Rasch verwehter Knall über der Einöde

Die Ernte ist sehr gross: Literatur einheimischer Produzenten und Produzentinnen ist in diesem Frühling auf den Markt gekommen wie schon lange nicht mehr – es ist tüchtig geschrieben worden. Gut gemeint alles, solid gedrechselt vieles, gut gesagt Verschiedenes und einiges exakt gedacht. Zu bestaunen ist der Fleiss dieses Handwerks ohne goldenen Boden, das im stillen Kämmerlein werkt und wirkt, selbstzufrieden vor sich hinleidend, ohne sich gross am WasfürwenwozuzuwelchenBedingungen abzuquälen; eines Handwerks, sage ich, das den Buchmarkt mit Öffentlichkeit verwechselt und als Schicksal fasst und nichts so sehr hasst wie dumme Fragen.

Vorgeplänkel: Erntedank

Darum Gerechtigkeit! Jenen, die die mirakulöse Verwandlung vorliegender Erzählungen in die Warenförmigkeit von präzis sechs Büchern ermöglicht haben, wird hier zuerst gebührend Dank erstattet: Adelheid Duvanel und Gertrud Leutenegger danken dem Luchterhand Literatur- resp. dem Suhrkamp Verlag und beide zweifellos ihrem günstigen Schicksal, das sie in die Fänge von richtig grossen deutschen Verlagen getrieben hat, welche bekanntlich unabdingbar nötig sind, um in der Schweiz berühmt zu werden. Martin Loosli dankt nicht; sein Buch ist als erstes in der Reihe Sisyphos des Zytglogge-Lektors Willy Schmid erschienen, der für den Sisyphos-Preis der Stadt Bern bereits im letzten November gedankt hat. Klaus Merz jedoch dankt der Pro Helvetia und dem Ammann Verlag. Linus Reichlin dankt der Stadt Zürich, dem Schweizerischen Schriftsteller-Verband, dem Migros Genossenschafts-Bund und dem eco-Verlag. Hanns Ruthishauser dankt der Präsidialabteilung der Stadt Zürich, dem Schweizerischen Schriftstellerinnen-Verband und dem Rotpunktverlag.

An dieser Stelle breche ich diese gewiss originelle Einleitung vorzeitig ab, wird sie doch allenthalben statt gewürdigt übel vermerkt werden, weil die hiesige Dichtzunft von der Einigkeit beherrscht wird, Literatur bestehe nicht aus Karton, Leim und Druckerschwärze, sondern aus purlutterem Geist, welch selbiger noch dann wehe, wie er wolle, wenn andere schon in ihm herumblättern, nachdem sie das Buch gekauft haben. Kurz: das danksagende, abhängige, dafür marktgängige «Buch» hat mit dem literarisierenden «Geist» aber auch gar rein nix zu tun, denn dieser ist – wir definieren – reines Bewusstsein enthobenen Seins: unabhängig und kritisch. Im Übrigen macht nur Glauben selig und Literatur darf Schein sein.

Und nun zur Sache!

Männertexte: Knalleffekt

Kein Blick auf eine behaftbare Welt, keine gesellschaftlich kontroversen Themen, keine historischen Fixpunkte. Erzählt werden Geschichten über kleine Leute, deren mittelmässige Alltäglichkeit mit der versuchten Sprachkür ihrer Erfinder aufgemotzt wird zu Literatur. Richtlinien für das saisongerechte Was geben Warenästhetik und Themendesign: Schmale, auf wertvoll gestylte Bändchen mit Vierfarbenhelgeli auf dem Umschlag sind gefragt. Inhaltlich machen sich individuelle Emanzipationsversüchlein immer gut (politische Zusammenhänge ausblenden!); minimale Ausbrüchlein sind nett; Entfremdungen, Abschiede und Einsamkeiten: Dauerbrenner. Liebe? Ja, gehaucht bis handfest, Tendenz pflegeleicht scheiternd. Wichtig: Süffiger Mix, eigener Ton als Markenzeichen, gelehrte Montage und ran an die Schreibmaschine. Das Wie ist das Kriterium für Literatur.

