus der Zeit, als er noch Bücher gelesen habe, dass die Sache mit den Utopien längst erledigt sei. Die Bedeutung des utopischen Sozialismus zum Beispiel stehe ja bekanntlich, wie die Herren Marx und Engels verfügt hätten, in umgekehrtem Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung: «In demselben Masse, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verliert diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung», zitierte er das «Kommunistische Manifest» aus dem Kopf und fügte im Jargon, den man seinerzeit dahergeredet habe, bei, «der Klassenkampf ist die Utopie in der Praxis, also die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Umwälzung, die das Utopische dialektisch aufhebt.» Wenn er lacht, funkeln seine Augen. In der Kneipe «El Patrino» erzählte ich ihm von den neusten Entwicklungen, die in diesen Tagen in etwas unvorhergesehener Weise den Klassenkampf in Mitteleuropa zu entscheiden schienen. Obschon ihm das meiste neu war, zuckte er bloss die Schultern und sagte: «Was fertig ist, soll auch zu Ende gegen.» Aufgetragen wurde der karpfenähnliche Meerfisch Vieja, dazu Kartoffeln, papas arrugadas, die wir in der roten Sauce mojo rojo tunkten, die wie Feuer brannte. Beim Essen spekulierten wir über die Frage, ob auf das sich abzeichnende Ende des realexistierenden Sozialismus eine neue Epoche utopischen Denkens folge oder nicht. Je mehr wir der würzigen Cerveza negra und später dem lanzarotischen Rotwein «El grifo» zugesprochen hatten, desto mehr neigten wir der Meinung zu, dass die These, der wissenschaftliche Sozialismus bedeute zwangsläufig das Ende der Utopie, falsch sein müsse, denn immer müsse über das hinaus, was der Fall sei und nicht veränderbar scheine, denkbar sein und bleiben, was nicht sein dürfe. Im übrigen erinnere ich mich nur noch, dass mein Gesprächspartner trinkfester war als ich und dass er, als wir nach Mitternacht unten im weitläufigen Hafen, dem Puerto de la Luz, lautstark debattierend auf den Molen spazierten, plötzlich mit mächtiger Stimme übers schwarze Wasser Hölderlin-Verse zu rezitieren begann.

Dienstag, 7. November

Laut der Fernausgabe der NZZ haben am Wochenende in Ostberlin auf dem Alexanderplatz eine Million Leute gegen Honecker demonstriert. Während ich den Tag an der Playa de Las Canteras verbringe, versuche ich dösend ein Problem zu lösen: Unter Berufung worauf sind die bestehenden Verhältnisse überhaupt noch kritisierbar, wenn einerseits das Referenzsystem meiner Kritik als Utopie historisch erledigt ist und andererseits als – wie auch immer pervertierte – gesellschaftliche Praxis untergeht? Kann man das, was ist, bekämpfen, wenn eine kontra-faktische Gesellschaftskonzeption weder denkbar noch lebbar erscheint, in deren Namen das Bestehende erst konsistent kritisiert werden könnte? Konkret: Worauf begründet sich zum Beispiel in meiner journalistischen Praxis die Kritik, wenn für uns nur noch eine Welt und ein Herrschaftsgefüge denkbar sein soll? So sicher, wie eins weniger eins nicht mehr viel gibt, so sicher erledigt sich in diesen Wochen zu meinen Lebzeiten der Anspruch auf den realpolitischen Diskurs um die ökonomisch fundierte gesellschaftliche Gerechtigkeit. Gesiegt hat der Diskurs um die ökonomisch fundierte Freiheit von Privatinteressen. Fragt sich, ob das für meine Arbeit heisst, dass Kritik nun wieder – wie bei den Aufklärern des 18. Jahrhunderts – in erster Linie als Appell an die Menschenfreundlichkeit von öffentlich nicht kontrollierbaren antisozialen Tyrannen vorgetragen werden müsste. Schlagender Grund für einen Berufswechsel. Das Meerwasser ist frisch, auf der Haut leicht prickelnd.

