«Anfall von geistiger Obdachlosigkeit»

«Man soll mit dem Licht der Wahrheit leuchten, ohne einem den Bart zu sengen.» (Georg Christoph Lichtenberg)

Martin R. Deans neuer Roman, «Der Mann ohne Licht», erzählt auf drei Ebenen und bleibt als Ganzes ein Fragment. Ebene 1: Im November 1986 besucht der Journalist Mario Dill den Schriftsteller Eugen Loder, um mit ihm ein Interview zu führen. Das Gespräch dauert bis zum andern Morgen. Gegen Schluss ihres Treffens liest Loder Dill seine Erzählung «Der Mann ohne Licht» auf Band vor. Dill reist ab. Eine Woche später brennt Loders Haus, der Schriftsteller kommt ums Leben, Dill kehrt mit vagem kriminalistischem Interesse zurück, um herauszufinden, was geschehen ist. Letztes Bild: Dill sucht auf dem Friedhof vergebens nach Loders Grab. Ebene 2: Nach dem Treffen mit Loder reist Dill in die Provence ans Meer, wo er bei den beiden Schwestern Mon und Marthe wohnt und an seinem Interview zu arbeiten versucht. Während eines Spaziergangs am Strand wird er von einem Hund auf eine öde Landzunge hinausgetrieben. Letztes Bild: Dill besteigt den Gipfel der Halbinsel und blickt zurück: «Das Haus der Schwestern war verschwunden.» (165) Diese zwei Bruchstücke von Erzählungen sind in kleine Abschnitte zerlegt, ineinandergeschitten und bilden die beiden ersten Teile des Buches. Der dritte Teil ist die Erzählung «Der Mann ohne Licht»: Die heimlichen Aufzeichnungen des Privatsekretärs von T. A. Edison, S. Insull.

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«Ein markanter Paradigmawechsel ist nicht festzustellen, immerhin eine veränderte Atmosphäre», sagt Beatrice von Matt in Bezug auf die «literarische Postmoderne» (NZZ, 26./27.9.1987). Jedoch: Gibt es eine literarische Postmoderne, dann gibt es auch den «Paradigmawechsel». Deshalb wird hier versuchsweise einer behauptet: Was bisher das spezifisch Literarische an Literatur gewesen ist, die fortgesetzte Suche nach dem Eigenen in der Sprache, ist am Ende. Mit dem «Tod des Subjekts» in der Philosophie ist jede Sprache anachronistisch geworden, die so tut, als könnte sie noch Ich» sagen. Für die «postmoderne Literatur» ist der Versuch, mit Sprache Eigenes zu sagen, ein müder Witz. Sie ist Abschreibeliteratur, sammelt fremdes Sprachmaterial und schnipselt es neu zusammen. «Postmoderne Literatur» ist Plagiat aus Not. Das Eigene ist tot, das provinzielle Sprachbewusstsein hat’s nur noch nicht begriffen.

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Der Schriftsteller Loder über seine Lese- und Schreibarbeit: «Auch was einem scheinbar als zufällige Lesefrucht zufällt, entpuppt sich als eigener Gedanke.» (147) Aber ist es nicht genau umgekehrt: Auch was einem scheinbar als eigener Gedanke zufällt, entpuppt sich bei Gelegenheit als Lesefrucht? Loders paradoxe Formulierung stimmt dann, wenn das Eigene so fremd ist wie das Fremde: Dann entpuppt sich das Fremde als Eigenes, weil beides ununterscheidbar geworden ist.