Die 15 Erzählungen von Klaus Merz (* 1945) zum Beispiel, «Tremolo Trümmer», sind gehobene sozialdemokratische Aquarellkunst: den Blick nach unten gerichtet, dem Lob von oben verpflichtet. Merz redet fortgesetzt über kleine Leute, aber in keiner Passage von ihnen oder gar für sie. Ob der Ich-Erzähler im Stand des Wagenführers Kalbermatten mit der Talbahn fährt, ob sich der Rucksackbauer Paul und der Alt-Lehrer Peter ans Lebensende saufen, ob – in der Titelgeschichte – der abgestürzte Flugpionier Dotter und seine Schwester Krötchen, die dilettierende Sopranistin, gezeichnet werden oder der Biologielehrer Keller, der die Religionslehrerin Martha schwängert, immer ist vorab Merzens Sprachkunst, seine subtile Wortwahl, seine bildungsbeflissene Konstruktion gemeint, wird um Aufmerksamkeit gebeten für die literarische Pinselkunst der gehauchten Farben und schwimmenden Formen. Der Raffinesse und Delikatesse dieser Texte wird im innerliterarischen Diskurs zweifellos etwelches Lob zu zollen sein. Kalbermatten würde dieses Buch nicht lesen.

Martin Loosli (* 1956) erzählt in seiner Erstlingsgeschichte «Zündschnur» aus dem Leben des Hilfssprengers Kaltenacker, eines kleinbürgerlichen Hiobs, der früher Verdingbub, Knecht, Zuchthäusler und Kanalarbeiter gewesen ist, seine Frau verliert, weil sie aus glücklicher Ehe heraus nach einer Vergewaltigung Selbstmord begeht, eine Tochter hat, die ihr Geld als Hure verdient, der demnach sozusagen zwangsläufig sein Erspartes in ein bekennerhaftes Feuerwerk inkl. Sprit für die Selbstverbrennung investiert. Dass Looslis Text – moralgesättigter Sprachdurchfall – «Arbeiterdichtung der Sonderklasse» sei, verdient Erwähnung als dümmste Klappentext-Formulierung der Saison. Looslis Sprache ist uneinheitlich, unpräzis, passagenweise unverständlich. Seine vermutlich literarisch tönen wollenden, geschachtelten Satzungetüme hat Reinhard Stumm treffend als «Wortverhaue» bezeichnet (BaZ, 29.4.1988). Obschon Loosli einen Arbeiter als Protagonisten wählt, hat der Text nichts mit Arbeiterdichtung zu tun. Seine Essenz ist Looslis unausgegorenes Moralisieren, sein larmoyantes Hiöbelen. Des Kritikers Trost an den geplagten Autor: Auch wir kennen nichts Schlimmeres als diese Welt.

Als Parabeln auf die Korrumpierbarkeit durch Macht habe ich die beiden Erzählungen unter dem Titel «Wir Farbenblinden» von Linus Reichlin (* 1957) gelesen. Der Farbenblinde Widmer aus Zürich wird von Oberst Otmaro Sanchez von der bogotanischen Luftwaffe berufen, an Aufklärungsflügen teilzunehmen, um mittels seiner speziellen Sehfähigkeit getarnte feindliche Stellungen im Dschungel auszumachen. Der durch seine besondere Wirklichkeitssicht Marginalisierte lässt sich durch gutes Zureden ködern – «Wir brauchen Sie» – und dazu missbrauchen, Bombenabwürfe zu dirigieren auf andere Marginalisierte. In der zweiten Geschichte, «Kristina Colomb», werden die menschenverachtenden Vorbereitungen zur Entdeckungsfahrt Richtung Westen anno 1492 dargestellt. Um eine Utopie als Projekt realisieren zu können, so die Idee, verlange die Realpolitik den vollständigen Verrat dieser Utopie, hier die Entdeckung des Paradieses: «Und müsse sie nun Zipangu ansteuern, aufsuchen, finden, schon deshalb, weil sie vergessen habe, warum.» Aber Reichlin will nicht nur erzählen, er will Literat sein, deshalb verfällt er auf sprachliche Manierismen. Während in der ersten Geschichte der durchgehende Plural majestatis, in dem Widmer erzählt, noch angehen mag, weil er für dessen Minderwertigkeitskomplex stehen kann, versteift sich Reichlin in der zweiten Geschichte auf eine Interpunktion der verhackten Sätze («Und sei die Erde der Sonne dort so nahe, dass die Hitze alles Wasser verdampfe. So dass die Schiffe im Schlamm steckenbleiben. Und man mit der Zeit verbrenne.») und auf umgestellte Satzanfänge (für «Die Erde sei…» steht «Und sei die Erde…»). Diese Konstruktion appliziert er pro Seite mehrmals, im ganzen einige hundertmal, und das ist doch sehr ennuyierend und glauben wir. Dass es auch andern so geht.

