Arbeit an der Sprache

Es ist ein Unglück, dass Hans Rudolf Hilty seine Kolumnen, die er «Zuspitzungen» nennt, im grossen «Tages-Anzeiger» publiziert. So kann der Tagi das Buch nicht selber gebührend vorstellen, das der Limmat-Verlag mit Hiltys Kolumnen im letzten Herbst gemacht hat, und die restliche Presse, so scheint es, verschweigt das Buch in der Meinung, Hilty habe im Tagi schon genug Öffentlichkeit. Dabei müssten alle, die einmal einem Schriftsteller, der diesen Namen verdient, bei der Arbeit zusehen und zuhören möchten, Hiltys Kolumnen unbedingt einmal (oder mehrmals) im Zusammenhang lesen. Nicht entgehen würde ihnen dabei, dass Schriftstellerei nicht bloss das Kunsthandwerk jener meint, die mehr oder weniger schiefe Geschichtchen zusammenschnurpfen in der Hoffnung auf Applaus, sondern dass Schriftstellerei Arbeit ist: Arbeit an der Sprache.

«Dass die Spurensicherung in verschütteten literarischen, historischen, ethnologischen Tatbeständen, eine Spurensicherung, die vom Journalisten und Schriftsteller ein Interesse fordert, das mit den Methoden der Archäologie oder der Kriminalistik vergleichbar sei: dass eine solche Spurensicherung spannend sein könne, Spass machen könne, und dass der Schreiber hoffe, etwas von dieser Spannung und diesem Spass auch auf den Leser zu übertragen – das habe ich immer wieder erfahren und gesagt.» Diese Sätze, mit denen Hilty eine seiner Kolumnen einleitet, könnten als Motto über dem ganzen Buch stehen, das Urs Herzog im Nachwort so charakterisiert: «Dies, dies alles – zu später, bald nächtlicher Stunde – ein Unterfangen noch immer der ‘Aufklärung’». «Aufklärung» – und das aufzuzeigen ist die Stärke von Hiltys Texten – findet aber nicht nur auf der Ebene der Informationsvermittlung statt. Aufgeklärter ist nicht, wer mehr Infos im Kopf hat (der ist höchstens abgebrühter, also meistens zynischer). «Aufklärung» ist eine Frage der aufklärenden Vernetzung von Information und diese ist eine Frage der Vermittlungsmethode.

H.R. Hilty fischt aus der Flut alltäglich überquellender Fakten das, was ihm auffällt; zum Beispiel, dass vor etwa zwei Jahren plötzlich behauptet wurde, die Formulierung «Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin» stehe am Anfang eines Brecht-Gedichts (obschon dies nicht stimmt). Von diesem Fund ausgehend beginnt er nun seine Kreise zu ziehen, assoziiert quer durch sein grosses Wissen hindurch, präzis recherchierend, dann wieder beschaulich, ab und zu gar betulich, stets ohne Eile, ohne Besserwisserei, ohne Polemik. Endgültig sind seine zugespitzten Meinungen nie, aber besser begründet als die meisten, die öffentlich werden. Ob er über das Phänomen des Föhns nachdenkt oder eine neue Übersetzung für die Seligpreisungen vorschlägt («Gott will den aufrechten Gang!»), ob die Rede ist vom Offiziersschiessen auf Fotos nackter Frauen oder vom sterbenden W. M. Diggelmann, immer denkt sich Hilty ehrlich vorwärts, stellt Argumente zur Diskussion, sucht neue Zusammenhänge (die nicht selten die vergessenen alten sind); immer wieder zu den einzelnen Begriffen, zum Material seines Metiers, zurückkehrend: Was meint das einzelne Wort? Wozu taugt es, wozu nicht?

Wirklich, es ist ein Unglück, dass Hilty seine Kolumnen im «Tages-Anzeiger» erscheinen lässt: Auch WoZ-Schreiberinnen, WoZ-LeserInnen bräuchten Hilty-Kolumnen, die ihnen immer wieder die grauenhafte Hohlheit und Plattheit unreflektierter sprachlicher Schablonen, Versatzstücke und Floskeln bewusst machen würde (denn sicher ist: so wie eineR redet und schreibt, so denkt sie/er); immer wieder aufzeigen würden, dass dort, wo das präzise Wissen aufhört, nicht heillos-ungefähres Palaver (z.B. Politsektenslang), sondern viel unspektakulärer das Schweigen und das Weitersuchen beginnen müsste. Vorderhand haben wir von Hans Rudolf Hiltys Arbeit an der Sprache zu lernen, auch wenn er nicht immer explizit unsere Sprachunbewusstheiten meint.

Hans Rudolf Hilty: Zuspitzungen, Zürich (Limmat Verlag Genossenschaft) 1984.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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