Die eigene Geschichte als private Welt

Fast scheint es, als ob Dante Andrea Franzetti («Der Grossvater», 1985), Francesco Micieli («Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat», 1986) und jetzt Flurin Spescha ein neues literarisches Genre begründen wollen: Die Autobiografie als Erstling, ein Mittelding zwischen Auto-Psychoanalyse und Familienchronik, mit anzuerkennendem handwerklichem Geschick bearbeitet nach den (geschmackvolleren) literarischen Moden.

Durchaus originell ist das Montageverfahren, das Spescha, möglicherweise in Anlehnung an das romanische Volkslied «Grille und Ameise», das er als Vorspann verwendet: Er montiert im «Rundlaufverfahren». Er bestimmt vier zentrale Themenkreise: «Am Grab» (Familienchronik), «Frühes Amades» (Erinnerungen an die Kindheit im romanischen Graubünden), «Andreas» (Unfall in der Bretagne, bei dem der Ich-Erzähler schwer verletzt wird), «Admissions Note» (Nordamerika-Tournee des Ich-Erzählers mit einer Musikgruppe, psychischer Zusammenbruch, Klinikaufenthalt in Kanada). Diese vier Themenkreise werden durch kleine, kommentierende Einschübe, die immer wieder auf das romanische Grillenlied Bezug nehmen, zu einem siebengliedrigen Rundlauf zusammengeschweisst, den Spescha fünfmal – das letzte Mal verkürzt und variiert – abspult. So schreibt er sich kreisend immer näher an die Kinder- und Jugendtraumata des Ich-Erzählers heran, die insgesamt überschattet werden vom Entscheidenden: vom Tod des Vaters. Dieser ritornell-artige Romanaufbau betont formal eine volkstümlich-musikalische Grundidee, inhaltlich die sich reihenden «kleinen Tode», die der von Ablösungsproblemen geplagte Ich-Erzähler inszeniert, um durch die herbeieilenden Angehörigen sich seines Zuhauses zu versichern.

Der autobiografische Anteil an einem Ich-Erzähler könnte nur mittels einer inquisitorischen Literaturkritik näher bestimmt werden. Jedoch lässt sich hier sagen: Spescha stellt – wie Franzetti, wie Micieli – ein ent-öffentlichtes Ich in einer privaten Welt zur Diskussion. Ist das «Ich» nicht Spescha privat, so ist es doch als fiktives sein privates Problem. Exakt dort, wo das Buch aufhört («Ich gehe jetzt. Ich verlasse das Tal…») würde die Öffentlichkeit anfangen. Das Buch umfasst das Tagebuch eines Adoleszenten, professionell formuliert und redigiert. Die Frage, dieUrs Faes in seinem Roman «Bis ans Ende der Erinnerung» noch thematisiert – Ist die eigene Geschichte mit dem Gang ans Ende der Erinnerung zu erledigen? – ist bei Spescha mit Ja beantwortet und dieses Ja ist umgesetzt in zweifellose Praxis.

Entöffentlichte Literatur, nirgendwohin transzendierend (das einzige Gesellschaftliche am Text ist die Warenförmigkeit des Buches): Für diese Tendenz in der jüngsten Literatur ist Spescha nicht verantwortlich zu machen, jedoch ist sein Buch ein Indiz mehr für die Tendenz. Schon scheinen die literarischen Fenstersteher, jene, die die Welt hinter geschlossenen Fenstern hervor beobachten und beschreiben (siehe WoZ 33/1984) der Geschichte anzugehören. Wer nachkommt, ist vom Fenster zurückgetreten, sitzt, mit dem Rücken zur Welt, am Schreibtisch, tippt kunsthandwerklich versiert (wir sind ja alle ein bitzeli bildungsprivilegiert), und wenn er für einen Augenblick von der Schreibmaschine aufschaut, sieht er an der Wand die Fotos hängen von Grosseltern, Eltern und Geschwistern.

Flurin Spescha: das Gewicht der Hügel. Roman, Zürich (Nagel & Kimche) 1986.

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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