Ob mittels wolkender Subtilität (bei Merz), bombastischen Sprachwucherungen (bei Loosli) oder mühsamen Sprachmanierismen (bei Reichlin): Literarische Männersprache wähnt sich offenbar literarisch erst durch das Zelebrieren formaler und sprachlicher Effekte. Und genügen die nicht, wird zum inhaltlichen Knalleffekt gegriffen: Loosli sprengt am Schluss seines Textes Protagonist inkl. Tochter in die Luft; Merz tut ein gleiches in der Titelgeschichte mit einem Haus, das prompt in tremolierende Trümmer zerfällt und versetzt seine Geschichten ansonsten diskret mit Selbstmord, Unfalltoden und sonstigen Herzstillständen; Reichlin krönt seine erste Geschichte mit der detonierenden Bombe im Dschungel, die zweite mit einem gotteslästerlich gekreuzigten Bauernmädchen in einem Schuppen am Hafen zu Palos.

Frauentexte: Einsamkeit

Den «Ort der Bewusstseinsveränderung und der inneren Wandlung» zeige Gertrud Leutenegger (* 1948) in ihrem neuen Buch «Meduse» findet Pia Reinacher («Weltwoche», 14.4.1988). Christoph Kuhn tippt auf das Ende der Kindheit, das referiert werde, auf «Schnitt», «Trennung», «Übergang» («Tages-Anzeiger», 13.4.1988). Da Leuteneggers Verknüpfung von Wirklichkeitsfragmenten mittels Märchen- und Traumlogik breiten Raum lässt für Interpretation, schlage ich vor: «Meduse» ist eine psychologische Novelle und behandelt die Abtötung des Kinderwunsches der Ich-Erzählerin: Zusammen mit Fabrizio, mit dem sie ihre Sommer jeweils im sterbenden Tessiner Dörfchen Rovina verbringt, steigt sie mit Fabrizio eines Abends zu einem Wäldchen hoch über dem Dorf auf: «Nur dieser entlegene Ort schien meinen freudigen fliegenden Ahnungen zu entsprechen.» Der Aufstieg führt nicht zum Höhepunkt: Oben angelangt entdecken die beiden die eingestürzte Nevera – ein Kühlschacht, in dem früher mit hartgetretenem Schnee die Alpmilch bis zum Abtransport frisch gehalten wurde. Vor diesem zerstörten Fruchtbarkeitssymbol erscheint der Erzählerin dreimal «das Kind». Das erste Mal «mit weitoffenen Augen, in denen alle Versprechungen des Lebens sich so durchsichtig spiegelten», das zweite Mal «lebte noch einmal das Kind in mir auf, mit der übermächtigen Gewalt eines Sterbenden», das dritte Mal «zeichnete das Erzittern der Farne des toten Kindes Schatten in mich». Damit beginnt «mein unaufhaltsamer Weggang von Fabrizio» (71ff.). Gegliedert wird diese Geschichte mit einem Rahmen: Die Erzählerin am Rand des Meeres, «aus dem wir alle kommen», beobachtet eine angeschwemmte Meduse, eine Qualle mit verletzenden Nesselfäden, «gross wie ein Kindskopf», die sie auf den Rücken kippt: «Offen klaffte der Mund zwischen den wulstigen Rändern, die sogleich heftig anschwollen» und der sie am Schluss des Buches, als die Meduse abgetrieben wird, ins Meer folgt, «um wiederzugewinnen, was ich verlor».

«Ich halte es für absolut unsinnig, in der gegenwärtigen Zeit Utopien, Entwürfe anzubieten», sagt Hanna Rutishauser (* 1950) zu ihren 16 Erzählungen, die sie unter dem Titel «Das Geländer» veröffentlicht hat. Rutishauser zeichnet sozial Gefährdete, provisorisch Niedergelassene, die wissen: «In der Heimat ist nie jemand krank», Sich-Wegträumende («Die Infektion hat keine Chance gegen diese Reise»), Abgereiste, die «emigriert» sind und in der «leere[n] Strukturlosigkeit» ihrer «Freiheit» «sich den Tag vom Leib halten müssen». Jane, die unglücklich Verliebte; Kathrin, die namenlose Schriftstellerin; Judith, die Joggerin; Ines, die neue Mieterin: All diesen Frauenfiguren ist gemeinsam, dass sie offenbar genug Geld haben zum Leben, aber zusehends entfremdet werden von ihrem sozialen Netz. Grauer Weltschmerz bildet die monotone Basslinie, über der Rutishauser mit kalter Melancholie ihre psychologisch präzisen Beobachtungen reiht. «Aus bürgerlichem Haus, aus einer entwaffnend heilen Welt zu kommen, kostet Kraft», hat der «züri-tip» (29.4.1988) über sie geschrieben. So haben eben alle ihre Probleme.