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Teresa de Lauretis hat Umberto Ecos Roman «Der Name der Rose» als postmodernen Roman zu fassen versucht und ihn unter anderem wie folgt charakterisiert: «‘Der Name der Rose’ kennt keine Stimme des Autors, und deshalb hat der Roman auch keine Autor-ität, denn jedes Diskursbruchstück – jede Beschreibung, jedes Ereignis, jede Romanfigur, jede sprachliche Wendung, Metapher oder Metonymie – ist ein objet trouvé. (…) Es handelt sich um einen Text, der fast vollständig aus anderen Texten gemacht ist.»[1]

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Einmal sagt Loder: «Das Ich hat sich längst aufgelöst, meine Lieblingsidee, ich weiss. Aber man darf sich mit dem Schreiben nicht vom Fortschritt abkoppeln, was denken Sie?» (149) Und wie Loder und Insull, Loders Erfindung, am «Fortschritt» dranbleiben! Sie verfrachten plaudernd und schreibend, alle Begriffe ins philosophische Jenseits, die in der «Postmoderne»-Diskussion umstritten sind: «Subjekt», «Fortschritt», «Wissen», «Politik», «Wirklichkeit», «Sprache». Und auf Dills Frage: «Dann glauben Sie auch nicht mehr an die Aufklärung?», sagt Loder «Nein» (75), selbstverständlich. Jedoch: Dass Dean Diskussionspunkte der «Postmoderne» thematisiert, macht seinen Roman noch nicht postmodern: erst die Art, wie er es tut.

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Nach Frederic Jameson leitet die «‘Verendung’ des Ichs (…) das Ende eines Stilbegriffs im Sinne des Einmaligen und Persönlichen» ein. Deshalb wird für die postmoderne Literaturproduktion das «Pastiche» zu einem zentralen Begriff. Pastiche meint eine «Kunst der Imitate, denen ihr Original entschwunden ist» zu einem Zeitpunkt, da sich das «individuelle Subjekt» und damit der «persönliche Stil» verflüchtigt. Das Pastiche ist «ausdruckslose Parodie, eine Statue mit leeren Augenhöhlen». Pastiche ist die Reihung von Vorfindbarem, das sich statt zu einem Ganzen zu einem Beliebigen verbindet.[1]

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Passagenweise liest sich Deans Roman als Pastiche, als Literatur über Literatur, als Verschnitt von bereits Gehörtem und Gelesenem: so sehr, dass selbst Dill über Loder einmal sinniert: «Das sind alles mehr oder weniger abgewandelte Zitate.» (62) Loders Person und seine Aussagen sind in der Tat aus Informationen und Interviewzitaten synthetisiert, die in den letzten Jahren von und über Bichsel, Frisch, Grass, Hildesheimer, Nizon u.a. publiziert worden sind. Montiert ist das sinngemäss Wiedergegebene so, dass das Resultat ungefähr und ohne durchschaubare Absicht bleibt. Dass Dean einen Krimi, einen «detektivischen Labyrinthroman» (Klappe) geschrieben habe, liesse sich bestenfalls mit Dills Vernehmung durch den Dorfpolizisten (120 ff.) belegen. Aber eigentlich montiert Dean nur einiges Bekannte, das «Krimi» assoziieren kann. Z. B. lebt Loder «als Schamane in einem Hundertseelenkaff» (21) «in den jurassischen Bergen, in einem Niemandsland zwischen den Sprachen» (137). Damit kommt das «kleine Nest» «mitten im gottverlassenen Jura» von Friedrich Dürrenmatt ins Spiel, das bekanntlich Lamboing heisst und der prototypische Schauplatz des neueren Schweizer Krimis ist (in: «Der Richter und sein Henker»).

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Aber wenn Dean grundsätzlich recht hätte? Wenn der Niedergang des Eigenen in der Literatur zwingend, wenn Pastiche und Literatur über Literatur die einzige Perspektive wäre? Bereits 1949 hat Theodor W. Adorno in der «Philosophie der neuen Musik», «Musik über Musik» konstatiert: «Das Subjekt, das musikalisch nicht länger etwas von sich aussagen soll, hört damit auf, eigentlich zu ‘produzieren’, und begnügt sich mit dem hohlen Echo der objektiven musikalischen Sprache, die nicht seine eigene mehr ist.» Der Grund für die Pastiche-Technik in der Musik sei «technischer Art», «die Möglichkeiten von ‘Erfindung’ (…) sind fast zählbar» geworden: «Das schmale Material war so ausgeschöpft, dass kein Einfall mehr gedeihen konnte, der nicht irgend schon dagewesen wäre.» Wenn heute die Literatur an diesem Punkt angelangt wäre? Wenn heute das sprachliche Material ausgeschöpft wäre, die denkbaren Topoi ausgeleiert, die möglichen und unmöglichen Geschichten verbraucht, so dass der eigene Einfall keinen Raum mehr fände? Wäre dann noch etwas anderes möglich als Literatur über Literatur? Loder: «Das Glück des Lebens liegt ja nicht in den schnellen Antworten, sondern in den richtig gestellten Fragen» (147). (Wo Dean bloss dieses Bonmot wieder abgeschrieben hat.)

