Der Sinn im Untergang

Am 11. September 1881 ist der untere Teil von Elm im glarnerischen Sernftal als Folge leichtsinnigen und unfachgerechten Schieferabbaus am Plattenberg durch einen Felssturz verschüttet worden – 114 Menschen starben, weil sie die Flucht nicht ergriffen, obschon seit Tagen kleinere Abbrüche niedergingen und der Fels im Berg immer bedrohlicher krachte.

Als fünfzig Jahre später der Geologe Albert Heim an seinem Buch «Bergsturz und Menschenleben» arbeitete, widmete er der «Einstellung der Menschen in Elm vor dem Bergsturz» ein eigenes Kapitel. Er schilderte die Kurzsichtigkeit der Leute, die mit dem «wahnsinnigen Betrieb des Schieferbruches […] dem Steilgehänge in seiner Mitte» eine «entsetzlich klaffende Wunde» zugefügt hätten. Er erwähnte die Katzen und Hühner, die nach dem Felssturz im haushohen Geröll «die verschüttete Heimat» suchten, was darauf hinweise, dass diese Tiere «merkwürdigerweise rechtzeitig der Katastrophe entflohen» sein müssten. Und Heim schrieb: «Es scheint, dass in Elm der einzige Mensch, der die Gefahr frühzeitig richtig empfunden hat, das achtjährige Töchterlein Katharina Disch war. Sie war im Dorf Elm für einige Zeit und folgte der zweimaligen Aufforderung ihrer Mutter, nun wieder zu ihr nach Untertal zu kommen, nicht. Sie ‘fürchte sich vor dem Steingepolter’. Zur Zeit des Absturzes war sie von Elm noch weiter talaufwärts geflohen. Sie einzig ist am Leben geblieben von ihrer Familie, die neun andern sind verschüttet.»

Soweit Albert Heim. Man hätte es voraussagen können: Falls Franz Hohler je auf diesen Hinweis von Katharina Disch stossen sollte, dann würde er etwas daraus machen. Sind da nicht gleich mehrere zentrale Themen Hohlers beieinander? «Die Rückeroberung» (1982), mit der sich die Natur den Raum zurücknimmt, den die menschliche Zivilisation zerstört hat; «Der neue Berg», der die «schlimmste Krankheit» überdeckt, «den Alltag, den Normalzustand», wie der Schriftsteller Hohler 1989 in einem WoZ-Gespräch seinen ersten Roman  charakterisierte – und die «Drachenjagd» (1994), mit der der Kabarettist Hohler als Prinz Georg XLIV. nicht zuletzt gegen die «postmoderne Beliebigkeit» zu Felde gezogen ist, darauf beharrend, auch in den neunziger Jahren noch verbindlich etwas zu sagen beim Reden. Kurzum: Franz Hohler hat Heims Hinweis gefunden und aus dem Stoff eine Novelle gemacht, in der eine voraussehbare Katastrophe aus der Perspektive jenes Menschen geschildert wird, der sie als Einziger kommen fühlt.

Hohlers Darstellung beginnt zwei Tage vor dem Bergsturz: Katharina Disch wird zusammen mit ihrem vierjährigen Bruder Kaspar zur Grossmutter geschickt, weil bei ihrer Mutter die Wehen zur Geburt des sechsten Kindes eingesetzt haben. Mit dem kleinen Bruder wandert sie von ihrem Elternhaus, dem Gasthaus «Zur Meur» im «Untertal» von Elm am Fuss des Plattenbergs, hinauf zur «Bleiggen», wo am anderen Talhang die Grossmutter wohnt. Hohlers Geschichte umfasst die Schilderung dieses Wegs und die beiden folgenden Tage, während derer man in der «Bleiggen» auf die Nachricht von der Geburt des Kindes wartet: Alltag bei der Grossmutter, der Base Margret mit ihrem Neugeborenen und den beiden Vettern Paul und Johannes. Als plötzlich zwei fremde Hühner auftauchen, wird Katharina in die hintere «Bleiggen» geschickt, aber dort fehlen keine Hühner. Als «Züsi», die Katze vom Gasthaus «Zur Meur», plötzlich da ist, findens auch die Erwachsenen ein bisschen merkwürdig. Meistens regnets. Abends sitzt man um den Küchentisch und verhandeln die Schliessung des Schieferwerks, wo nicht mehr gearbeitet wird, seit vor einigen Tagen ein Teil davon durch Steinschlag in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Ist jemand ein Angsthase, wenn er vor dem unruhigen Berg warnt? Aber wie sollen die hundert Arbeiter leben ohne den Lohn vom Schieferwerk? Als die Meldung von der Geburt einer Tocher am 11. September eintrifft, macht sich die Grossmutter zusammen mit Kaspar auf ins Untertal. Katharina, die in sich plötzlich eine starke zweite Katharina sprechen hört, weigert sich, mitzugehen und wird von der «Bleiggen» aus Zeugin des Felssturzes.

Formal baut Franz Hohler die Novelle nach allen Regeln der Formenlehre, inhaltlich breitet er den Stoff auf zwei Ebenen aus. Auf der ersten Ebene skizziert er kulissenhaft die soziale Realität vom Elm um 1880: Das Wirtshaus mit einem Auftritt des Quacksalbers aus dem Appenzellischen; das Dorf mit dem Pferdeschmied und den spielenden Kindern; Grossmutters Haus mit der grossen Küche, dem stinkenden Abtritt, dem «Schlafgaden», wo es nachts ein bisschen geistert; oder die etwas arg ankerbildhaft gezeichnete Armut in der «hinteren Bleiggen» («überall Löcher, in den Kleidern, im Hühnerstall und auf der Hundehütte»). Auf der zweiten Ebene und im Zentrum der Darstellung  jedoch ist der Blick der Katharina, die genau hinhört und beobachtet, sich ihre Wahrnehmungen mit zwingender kindlicher Logik erklärt, um sie danach in die Welt ihres Spiels integrieren zu können: Während die Grossmutter mit ihrem Brüderchen, der Katze Züsi und den beiden Hühnern ins Tal hinunter und in den Tod steigt, spielt sie mit Puppen und Spielzeugtieren ihre Version der Geschichte von Noah: die Geschichte von den Tieren, die aus «Angst vor den Steinen (…) ganz weit hinauf flüchten». Sozusagen akustisch unterlegt sind diese beiden Erzählebenen durch das immer präsente Rauschen des Regens und das geschützähnliche Krachen in den Felsen, das ab und zu vom Plattenberg herüberhallt.

Die Novelle lebt durch die beeindruckende Zeichnung der kindlich selbstbewussten Katharina Disch, deren lebensrettender Ungehorsam ein doppeltes Nein ist: Nein zur Unvernunft der Erwachsenen und zur menschenzermalmenden Unvernunft der Natur. So zeigt sie den Sinn im Untergang. Diese Konstruktion, die als Pointe den Sinn im Untergang ins Zentrum rückt, verweist auf Hohlers auf der Bühne erworbene Vorliebe für didaktischen Evidenz: In einem Universum der Unvernunft (wie der postmodernen zynischen Vernunft) ist der Wille zur Emanzipation sinnstiftend – und wäre er etwas kindlich Naives. Das ist die vielleicht etwas unzeitgemässe Botschaft in Hohlers bisher stärksten literarischen Arbeit.

Franz Hohler: Die Steinflut. Eine Novelle, München (Luchterhand) 1998.  

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