Flucht vor der eigenen Geschichte

Er heisst Moss, arbeitet nach dem Jus-Studium als Gerichtsschreiber; Beziehung zu Isabel, schmerzlose Trennung. Als er einsieht, dass die «heutige Strafjustiz eine Sackgasse» darstellt (53), wird er Radioreporter. Beziehung zu Maria. Bei einem gemeinsamen Ausflug baut Moss einen Autounfall. Er bleibt unverletzt, Maria bleibt krank, auch nachdem sich ihr Körper von den Unfallverletzungen erholt hat: «Ich habe Angst, nichts als diese Angst zu leben, als hätte der Aufenthalt im Spital mir den Boden unter den Füssen entzogen» (47). Moss – mittlerweile mit einem «Befund» konfrontiert, der «eindeutig» ist: «Er war krank, damit müsste er leben. Er hatte keine Chance» (297) – zieht sich von Maria zurück. Am Tag nach ihrem Selbstmord, für den er sich wegen seines Rückzugs von ihr verantwortlich fühlt, begibt sich Moss auf die Flucht vor sich selber. Im Pyrenäen-Dorf Prats-de-Mollo kippt er sein Auto samt Inhalt – «Bücher, alte Briefe, Marias Briefe, Isabels Briefe, Tagebücher, Kleider, Tonbandkassetten» (251) – über die Böschung und steckt es in Brand. Seine Flucht endet auf einer griechischen Insel vor Kusadasi an der türkischen Küste (demnach Samos?). Die Frau heisst hier Lu. Als er die Insel ein Jahr später Richtung Festland wieder verlässt, hat er «irgendwo im Gepäck die Geschichte eines Mannes, den ich vor langer Zeit gekannt hatte, und die Geschichte dieser Frau, die ich getötet hatte: Maria.» (11) Anisschnapssaufend zerreisst er während der Überfahrt seinen Schweizer Pass und wirft ihn über Bord. In Kusadasi bricht er beim Verlassen des Fährboots zusammen. Er wird, da ohne Papiere, in der türkischen Zollstation festgehalten, später via Istanbul nach der Schweiz abgeschoben.

Erzählt wird diese Geschichte in einem komplizierten Montageverfahren. Vor- und zurückspringend fragmentiert Urs Faes die Handlung in Einzelereignisse, die er teilweise noch einmal mit Rückblenden durchsetzt. Erzählerischer Drehpunkt ist die Episode in Prats-de-Mollo: Bis hierher versucht Moss, in der dritten Person Einzahl gesehen, ans Ende der Erinnerung zu kommen, indem er flieht und indem er sie materiell vernichtet. Nun wechselt die Erzählposition: In Ich-Form lernt Moss, dass das Ende der Erinnerung nicht am Ende der Welt, sondern am Ende der Angst vor der eigenen Geschichte liegt.

Unverzahnte Überbaudebatte

Über diese Geschichte als Gerüst baut Faes eine Debatte um die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen den Mechanismen der Weltgeschichte und jenen der kleinen, individuellen Geschichte. Zum Zweck dieser «Überbaudebatte» führt Faes mit den Figuren des Fischers Michailos und des privatisierenden Engländers Bloomfield zwei Diskussionspositionen in den Roman ein. Michailos nahm als Kommunist während des Zweiten Weltkriegs am antifaschistischen Kampf teil. Er hat geholfen, Geschichte zu machen, Geschichte ist für ihn deshalb eine parteiliche Sache, früher im Kampf, jetzt in der Polemik, etwa wenn er seine Feinde in einem Atemzug zusammenbringt: «Der Türk ist wie der Deutsche.» (80) Abgeklärt dagegen ist der Geschichtsbegriff des backgammionspielenden Säufers Bloomfield: Er denkt in Jahrtausenden, Europa zum Teufel zu denken ist für ihn deshalb eine Lappalie. Er pflegt in der Tat einen «modischen Geschichtspessimismus» (65), wie ihm Moss einmal vorwirft. Gegen Ende des Buchs resümiert Moss die Auseinandersetzung mit Bloomfield so: «Bloomfield würde immerzu an die Zusammenhänge zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zwischen biographischer Erinnerung und Geschichtsbewusstsein denken, an die Kriege, und was sie zu bedeuten hatten. Mir vor Augen standen die kleinen Kriege, die Schlachtfelder des Alltags: zerbrochene Beziehungen und Freundschaften, die Trauerzüge ungelebten Lebens, versäumten Glücks und verschuldeten Elends; unbewältigt das meiste, verdrängt.» (208 f.)