Härter, verzweifelter, endgültiger sind die Bilder von Entfremdung und Vereinsamung, die Adelheid Duvanel (* 1936) in den 36 Kürzestgeschichten ihres neuen Buches «Das verschwundene Haus» entwirft. Die Themen von Duvanel, die (vgl. «Der kleine Bund», 13.2.1988) seit dem Tod ihres Mannes in Basel allein und in beengten Verhältnissen lebt, sind: Beengte Wohnverhältnisse, Einsamkeit, Trauer, Depression, Furcht, Angst, Entsetzen, Tod. Abwechselnd wählt sie eine Frau oder einen Mann (seltener ein Kind), um aus ihren Perspektiven mit ganz einfachen Sätzen ihren ganz einfachen Horror zu beschreiben. Zum Beispiel Willibald: «(Er) denkt, dass der Mensch sich ein Leben lang bemühe, sich zu erkennen zu geben, und doch von niemandem erkannt würde. Und ein Leben lang strengt er sich an, sich der Einsamkeit und der Menschen zu erwehren, da Einsamkeit und Menschen zerstörerisch sind.» Duvanels anonyme Vorstadtwelt ist von einer desillusionierenden Hoffnungslosigkeit, der fast keine Wörter mehr geblieben sind: «Der Tag wird kommen, an dem ich den Leuten gesagt haben werde, was ich sagen will.»[1]

Leuteneggers Abschiede, Rutishausers Entfremdungen, Duvanels Einsamkeiten sind angefüllt mit verinnerlichter Opferhaltung und fatalistischer Selbstverleugnung, jedoch kommen sie weitgehend ohne sprachmanieristische Knalleffekte aus. Ihre Sprachen sind weniger abgespalten von den Zwecken, denen sie dienen: Sie sind funktional, seriös, brav und gepflegt, unheimlich gepflegt. Es sind Sprachen, die schon immer ein wenig soignierter erscheinen mussten, damit sie der Lehrer vor der Klasse vorlesen liess; Gymnasiastinnensprachen, gearbeitet, geschliffen, poliert, perfekt gehandwerkt, Musterschülerinnensprachen, die jederzeit auf die Maximalnote angewiesen zu bleiben scheinen; Sprachen, die – obschon sie sich dem sozialen und existentiellen Horror mutiger nähern als jene ihrer Kollegen – merkwürdig auf Gefälligkeit geschminkt bleiben. Als hätte noch die Frauensprache Beine, die vor den lüsternen Äuglein von Lektoren, Verlegern und Kritikern bestehen müssten.

Kontroverse Wirklichkeit

In den vorliegenden Büchern reden die Autorinnen von Männern, die Autoren über Frauen: Es gibt eine geschlechtsspezifisch kontroverse Perspektive auf die soziale Wirklichkeit. Machtlose Frauen sehen Männer anders, als machtlose Männer die Frauen.

Und zwar so: Sind die beschriebenen Beziehungsstrukturen gefährdet – und das sind sie, sofern noch vorhanden, allesamt – droht aus Frauensicht das soziale Vakuum, droht Einsamkeit. Der selbstbestimmte Weg ins Alleinsein ist dabei noch der einfachste, etwa wenn (bei Leutenegger) der Kinderwunsch als gemeinsame Perspektive zerbricht. Heikler wird es, wenn die Frau Nähe möchte, aber im Zimmer des Typen festzuhalten wagt: «Es gibt noch ein Problem. […] Die Verhütung.» Der Typ fingert daraufhin lange an «der bunten Pappschachtel» herum, bevor er sagt: «Ich kann nicht»: Er hat’s nicht nötig. «Ist es ein Glück oder ein Unglück», denkt die Frau, die zum ersten Mal seit zwei Jahren mit einem Mann zusammengewesen wäre (Rutishauser: «Regungslos»). In allen drei Büchern kommen übrigens Kinder vor: Bei Duvanel und Rutishauser als Protagonisten einzelner Geschichten, bei Leutenegger – nach meiner Interpretation – als Motiv, als gescheiterte Perspektive.