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Martin R. Dean ist ein überdurchschnittlich belesener Zeitgeist-Surfer. Ohne einen eigenen, originellen Gedanken zu entwickeln, erweckt er den Eindruck, in der Welt des Überbaus überall zu Hause zu sein. Er nimmt als Form ein modern scheinendes Fragment, einen postmodernen Mann ohne Licht als Protagonisten und hebt den Unterhaltungswert des Bildungsschwulsts mit Sex in der Provence und Krimi auf dem Lande. Die Bruchstücke sind so ausbalanciert, dass mit dem besten Willen nicht entschieden werden kann, ob der Autor die Aufklärung gegen die Postmoderne oder die Postmoderne gegen die Aufklärung verteidigt. Vermutlich tut Dean beides nicht. Gemeint ist nicht der wertende Diskurs, sondern das schillernde Sprachspiel. Wer will denn heute noch irgendetwas gegen irgendetwas anderes verteidigen? In einer «Welt ohne Ich [erschafft] der Schöpfer, um sich selber zum Verschwinden zu bringen» (137). Seine «Zustände» habe Loder als «Anfall von geistiger Obdachlosigkeit» (116) bezeichnet. Mag sein, hier ist Dean aus Versehen eine eigene, autobiografische Formulierung gelungen.

[1] Die zitierten Aufsätze von Teresa de Lauretis («Das Rätsel der Lösung – Umberto Ecos ‘Der Name der Rose’ als postmoderner Roman») und Frederic Jameson («Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus») finden sich in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe [Hrsg.]: Postmoderne – Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1986.

Martin R. Dean: Der Mann ohne Licht. Roman, München/Wien (Hanser Verlag) 1988.

In einem Brief an meinen damaligen WoZ-Redaktionskollegen Andreas Simmen hat Martin R. Dean am 21.6.1988 Bezug genommen auf diese Rezension. Die entsprechende Passage lautet: «Zur Kritik meines Buches durch Fredi Lerch: wichtig wäre eben eine sorgfältigere Erörterung des Begriffs Postmodern. Pm ist ja nicht nur ‘Plagiat aus Not’. Es gibt da höllisch viele, aber interessante Definitionen. Pm ist – für mich – vor allem ein Spiel mit (mimetischen) Modellen. Da hinein gehört das Zitat, obwohl ich gerade keinen der angeführten Autoren zitiere. (Nur ein Satz Zitat, aber von Pavese.) – Also, da stimmt halt vieles nicht, was Fredi L. schreibt. Wenn pm Literatur – was immer das dann auch ist – eo ipso reaktionär wäre, was ist dann mit Thomas Pynchon, mit Cortazar (Rayuela), mit Manganelli, Gerold Späth und vielen anderen. Absehen davon, dass ich versuche, das Verschwinden des Menschen durch die technische Strategie, durch eine maschinelle Kultur aufzuzeigen. In einem Roman geht es dann aber nicht um das Behaupten von Positionen, sondern um das Sichtbarmachen von Prozessen und Zusammenhängen. Ob das nun einfach so ‘beliebig’ ist? – Die kleinen, persönlich angereicherten Seitenhiebe von F.L. kann man vergessen. Ihm unterläuft da selbst ein Widerspruch (aber kein dialektischer!): entweder bin ich ein ‘belesener Zeitgeist-Surfer’ oder dann bin ich halt ‘geistig obdachlos’, aber sicher nicht beides, oder?»

[Martin R. Dean hat gegengelesen und mit Mail vom 19.5.2013 sein «Plazet» gegeben für die Dokumentierung des obigen Briefausschnitts.]

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