Ein Blick in Faes’ ersten Roman «Webfehler» (1983) oder in den Erzählband «Der Traum vom Leben» (1984) zeigt, dass dieses Bekenntnis programmatisch ist für Faes’ ganze bisherige literarische Arbeit. Hier redet Faes, nicht Moss. Deshalb verweist gerade diese Formulierung auf die grundsätzliche Konstruktionsschwäche des Romans: Die Geschichtsdebatte verzahnt sich nicht mit der Handlung des Romans, dem Gang des Protagonisten Moss ans Ende seiner Erinnerung. Die Debatte bleibt aufgesetzt als Problem des Autors, der offenbar seinen eigenen subjektivistischen Zugang zur Geschichte als Schwäche empfindet und ihn deshalb mit objektiveren Positionen glaubt relativieren zu müssen. In Moss als herumgetriebenem Trauerarbeiter wider Willen ist diese Debatte nicht angelegt.

Lichtbahn des Kitsches

Die ersten zwei Publikationen von Urs Faes waren Gedichtbände («Eine Kerbe im Mittag», 1975; «Regenspur», 1982). Faes ist auch jetzt noch zuerst Dichter, erst dann Romancier und Philosoph. Seine Sprache hat deshalb vorab die Fähigkeit, Ort, Stimmungen, Gefühle präzis und farbig zu zeichnen. Stellt Faes jedoch seine agierenden Figuren in die präzis aquarellierten Landschaften, entsteht immer wieder ungebrochener Kitsch: Lu, die Insel-Frau, erscheint in Mossens Leben just mitten aus einem Sonnenaufgang («Du stehst geblendet in der Lichtbahn…», 192). Der Abschied zwischen Moss und Lu findet folgerichtig mitten in einem Sonnenuntergang statt: «Die untergehende Sonne färbte die kantigen Kegel und Erdschrunden der Berge rötlich ein, malte am Himmel einen Streifen Violett, der rasch ins Orange fiel. […] ‘Ich reise morgen […]. Verlang jetzt keine Erklärungen’» (159). Als Moss sein Auto in Brand gesetzt hat, kommt wie bestellt «zum erstenmal seit Wochen» Wind auf und «Minuten später klatschte der Regen nieder» (253).

Ich glaube nicht, dass Literaturproduktion von den Kitscharchetypen der Filmindustrie abstrahieren kann. Wenn Faes seine farbigen Naturbilder zur pseudo-dramatischen Kommentierung von Handlungshöhepunkten missbraucht, dann kann ich mich auch als wohlmeinender Leser nicht dagegen wehren, dass mir in den dümmsten Augenblicken ein Marlboro-Cowboy ins Bild reitet und die Dialoge im Morricone-Sound meines Hinterkopfs absaufen.

Moss als Anti-Stiller

1954 ist, wie man weiss, Anatol Stiller in die Schweiz eingereist, ein wenig versoffen, Lämpen mit dem Pass, fragende Beamte. Als ersten Satz diktierte Max Frisch dem U-Häftling Stiller in die Feder: «Ich bin nicht Stiller!» Danach wird über mehrere hundert Seiten – unversöhnlich mit Geschichte und Erinnerung – Widerstand geleistet gegen jene, die Identität herbeizwingen wollen, wo keine mehr möglich ist. Nun, 1986, reist Moss in die Schweiz ein, ein wenig versoffen, Lämpen mit dem Pass, fragende Beamte: «…und ich solle nun also mit meinem Theater aufhören und die Personalien […] angeben. […] Zur Enttäuschung der Herren […] beantwortete ich ihre Fragen mit […] ausgesuchter Höflichkeit» (267). Von Stillers Widerborstigkeit ist nichts geblieben. Für Moss ist Geschichte ausschliesslich sein Problem, ist nicht mehr gesellschaftlich bedingt, sondern individuell verschuldet. Als Hoffnung bleibt lediglich, dass es möglich sei, durch den (psychoanalytischen) Gang «bis ans Ende der Erinnerung» die (eigene) Geschichte zu überwinden: «Ich hatte die Geschichte ausgestanden» (263). In dieser Formulierung steckt für mich mehr Resignation als Hoffnung.

Urs Faes: Bis ans Ende der Erinnerung. Roman, Basel (Lenos Verlag) 1986. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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