fantasie für eine singende säge

statt einer ordentlichen diplomarbeit

vorbemerkung

in meiner ausbildung zum primarlehrer lernte ich, der lehrerberuf habe eine methodische und eine pädagogische dimension. neben der fachlichen spezialisierung war in meiner zweiten ausbildung zum blockflötenlehrer wieder nur von diesen zwei dimensionen die rede. die dritte und, wegen der entstehenden realitätsnahen dreidimensionalität, unbequemste dimension jedes im weitesten sinn pädagogischen berufs wäre die gesellschaftliche. sie wäre umrissen durch die fragen nach der art der gesellschaft, in der der gewählte beruf ausgeübt werden soll und nach der funktion des berufs in dieser gesellschaft.

oft hatte ich während meiner ausbildung zum blockflötenlehrer den eindruck, dass musiker und musikstudenten ohne grosse perspektive fuhrwerkten, dass man vor lauter bäumen den wald nicht mehr sehe, dass man sich in der verstiegenen bastelei an einer hypothetischen perfektion (wie klang welche musik in welcher zeit «perfekt»?) ergehe, ohne sich viel um die welt zu kümmern, in der wir leben. unsere welt ist aber nicht die von machaut oder mozart; unsere welt wird bestimmt von konsum und konzernen. der versuch, musik vergangener epochen «stilecht» zu reproduzieren, bleibt eine klangliche hypothese und die funktion, das bedeutungshafte dieser musik, wird immer zu einem unverhältnismässig grösseren teil unserer zeit als der zeit, der das werk entstammt, verpflichtet sein. (wenn jemand musik auf historischen instrumenten auf schallplatte einspielt, wird der widerspruch offensichtlich: das historisierende des originalen klangs wird ad absurdum geführt durch die technik der musikkonservierung und der verteilung der konserven durch die massenmedien und den kommerz.)

so wahrscheinlich es ist, dass ein musikalisch ungeschulter mensch, der auf seinem instrument nicht mehr als anfänger ist, als musikpädagoge aus mangelnder perspektive immer wieder gravierende fehler begeht, so wahrscheinlich ist es auch, dass der qualifizierte musikpädagoge im elfenbeinturm, der sich für sensibel und daher politisch abstinent hält, (auch) im unterricht gravierende fehler begeht: ganz einfach aus mangelnder perspektive. politische abstinenz ist ein gefährliches politisches verhalten. ich will soweit gehen und behaupten, dass das folgende eisler-zitat vor allem für musikpädagogen gilt: «Wer nur von Musik etwas versteht, hat auch davon keine Ahnung.»

was ich hier versuche, ist eine provokation. ich versuche den kulturbetrieb, der für mich engstens mit der (bürgerlichen) musikpädagogik verbunden ist, grundsätzlich anzugreifen. ich stelle dagegen die utopie einer anderen kultur, die eine andere pädagogik bedingt. meine idee mag nicht realisierbar sein; aber sie soll provozieren, sie soll den leser durch fragen und behauptungen für augenblicke verunsichern. – auf die behauptung, ich hätte viel zu sehr vereinfacht, so gehe das nicht, stelle ich die gegenfrage: unter welchen prämissen ist diese behauptung richtig? auf den hinweis, ich schütte das kind mit dem bade aus, entgegne ich: das kind im bade ist ertrunken.

einstimmung

ich sollte ein stück komponieren: HORROR VACUI ODER DIE DEMONTAGE EINES ANACHRONISTISCHEN UNTIERS für grosses sinfonieorchester.