Mittwoch, 8. November

Als ich vormittags an der Rezeption des Hotels vorbeigehe, übergibt man mir ein zweimal gefaltetes Blatt mit der handschriftlichen Adresse «Para los suizos». Darauf die Notiz: «Wenn du die gesamtgesellschaftliche Realität als Maschine nimmst, dann bist du entweder ein gehorsames Rädchen darin oder du hast folgende drei Möglichkeiten: 1. Du baust eine Gegenmaschine, die anders funktioniert (dieser Versuch scheint zur Zeit in welthistorischem Massstab zu scheitern). 2. Du versuchst auf die einzig bestehende Maschine Einfluss zu nehmen mit Massnahmen, die ihren Lauf entweder beschleunigen oder verlangsamen. Im ersten Fall opponierst du ‘positiv’ und wirst als Reformer von der Maschinenlogik vereinnahmt, im zweiten ‘negativ’, was zu deiner Ignorierung oder, falls du unwahrscheinlicherweise deine Isolierung durchbrechen könntest, Unterdrückung führt. 3. Du ziehst dich nach Atlantis zurück und bist somit vor 9000 Jahren untergegangen, dafür werden Utopien zumindest als Privatvergnügen wieder denkbar. Soviel zu unserer Lage, T.

PS. Wenn du morgen abend ins ‘El Padrino’ kommst, sag ich dir, wer die Princesa Guayarmina war.»

Donnerstag, 9. November

Neue Demonstrationen in der DDR. Die Zeitung meldet: «Reisefreiheit für die DDR-Bürger in Sicht». Einen Tag lang übers Wasser geblickt: Atlantis ist nicht aufgetaucht. An den Riffen draussen brachen sich getreulich die Wellen. Ansonsten stand meine Zeit still. Kein Gefälle zum Handeln. Leben wie Schnee: vergehend.

Zum Abendessen ins «El Padrino». Tom scheint sich zu freuen, dass ich komme. Er beginnt zu erzählen, während wir auf das Eintopfgericht Puchero warten – Rind- und Schweinefleisch mit Kichererbsen, Süsskartoffeln, Maiskolben, Birnen und Äpfeln. Die Prinzessin Guayarmina also sei die Tochter gewesen von Tenesor Semidán, dem Guanarteme von Galdár, wie der Titel des Fürsten gelautet habe. Der zweite Guanarteme der Insel habe damals in Telde, weiter im Süden, auf halbem Weg zwischen Las Palmas und dem Flugplatz, residiert. Jener habe Doramas geheissen. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts hätten die Leute hier ihre Insel immer wieder gegen militärisch überlegene, kolonialistische Eroberer verteidigen müssen. Aber wirklich ernst geworden sei es erst in Juni 1478, als eine spanische Expeditionsflotte hier, in der Gegend des heutigen Las Palmas, gelandet sei, sich festgesetzt und eine Festung errichtet habe. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen, die folgten, sei zuerst Doramas, der Guanarteme von Telde, ermordet, danach Tenesor Semidán, Guayarminas Vater, gefangengenommen und nach Spanien verschleppt worden. Dort habe man ihn einer abendländischen Gehirnwäsche unterzogen, auf den Namen Fernando Guanarteme christlich getauft und anschliessend auf die Insel zurückgebracht mit dem Auftrag, die nun unter dem Befehl von Bentejuí, dem Verlobten seiner Tochter, kämpfende Inselbevölkerung zur Kapitulation zu überreden. Erst im April 1483 sei es schliesslich gelungen, den Widerstand der Inselbevölkerung zu brechen und sie zu zwingen, die Waffen niederzulegen. Bentejuí und der Faycan, der oberste Priester der Insel, hätten sich angesichts der Niederlage mit dem Ruf «Atis tirma!», was «Hin zu unserem Gott» heisse, von den Felsen von Ansite ins Meer gestürzt. Am 29. April 1483 habe Guayarmina, die Prinzessin, den überlebenden Teil der Inselbevölkerung zur formellen Unterwerfung ins spanische Lager geführt. Dem spanischen Konquistador Pedro de Vera soll sie mit folgenden Worten gegenübergetreten sein: «Einige arme Inselbewohner, die noch vor kurzem unabhängig waren, übergeben ihr Land den katholischen Königen und stellen sich und ihren Besitz unter den mächtigen Schutz ihrer neuen Herren.» Guayarminas historische Mission sei also die einer machtlosen Vernunft gewesen, angesichts eines militärisch und ökonomisch hoffnungslos überlegenen Gegners das Interesse der verbleibenden Lebensperspektive der Leute, für die sie sprach, wahrzunehmen. Vernunft sei ja als geschichtsbildende Kraft eigentlich nur gekoppelt mit Macht nachweisbar, machtlose Vernunft schiesse als ausserordentlich seltener Spritzer aus dem Strom der Zeit, um sofort spurlos in diesen zurückzufallen. Dem entmachteten ollen Erich in Ostberlin sei in diesen Tagen nichts dringlicher zu wünschen, als dass es ihm gelingen möge, seinen unausweichlichen Abgang als einen Akt machtloser Vernunft zu vollziehen. Übrigens habe Fernando Guanarteme, der Verräter, von den Spaniern als Dank für seine Dienste einen Teil seiner Ländereien zurückerhalten.