Für schreibende Männer sind Kinder kein literarisches Thema und Frauenbeziehungen eine Frage einer immer irgendwie reparablen Sozialmechanik: Eine Frau findet sich immer. Dergestalt abgefedert schweifen ihre Hetero-Blicke übers soziale Netz. Der Biologielehrer Keller zum Beispiel geht (bei Merz) zur Religionslehrerin Martha, «als käme er übers Wasser», als leibhaftiger Heiland: «Sie öffnete ihre Arme und erschrak erst, als er seinen Stachel entschlossen in ihr erstauntes Fleisch trieb.» So schwängert Merz diese Frauenfigur und findet für die Schwangere meisterhaft recherchierten Trost: «Sie legte ihre beiden Hände auf die fester gewordenen Brüste und spürte, wie gut ihr das tat.» Wenn sich Loosli über die Tochter seines Protagonisten auslässt, verfällt er rettungslos dem Hure-Madonna-Klischee. Damit entpuppt er sich in diesem Punkt als veritabler Nizonist, und das ist auch etwas: «Nach der Lehrabschlussprüfung, die sie knapp bestanden hatte, sah man sie zweieinhalb Jahre nicht mehr. Die zweite Lehrzeit ihres selbstgewählten Berufes war hart und die Gebete, die sie in liegender Stellung stammelte, von Schluchzen begleitet, das sich wie Stöhnen anhörte.» (Nizon hätte hier allerdings einen korrekten deutschen Satz gemacht.)

Raffinierter ist Reichlin: Er ist ein belesener Feminist, kennt Bert Brantenbergs «Die Töchter Egalias» und weiss um die reizvollen Pointen, die sich drehen lassen aus der geschlechtsspezifischen Umkehrung der Machtverhältnisse, wie sie sich ihn der Sprache spiegeln. Und flugs dreht Reichlin: «Die Brusthaare! Wie der Bart Josefs. Sie hat die Männerbrüste lieber glatt. Wie Pfirsiche. / Er wohnt wie eine Fürstin. / Nun wird er selber erstochen von den Agentinnen Isabellas.» Vor allem aber macht er aus Christoph Kolumbus eine Kristina Columb, die ihr Kind sitzen lässt, mischelt, intrigiert und mordet, um zu ihren Expeditionsschiffen zu kommen. Was will uns der Dichter damit sagen? Will ein mildtätiger Mann den Frauen eine Heldin erdichten als Trost, dass es ein Mann war, der Amerika entdeckte? Oder möchte er die Frauen darüber belehren, dass sie auch korrupte und gewalttätige Ekel würden, liesse man – oder eben mann – sie an die Macht?

Was ich feststelle: Es ist literarisch läppisch, wenn sich Merz paternalistisch über Frauenbrüste ergeht, Loosli seine Probleme zu einer betenden Hure verdichtet oder Reichlin den männlich-radikalfeministischen Kalauer forciert. Jedoch: Als kritisierender Mann stehe ich nicht ausserhalb, sondern bin selber Teil dieser Widersprüche: Es könnte scheinen, ich verteidigte als Softie die Frauen- gegen die Männersprache. Deshalb präzisiere ich: Für mich ist nicht die Tatsache entscheidend, dass Autoren teils offen sexistisch über Frauen reden – hier sollen sich die Frauen gefälligst selber wehren –, sondern die andere, dass die Wirklichkeitssicht der Autoren nicht überzeugt, weil sie, in Sprache umgesetzt, unreflektiert geschlechtsspezifische Machtverhältnisse reproduziert; dass – kurzum – die Autoren Ideologie für Literatur ausgeben. Und dies ist wohl zu kritisieren, denn Literatur soll mehr sein als Schein, und Glauben macht nicht selig, sondern blind.

Die Bücher:

Adelheid Duvanel: Das verschwundene Haus. Erzählungen, Darmstadt (Luchterhand Literaturverlag) 1988.

Gertrud Leutenegger: Meduse, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1988.

Martin Loosli:  Zündschnur. Ein wunderbares Buch, Bern/Bonn (Zytglogge) 1988.

Klaus Merz: Tremolo Trümmer. Erzählungen, Zürich (Ammann Verlag) 1988.

Linus Reichlin: Wir Farbenblinden. Zwei Erzählungen, Zürich (eco Verlag) 1988.

Hanna Rutishauser: Das Geländer. Erzählungen, Zürich (Rotpunktverlag) 1988.

 [1] Adelheid Duvanel hat sich acht Jahre später, in der Nacht vom  7. auf den 8. Juli 1996, das Leben genommen.

Aktuell

Zum Projekt

 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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