– ISTIMMERWINTER

der schnee fiel in grossen flocken. der platz zwischen den riesigen ausstellungsgebäuden war weiss, die uhr über der tramhaltestelle zeigte zehn nach fünf. mit hochgeschlagenem mantelkragen stieg ein junger mann hastig aus dem orangen kastenwagen, der von links kommend hinter der haltestelle stehengeblieben war. mit einem stoss neuer zeitungen unter dem arm ging er schnell zur selbstbedienungsbox hinüber. als er zum auto zurückging, hustete er eine grosse weisse wolke vor seinen mund.

thomas war stehengeblieben, um sich eine zigarette anzuzünden. er sah den kastenwagen geräuschlos sich entfernen und im schneewirbel verschwinden. wie schlafend kurvte ein radfahrer über den platz und verschwand links aus dem bild. als sich thomas die brennende zigarette in den mundwinkel schob und die zurückgefallene kapuze seines mantels wieder über die triefend nassen haare zog, sah er schräg gegenüber in den hohen kahlen bäumen die nacht sitzen: mit schwarzen händen warf sie weisse flocken über den platz.

plötzlich waren strassenwischer vor der tramhaltestelle. über ihrem orangen arbeitskleid trugen sie einen grauen nassglänzenden mantel. grosse schwarze hüte verdeckten ihre augen. in zeitlupe wischten sie den schnee aus den tramgeleisen.

als thomas langsam weiterging, schneuzte sich einer der strassenwischer laut, und drüben auf der kreuzung huschten zwei vereinzelte autos aneinander vorbei. die hände in den manteltaschen vergraben schlenderte er der strasse entlang. er unterschied drei fussspuren. zwei führten zurück zum platz, die dritte unsicher der häuserreihe entlang. irgendwo scherte sie aus, trat auf der trottoirkante an ort. die grosse gelbe urinspur am strassenrand wurde vom schnee langsam zugedeckt.

thomas blieb stehen, wühlte sich umständlich durch seine kleider und pisste eine schöne gelbe figur auf die fahrbahn, direkt neben die schon leicht eingeschneite. als er lächelnd weiterging, tauchte aus der nächsten querstrasse ein auto auf. es glitt langsam und geräuschlos an ihm vorbei. nach einigen schritten holte er den hausschlüssel aus der manteltasche. vom trottoir stieg er die drei stufen hoch zum eingang des grauen schmalen reihenhauses. fröstelnd drehte er den schlüssel im schloss. mit einem leisen knall sprang die türe auf. noch auf der schwelle tastete er an der wand nach dem lichtschalter. dann trat er in den vorraum, schloss die haustüre und zwängte sich zwischen mehreren fahrrädern und aufeinandergetürmten kehrichtsäcken hindurch zur zweiten türe, die ins treppenhaus führte.

*

maria erwachte, weil sie fror. tastend suchte sie nach dem pyjama. sie merkte, dass thomas nicht mehr neben ihr lag. sie tastete nach dem lämpchen, das auf dem harass neben der matratze stand. das lämpchen brannte schwach und gelb. sie erhob sich, die arme schaudernd vor den nackten brüsten verschränkt. zum fenster hinaus sah sie im schein rötlicher strassenlampen, dass es in grossen flocken schneite und noch dunkel war. zwischen den auf dem glanzlosen parkett des fussbodens liegenden kleidern nahm sie die armband uhr auf und schnürte sie um das linke handgelenk: viertel nach fünf.

die tür des zimmers stand halb offen. maria trat in den gang hinaus, öffnete leise die türen zur küche und zum klo. als sie ins zimmer zurückging, hörte sie das tapsende geräusch ihrer füsse auf dem steinboden des gangs. achtlos nahm sie den pyjama, der über die lehne des schreibtischstuhls gehängt war, presste ihn mit beiden armen an ihren oberkörper und trat zitternd ans fenster. den kopf nahe am schmierigen glas schaute sie den grossen flocken zu, die leise schaukelnd auf die strasse hinunterschwebten. langsam und geräuschlos glitt ein auto unten vorbei. sie schaute lange und ernsthaft. sie zitterte nicht mehr. als sie vom fenster zurücktrat, hatte sich die scheibe von ihrem atem beschlagen, wie abwesend malte sie ein ‘t’ auf die trübe stelle.

