was sucht medusa bei adrian?

sterblich sei sie, geht das gerücht seit jahrtausenden, medusa, deren anblick versteinert. unsterblich sitzt sie zwischen den zeilen des tagblatts, glotzt aus dem fernseher, und im radio plaudert sie mit aufziehbaren generalen über rüstungsbeschränkung. zwischen marmornen schriftgelehrten («Und sein Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule») aber flitzen keifend und schwatzend selbsternannte perseuschen herum und rufen durcheinander: «ich habe die medusa gesehen, ein schwert, ein schwert, auf dass ich sie köpfe!» andere stehen diszipliniert in viererkolonnen und endlosen gängen schlange nach einem waffenschein: man nennt dies den langen weg durch die institution.

entlang dieser geduldigen viererkolonne stehen verstaubte wegweiser, alle zehn meter: «FORTSCHRITT» steht drauf. aus der reihe tritt nun ein weitsichtiges hirn ans fenster und schreit über die gasse: «eure bewegung aber ist konservativ.» ein flitzendes perseuschen bleibt stehen, ruft: «konservativ: am Hergebrachten festhaltend / auf Überliefertem beharrend, Duden. übrigens: ich habe die medusa gesehen.» das hirn am fenster ist verärgert und brummt: «ohne analyse ist medusa gar nicht zu erkennen», räuspert sich und ruft entlang der fassaden: «gebt’s auf, ihr konservativen bewegungsabläufer.» bleibt ein zweites flitzendes perseuschen stehen und ruft: «‘Fürchtet euch nicht vor der Zukunft, meine Getreuen. Denn so, wie es ist, wird es bleiben. Wir werden jede Zukunft verhindern’, Frisch.[1] schön gäll?… übrigens, hast du zufälligerweise ein sackmesser? ich hab nämlich die medusa gesehen», und flitzt davon.

in die kolonne zurücktretend hirnt das hirn: «bedeutet nun konservative bewegung, dass sie sich in eine falsche richtung bewegt? da allerdings der duden sagt, dass konservativ festhält und beharrt, bewegung sich jedoch bewegt, so hätten wir da einen widerspruch in sich: aha, aha. und nehmen wir ihn hin, stellt sich die frage: wer oder was bestimmt die richtigkeit der eingeschlagnen richtung der bewegung? die antwort schenket mir: ich bin gefeit vor aller blankgeversten eitelkeit.»

erleichtert ob solcher erkenntnis lehnt sich da hirn an einen wackeligen wegweiser: «FORTSCHRITT» steht drauf, halb vergilbt. weit vorne ruft einer: «hier gibt’s gar keine waffenscheine!» und ein anderer antwortet: «wer an der weltrevolution zweifelt, soll nach hause gehen.» vereinzelt klirren scheiben. von der strasse tönen sprechchöre: «WIR BRAUCHEN SCHWERTER: MEDUSA GEHT UM.»

und siehe: als ich meine gedanken dergestalt geordnet hatte, hub ich an und frug: ist diese bewegung konservativ oder jene und: ist ausserhalb meiner vorstellung ein fortschreiten möglich? da überkam mich ein grosses lachen und das herze hüpfte vor übermut. ich ging hinaus in die statt und suchete mir einen flipperkasten, auf dass er mich zerstreue.

(ps. zu protokoll: auf dem weg zum spielsalon, vom berner bahnhof richtung city west gehend, um 19.34 uhr, auf der höhe hirschengraben, habe ich deutlich die medusa gesehen: gleich hinter dem denkmal des adrian von bubenberg.)

[1] Das Zitat stammt aus Max Frischs Farce «Die chinesische Mauer» (1947).

Dieser Beitrag war Teil eines Dossiers unter dem Titel: «Wer ist denn da konservativ?» Das Dossier umfasste Beiträge von Theo Ginsburg, Heinz Kleger, Nicolas Lindt; Paul Parin, Christine Perren, Manfred Züfle und Anatol Jeremia Zangger. Die redaktionelle Einleitung zu den Stellungnahmen lautete: «Von ‘Rückzugsbewegungen’ ist seit einiger Zeit die Rede; davon, dass die Protestbewegungen der letzten Jahre nur ‘defensiven Charakter’ haben, dass es nur noch darum geht, zu verteidigen, was vom Fortschritt bedroht ist: ein Stück Natur, ein altes Haus, der Laden an der Ecke, die Sprache einer Minderheit, und nun auch der Friede, der durch neue Rüstung bedroht werden soll. Vom Kampf für eine neue Gesellschaft rede niemand mehr. Man versuche zu retten, was zu retten sei. / Das einigende Band zwischen den verschiedenen Bewegungen der letzten Jahre ist die Wachstums- und Fortschrittskritik. Deshalb gibt es Stimmen, die diese Bewegungen als konservativ bezeichnen: etwa Jürgen Habermas, Theoretiker der ‘Frankfurter Schule’, der in seinem neuen Buch ‘Theorie des kommunikativen Handelns’ vom ‘Antimodernismus der Jungkonservativen’ spricht, oder Wolfgang Pohrt, der im ‘konkret’ (10/81) die Alternativen gar unter (Faschismus)-Verdacht nimmt mit der Frage: ‘Endet die Alternativbewegung in einer neuen Volksgemeinschaft?’ / Die WoZ gab diese Frage an Leute aus verschiedenen Bewegungen oder aus deren Umfeld weiter.»

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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