WINTERSTADT – WINTERWELT

Um es vorwegzunehmen: das Unbedeutendste am Film ist die Story: Charlie, ursprünglich von Amsterdam kommend und auf dem Weg in den Süden in der Winterstadt Bern sitzengeblieben, Hänger und Alkoholiker, lernt in einer Beiz Lena, Schauspielerin auf der Durchreise, kennen. Gezeigt wird die kurze Beziehung und der hässliche Abschied, der für Charlie in Unmengen Alkohol und einem gescheiteren Selbstmordversuch endet.

Viel wichtiger als was gezeigt wird, ist, wie es gezeigt wird: Mit Bildern, die so präzis sind, dass ich immer wieder leer schluckte, wird die Atmosphäre in der Winterstadt gezeigt, wird Versteinerung, Kälte, Packeis sichtbar: Strassenbilder, Trams und Verkehr; endlos winterliche Fassaden werden im Ton von der Sprechenden Uhr überlagert; Lena, aus dem Tram stürzend, hinter ihr her der Kontrolleur; ein stadtbekannter Strassenmusiker, Geige spielend vor dem Kino «Capitol», Totale über die Nydeggbrücke stadtwärts, dazu im Ton eine Schnulze mit dem Text: «Wenn ich gross bin, baue ich ein Schiff und fahre damit übers Meer»; Lena, einen Passanten um eine Zigarette bittend, Antwort: «Was fallt Ihne ii, mi do aazbättle?»; Punks, durch eine Kasse des Marktgass-Migros stürmend; ein unbeachteter Fahrplanverkäufer im Strassengewühl: «Dr nöi Fahrplan… Dr nöi Fahrplan…»; ein einsamer Besoffener, der in der Beiz torkelnd eine junge Frau anspricht: «Modi, bisch e Schöni, i wott di hürate»; grölende SCB-Fans auf der nächtlichen Kirchenfeldbrücke; Charlie und Otto, der ihm vom Heimweh erzählt, beide schwer betrunken, vor der Volksbankfiliale in der Bahnhofpassage, in öffentlichen Stühlen hängend, und neben ihnen, aufrecht, korrekt, ein junger eidgenössischer Ignorant, lakonisch Erdnüsse fressend.

Das sind die Bilder, die einfahren; Bilder aus einer Stadt, in deren Lauben die Gletscherzungen des unmenschlichen Kommerzes strömen; Bilder aus einem Nordpolland im Mordwohlstand; Bilder, die weit über die Story hinausweisen: «Die Stadt hat mir Ruhe versprochen. Sie hat ihr Versprechen verdammt gut eingehalten», sagt Chariie einmal.

Als Lena Charlie verlassen hat, steht er in seinem Zimmer, weintrinkend, spricht einen seiner Monologe auf Band: «Dasitzen. Einfach nur dasitzen und zusehen, wie sich der Aschenbecher füllt…» Dann setzt er sich vor den Fernseher, stellt ihn ein. Im Bild erscheint ohne Ton der scheidende amerikanische Präsident Carter. Schnitt: Grossaufnahme von Charlies leerem, müdem Gesicht. Schnitt: Fernseher: der neue Präsident Reagan im Bild. Schnitt: im wegfahrenden Bus Lena, ihr gegenübersitzend ein Mann, der ein grosses, vor sich hingestelltes Holzkreuz mit beiden Händen festhält. Schnitt: Charlie liegt zusammengekauert vor dem Fernseher, Reagan sprechend, aber ohne Ton. Im Off dazu Charlies Stimme: «Manchmal habe ich Angst, wahnsinnig zu werden.» Ja: Über der kleinen Liebesgeschichte steht die Winterstadt, und die liegt in einem Winterland, und das Winterland liegt in einer Winterwelt, in der sich ein Hollywood-Clown anschickt, eine Supermacht in den Superwahnsinn zu führen.

Doch das wird alles nur angedeutet, mit Bildern skizziert, angedeutet wie die Leere, die Stumpfheit, die Angst, die Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Passanten, der Hänger in den Beizen, im Gesicht des immer wieder erscheinenden schweigenden Drogendealers.

Bevor Lena geht, sagt sie zu Charlie: «Du musst hinaus aus dieser Stadt. Du musst dich bewegen.» Vom Weggehen ist öfter die Rede in diesem Film, vom Weggehen aus einer Stadt, in der alles erfroren und erstarrt ist, und es nicht mehr möglich scheint, sich zu bewegen. Bewegung oder gar die Bewegung fehlt im Film, obschon er im letzten Winter spielt. Aber er zeigt eindrücklich, wie schwierig es sein muss, sich zu bewegen, in dieser Stadt.

Bernhard Giger: Winterstadt (1981).

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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