Von der Schurni-Ethik

«Journis dürfen alles. Oder doch nicht? Fragen zur journalistischen Ethik». Das war das Thema des «15. Berner Medientags». Er fand am letzten Samstag statt, und der Moderator Roland Jeanneret hat ihn mit dem Bonmot eröffnet, das bereits seine Quintessenz war: «Ethik muss man sich letztlich auch leisten können.»

Über «Journalistische Ethik» redet man immer häufiger und immer lieber, seit man sie von der praktischen Arbeit abgespalten und zum Unterwürfigkeitsritual für ArbeitnehmerInnen gemacht hat, die von ihren Patrons kaum noch ein mitleidiges Lächeln erhalten, wenn sie wegen eines neuen Gesamtarbeitsvertrags vorsprechen.

Man stelle sich vor, Maurer würden mit Richtlinien genervt, wie die Kundschaft des Patrons ethisch korrekt zu behandeln sei. «Gib mir anständige Arbeitsbedingungen», würde der durchschnittliche Maurer sagen, «damit ich meine Arbeit richtig machen kann. Wenn dir an meiner Arbeit etwas nicht passt, entlässt du mich sowieso.»

Im Gegensatz zu den Maurern lassen sich Schurnis von Ethik beeindrucken und wehren sich, indem sie sagen: Zuerst das Geld, dann die Ethik. Zugespitzt: Ohne anständigen Lohn keine Garantie für Anstand bei der Arbeit. Weiter zugespitzt: «Entweder schaffen wir die Ethik ab oder die Zeitungen» (so am Medientag Bernhard Giger, stellvertretender Chefredaktor der «Berner Zeitung»).

Es gibt zwei Arten von schwierigen ethischen Problemen: Die einen sind unlösbar, zum Beispiel: Wie lebe ich im Angesicht meines Todes? Die anderen sind zwar zu lösen, aber die Lösung ist unlebbar – das heisst: entweder der richtige Gedanke oder das richtige Leben. Zum Beispiel im Journalismus: Entweder setze ich auf den Komfort des branchenüblichen Lohns bei fester Anstellung und versuche auf dieser Grundlage, ethisch vertretbar Journalismus zu machen. Oder ich arbeite nach meinen nicht verhandelbaren ethischen Grundsätzen und versuche auf dieser Grundlage, im Beruf zu überleben. Ein Drittes sehe ich nicht.

Diese Umkehrung des Arguments hat am «Berner Medientag» nur der «Bund»-Redaktor Rudolf Gafner laut angedacht. Er sagte vor dem Hintergrund des gefährdeten «Berner Modells» («Bund» und «Berner Zeitung» unter dem gemeinsamen Dach der «Espace Media Groupe»): «Irgendeinmal kommt die Frage nach neuen Medien – dass wieder Journalismus aus Idealismus gemacht wird, und nicht um Geld zu verdienen.» Konkret also: Kohärenter ethischer Anspruch oder existenzsicherndes Einkommen. Diese Realität ist das tatsächliche Dilemma der journalistischen Ethik. Der Rest ist Cüpli-Palaver.

Meine Berufsethik ist meine Sache. Punkt. Als seinerzeit die Gewerkschaft «comedia» von mir verlangte, die «Rechte und Pflichten» des Presserats zu unterzeichnen, bevor sie mich in das Berufsregister BR aufnahm, wurde ich aus doppeltem Grund wütend: zum einen wegen der Erpressung, zum anderen, weil ich mich um dieser standespolitischen Zugehörigkeit willen als erpressbar erwies.

Dass diese «Rechte und Pflichten» vom «Schweizer Presserat» stammen, machte die Sache nicht besser: Dieses Gremium begründet ja seine ethischen KollegInnenschelten in konkreten Fällen mit der Notwendigkeit zur «Selbstregulierung» der Branche. Ethik also als standespolitische Schutzbehauptung, in dieser Branche hackten sich die Krähen wenn nötig tatsächlich die Augen aus. Das ist so wahr wie überall, wo der Bock zum Gärtner gemacht wird: Beträgt die Dunkelziffer 99 Prozent, ist es verlogen, jedes hundertste Mal «Mea culpa» zu rufen.

Das journalistische Ethik-Palaver hat den Zweck, den Staat aussen vor zu halten. Suggeriert wird, gestresste Schurnis mit ethischen Standards zu schikanieren produziere nicht die Schere im Kopf, sondern «Qualitätskontrolle» – die vernünftigen Leitplanken des staatlichen Presserechts jedoch führten geradewegs zur Zensur. Warum vertrauen die Schurnis eigentlich nicht einfach dem Gesetz jener Demokratie, die sie als vierte Gewalt auf dem Pfad der Tugend zu leiten sich berufen fühlen?

PS. Ich bin presserechtlich vorbestraft.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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