«Was ich sagen will», schloss der Deutsche, «Atlantis geht immer wieder unter, und was die Utopien betrifft, kann man sie wohl allesamt als Lebenslügen kritisieren, als falsche, in eine illusionäre Zukunft projizierte Bilder einer idealisierten Vergangenheit. Aber das Problem mit dem Untergang des Ostblocks ist ja weniger, dass damit auch die Utopie eines praktizierbaren demokratischen Sozialismus zur Lebenslüge der ersten Lebenshälfte einer ganzen Generation von sozialromantischen Westlinken zu werden droht. Das Problem ist: Mit welcher Lebenslüge bringen wir die zweite Lebenshälfte hin?»

Freitag, 10. November

Besichtigung der anthropologischen Abteilung des Museo Canario im Vegueta-Quartier: In Ziegenfelle gehüllte, mumifizierte Körper von «Ureinwohnern», blanke Schädel, andere, an denen durch die Mumifizierung Lederhautfragmente und einzelne Haarbüschel erhalten geblieben sind. Den markantesten Schädel habe ich für mich zu jenem Guayarminas erklärt: Wo in diesen schwarzen Höhlen verbarg sich zu Lebzeiten das Hoffen, das keine Erfüllung mehr erwartete?

Gegen Abend mit einer Flasche Wein unter dem Arm, über den Hügel der Isleta am Dorf Los Colorados vorbei, hinaus zur nördlichsten Spitze der Halbinsel. Der Deutsche hat mich gestern abend eingeladen, er lebe dort draussen als einer der Chabolistas in einer nicht sehr komfortablen Hütte. Ich finde ihn nach einigem Suchen nahe dem Strand bei der Arbeit. Er macht Schmuck, vor allem Ketten, aus allem, was das Meer anschwemmt, die er teils in Las Palmas, teils an den grossen Badestränden im Süden der Insel den Touristinnen verkauft. Er könne leben davon, und ihm gefalle es hier, sagt er. Als er hierhergekommen sei, habe er vor sich das freiwillige Exil politisch zu erklären versucht, Marcuse, die grosse Verweigerung, all das Zeug. Heute scheine ihm sein Bleiben vor allem ein Gebot der Selbstachtung, sich von nichts und niemandem brauchen zu lassen sei für ihn eine plausible ethische Maxime. Wir plaudern und trinken bis tief in die Nacht (ein Sternenhimmel, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe). Mit der Frage, was ich mir davon verspreche, als Rädchen in die grosse Maschine zurückzukehren, der, wie es scheine, nichts mehr entgegenzustellen sei, bringt er mich in Verlegenheit (die Fernausgabe der Zeitung hat heute den Rücktritt der DDR-Regierung gemeldet). Schliesslich sage ich, auch sich brauchen zu lassen könne einer ethischen Haltung entspringen. Dem letztlich politischen Entscheid von Fall zu Fall, wo man sich brauchen lasse und wo nicht, könne auch er sich ja nur deshalb entziehen, weil er freiwillig ausserhalb aller gesellschaftlichen Zusammenhänge lebe. Das möge sein, sagt er, jedoch sei er zutiefst überzeugt, dass es im Falschen kein Richtiges geben könne, worauf ich frage, ob es ein Richtiges im Nichts gebe. «Mag sein, dass