*

thomas brauchte seine hände nicht aus den manteltaschen zu nehmen, um die innere, rot bemalte türe zu öffnen: seit einiger zeit war das schloss gesprengt. mit der schulter stiess er die tür auf und wurde von einem penetrant galligen geruch von erbrochenem überrascht, während die türe hinter ihm sich schloss. auf dem zweituntersten treppenabsatz sass markus vornüber zusammengekauert, ans hölzerne, gelb bemalte treppengeländer gelehnt, mit blutigroten händen und kaum bei besinnung. vor ihm schwammen umgestürzt in einer grossen lache von erbrochenem eine fast leere ginflasche und eine spraydose. im treppenhaus war es empfindlich kalt. thomas murmelte «verdammte sauerei» und presste einen ärmel vor nase und mund. markus hob unvermittelt sein käsiges gesicht, riss, auf thomas starrend, die augen weit auf und flüsterte: «werde ich verhaftet?» er begann plötzlich am ganzen körper heftig zu schlottern, sein kopf wackelte unstet auf den schultern. mit einem weiten schritt überquerte thomas das erbrochene und trat hinter markus. «ich bin’s, thomas», sagte er. «du musst ins bett, ich helf dir.» unter der armen hindurch umschlag er den oberkörper des leise wimmernden und versuchte, ihn auf die beine zu stellen. er bemerkte nun, dass markus sich seine hände beidseitig blutrot angesprayt hatte. doch markus klammerte sich, als er sich aufgehoben fühlte, ans treppengeländer, schlug mit dem kopf heftig gegen die querhölzer, glotzte durch sie wie durch gitterstäbe und zischte zwischen seinen roten händen: «jetzt haben sie mich… jetzt werde ich geholt… sie haben mich doch gefunden…» thomas liess markus unsanft auf die treppe zurückfallen. dann fischte er ginflasche und spraydose aus der stinkenden brühe auf dem fussboden und ging damit durch den gang neben der treppe am klo vorbei in die küche, in der das schmutzige geschirr von gestern abend sich auf dem küchentisch und im schüttstein zu bergen türmte. unter dem eiskalten wasserstrahl säuberte er ausgiebig die beiden gefässe. als er dann die ginflasche öffnete und den rest des schnapses in den ausguss leerte, murmelte er «prost». mit dem feuerzeug entzündete er das ausgelöschte ewige lichtchen im durchlauferhitzer und füllte ein grosses plastikbecken mit warmem wasser. er hängte seinen mantel über einen küchenstuhl, holte sich hinter der kellertür die fegbürste und einen grossen putzlumpen. als er mit dem aufputzen der kotze begann, sah er, dass markus sich auf allen vieren die treppe hinaufschleppte. thomas biss auf die zähne und hielt so lange wie möglich den atem an, um dem brechreiz, der ihm bis in den rachen hinaufstieg, zu wiederstehen. er holte zweimal frisches wasser, leere das schmutzige jeweils ins klo, wusch dann in der küche unter dem fliessenden wasser fegbürste, putzlumpen und plastikbecken aus und schrubbte sich die hände. als er das küchenfenster öffnete und sich eine zigarette anzündete, hörte er vorn auf der strasse ein frühes tram durch die leichte kurve vor dem haus quietschen. in einem nachbarhaus ging das licht an. irgendwo klingelte ein wecker, ruhig fiel der schnee in den dunklen hinterhof.

*

als maria den pyjama überstreifte, zögerte sie. sie trat noch einmal ans fenster und hauchte über das «t» auf der fensterscheibe, bis es verschwunden war. dann kritzelte sie darüber mit flüchtigem finger: ICH. sie lächelte. sie trat zur matratze, die auf dem fussboden lag und betrachtete einen augenblick den eingetrockneten samenflecken, der sich auf dem unterleintuch abzeichnete. als sie sich mit der decke und mehreren tüchern zudeckte, begann sie heftig zu husten. sie setzte sich auf und schluckte den bitteren nikotinschleim, der sich gelöst hatte, mühsam hinunter. dann löschte sie das licht, legte sich auf den rücken und schaute zur decke. die strassenlampen malten rötliche, langgezogene vierecke an die zimmerdecke. als kaum wahrnehmbarer schatten huschte der fallende schnee darüber hin. maria rieb die füsse gegeneinander. ihre hände rutschten unter die pyjamahose. langsam glitten die handflächen über schenkel und scham. sie schloss die augen und schlief später wieder ein.

*

thomas schloss das küchenfenster, nahm den mantel vom stuhl und verliess die küche. auf der treppe sah er, was markus in dieser nacht offensichtlich mit seiner spraydose gemacht hatte: eine säuberliche rote buchstabenreihe bedeckte die wand in augenhöhe: ICHLEBEAMENDEDERZUKUNFTISTIMMERWINTER. das licht ging aus. thomas tastete im ersten stock nach dem lichtschalter. er merkte, dass er fror. er zog den reissverschluss seines mantels zu und stieg noch eine treppe höher, um nach markus zu schauen. der gang zu den zimmern im zweiten stock lag rechtwinklig zum treppenhaus. nur wenig licht drang in diesen gang. er fand markus vor der tür zu dessen zimmer im dunkeln auf dem boden sitzend, diesmal schien er thomas zu erkennen. «still», sagte er, während er angestrengt ins treppenhaus hinaushorchte. «ich verstecke mich vor ihnen.» – «komm jetzt», brummte thomas, öffnete die türe und schleppte markus hinein. er liess ihn auf das ungemachte bett fallen, drehte das licht an und sagte: «zieh dich aus.» dann wandte er sich dem holzofen zu. auch hier drin war es unangenehm kalt. als der ofen brannte und die kleinen scheiter, die er auf das zusammengeknüllte zeitungspapier gelegt hatte, zu knacken begannen, wandte er sich um und sah, dass markus immer noch unbeweglich auf dem bettrand sass. thomas begann ihn auszuziehen und spürte die eisigkalten hände von markus. während thomas ihn bis auf die unterwäsche entkleidete, begann markus wieder zu sprechen, sachlich-monoton, erläuternd: «wenn sie uns haben, werden sie uns foltern, das ist klar… hast du das gewusst?… sie werden uns foltern… nicht dass ich dir angst machen will…» er rülpste und thomas trat instinktiv einen  schritt zurück und presste ihm dessen hemd vor den mund. kaum hatte er die galle in sein hemd gespuckt, fuhr er fort: «folter, das ist ihre methode… hast du angst vor folter?… ich habe keine angst, ich bin im recht… wir lassen uns unser haus nicht wegnehmen…» markus lag nun im bett. thomas deckte ihn mit allem zu, was er im zimmer an tüchern und decken fand. dann steckte er zwei grosse scheiter in den ofen und ging noch einmal in die küche hinunter, wo er, an einem nagel aufgehängt, eine plastikbettflasche wusste. als er die heisse, mit einem handtuch umwickelte bettflasche zurückbrachte und unter die decke zu den füssen von markus steckte, war jener eingeschlafen, sein gesicht war leichenblass und eine halbeingetrocknete gallige schleimspur zog sich vom mundwinkel gegen das ohr. thomas schaute noch einmal zum feuer im ofen. die dunkelgrünen steinplatten auf beiden seiten begannen warm zu werden. dann löschte er das licht, schloss die tür und ging gähnend die treppe in den ersten stock hinunter. er trat in sein zimmer, tastete im dunkeln nach der schreibtischlampe, während er mit dem absatz der tür einen stoss gab, sodass sie mit leisem klack ins schloss fiel. im nachbarzimmer hörte er ruth im schlaf husten. ohne den mantel auszuziehen, setzte er sich an den schreibtisch und begann mit einem groben roten filzstift auf ein zerknittertes flugblatt zu schreiben: «ICHWEINEICHWEINEICHWEINE…»

dann starrte er lange reglos gegen die wand, mit übernächtigten augen: sie waren trocken. vor dem fenster ging die nacht vorbei. ihr folgte die dämmerung.

[Ende 1980; 3.11.1981]

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5