dieser Strand hier für die gesellschaftliche Welt nichts ist, für mich ist er alles.» Bevor ich mich verabschiede und gehe, bitte ich ihn, mir die Hölderlin-Verse, die er in der Nacht zum Dienstag im Hafen übers schwarze Wasser rezitiert hat, in mein Notizbuch zu schreiben. Er tat’s im Schein einer Kerze mit einer ungeübten Krakelschrift. «Ewig muss die liebste Liebe darben, / Was wir lieben, ist ein Schatten nur, / Da der Jugend goldne Träume starben, / Starb für mich die freundliche Natur; / Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, / Dass so ferne dir die Heimath liegt, / Armes Herz, du wirst sie nie erfragen, / Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.» Als ich ins Hotel zurückkam, dämmerte der Morgen.

Samstag, 11. November

Rückflug ohne besondere Ereignisse. In Kloten kaufe ich mir die NZZ. Im Zug sitzt mir ein junger Leutnant der Armee gegenüber. Als ich vom Leitkommentar –  «Eine DDR ohne Mauer?» – aufschaue, sehe ich, dass er «Neu Atlantis» von Francis Bacon liest. «Interessiert das heute noch jemanden?», spreche ich ihn an. «Fürs Studium, wissen Sie, sonst wurd ich so was nie lesen», entgegnet er. «Utopien sind ja heute ein wenig ausser Kurs», ermutige ich ihn. Und er:  «Zum Glück. Utopien sagen ja nichts über die Welt, sie sind das Problem jener, die sie brauchen.» –  «Sie brauchen keine?» –  «Ist es nicht läppisch, sich Welten auszudenken, die es nicht gibt, statt mitzuhelfen, die einzige Welt, die es gibt, zum Guten mitzugestalten?» – «Nicht wahr», sage ich. Später haben wir uns wieder unseren Lektüren zugewendet. («…dass man sich fragt, wie der physische Zerfall des Landes überhaupt gestoppt werden soll … totale Desillusionierung in der Bevölkerung – der durch den Exodus aus der DDR drohende ökonomische Kollaps … Deutschland im Taumel eines Wiedersehens» usw.) Abends kurz auf der Redaktion, die Post durchgesehen. Nichts Wichtiges. Aber genug, um am Montag wieder anzufangen: In der einen oder anderen Geschichte werde ich mich vielleicht nützlich machen können. Danach in der Stadt einen Menschen gesucht. Das Bedürfnis, jemandem von meiner Atlantis-Fahrt zu erzählen.

Der Auftrag der «Fabrikzeitung» hat gelautet, ich solle eine Reportage über Gran Canaria schrieben, obschon oder gerade weil ich noch nie dort gewesen bin. Der vorliegende Text ist demnach eine «Schreibtischrecherche». Verwendet habe ich Reiseführer der Kanarischen Inseln, Platons Texte «Timaios» und «Kritias», Fachliteratur über das Phänomen Atlantis, die NZZ vom 4. bis zum 11. November 1989, einiges Theoretische zum Begriff «Utopie» – und wer genau liest, wird zwei, drei Sätze aus Max Frischs Roman «Homo Faber» finden, denn auch in einem richtigen Flugzeug ist der Autor noch nie gesessen.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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