grob gesehen umfasste die musik etwa dreihundert takte – selbstverständlich eine generalpause für das ganze orchester, denn das stück stellt ja nichts dar als die angst vor der leere (leere mit der doppelten bedeutung von negation der musik als auch negation des sinns). dazu kämen nun aber die das untier, das orchester langsam demontierenden anweisungen. nach dem allbekannten uniformierten aufmarsch der musiker (wie eine horde halbschlauer: verängstigt und also linkisch) und gehörigem stimmen (um die allgewaltige illusion des konzertbetriebs noch aufrechtzuerhalten), kommt der dirigent (beinamputiert, pepsodentlächelnd) und gibt den einsatz für das tutti-schweigen (grosse geste). so. – und nun demontiert sich das orchester über dreihundert takte langsam selber, indem es sich zusehends in einzelwesen auflöst, die sich ausserhalb ihres devoten unterordnungssinns plötzlich wie vernünftige Menschen zu gebärden beginnen. da beginnt einer die nase, ein anderer die brille zu putzen, einer entledigt sich des offensichtlich zu engen kittels, ein cellist reisst sich die krawatte vom hals, eine flötistin bastelt mit den noten auf dem ständer durch knüllen und falzen einen notdürftigen aschenbecher, sie beginnt zu rauchen; ein rülpsender geiger wird von einem kollegin zurechtgewiesen, sie beginnen pantomimisch zu diskutieren; überhaupt beobachtet man zunehmende interaktionen, ohne jedoch artikulierte worte oder töne zu hören, möglicherweise beginnt eine cellistin mit einem bratschisten zu schmusen. der drigent zählt sinnlos stur die dreihundert takte durch (dafür kriegt er die grösste gage). zwei posaunisten jassen mit zwei schlagzeugern quer über das xylophon; einem fagottisten, der schon lange an seinem instrument herumbastelt, geht versehentlich ein pfiff ab (fortepiano, subito morendo), ein auffallendes akustisches signal, der fagottist simuliert vor schreck einen herzinfarkt und wird von einem wirklich netten oboisten gepflegt (bei allfälllig stattfindender herzmassage nicht zu heftig, bei rippenbrüchen kann der komponist nicht haftbar gemacht werden). der dirigent, das eigentlich tragische moment im spektakel, möglicherweise der hauptaktionär einer ortsansässigen waffenfabrik, begeht nun, zum publikum gewandt, harakiri (es ist an dieser stelle nicht notwendig, ein richtiges messer zu verwenden). dazu: gähnen die kontrabassisten, der konzertmeister pöbelt frech grinsend die verkalkten abonnementstanten in der ersten reihe an, während zwei trompeter das podium verlassen, als hätten sie woanders gescheiteres zu tun (die cellistin ist mit dem bratschisten zwischen die ständer gesunken; allfällige geräuschvolle küsse leicht marcato, aber nicht aufdringlich). das stück endet damit, dass ein hochsensibler zweiter geiger, wie von der tarantel gestochen aufspringt und schreit: dieses publikum ist eine zumutung! – – –

(tagebucheintrag, 1.2.1979)

erster abschnitt: konsumismus

unsere welt ist eine welt, in der alle dinge und alle ideen kaum mehr anders als unter dem aspekt ihres warencharakters wahrgenommen werden. was sich nicht kommerzialisieren lässt, ist im bewusstsein des menschen nur noch als negativum (als andersartig und als gefährlich, als minderwertig usw.) vorhanden. andersherum: marktwert ist in jedem fall schon ein kriterium für qualität.

der totalausverkauf von geist und materie, von kunst und kontinenten, je nach dem ideologischen blickwinkel garant für die freie marktwirtschaft oder kapitalismus mit starkem gefälle zur monopolisierung, das heisst krebsgeschwür, das seine metastasen überwuchert; dieser totalausverkauf, dessen moral die rendite, dessen ästhetik der marktwert, dessen ethik das geld ist, braucht für sein funktionieren das vorausberechenbare konsumverhalten der mehrheit.

der terrorisierte muss im bewusstsein leben, sich gegen den terror nicht wehren zu können, sonst ist terror nutzlos: der konsument muss im bewusstsein leben, sich gegen den konsumterror nicht wehren zu können, sonst ist er nutzlos. dieses bewusstsein, das weder ein kausal zwingendes, noch ein «gottgewolltes» ist, muss gemacht werden; und dieses bewusstsein wird gemacht , tagtäglich. wie dies im einzelnen bewerkstelligt wird, soll hier nicht ausgeführt werden. verantwortlich zu machen für die massenfabrikation von standardisiertem bewusstsein, das heisst für die vorausberechenbare bewusstlosigkeit des konsumenten, sind unter anderem die herrschende ideologie (das heisst die ideologie der herrschenden), die kirche (wer besitzt, kann nicht schlecht sein), die massenmedien (die den mörder schon verurteilen, wenn er noch opfer ist) usw. das bewusstsein des konsumenten ist die negation der behauptung, verweigerung sei möglich und nötig.

konsumverhalten (das heisst das bewusstsein der notwendigkeit zu konsumieren) lässt sich studieren, analysieren und programmieren. trotzdem lässt sich der markt nicht unbeschränkt vergrössern. wer weiter produzieren will (und diese notwendigkeit besteht für jeden, der vom markt lebt), muss die qualität (im sinn von langlebigkeit) seiner produkte verschlechtern, um den verschleiss zu vergrössern: wir leben in einer wegwerf-gesellschaft. verschlissen und weggeworfen wird grundsätzlich alles: auch musikalischer geschmack, musikalische interpretation, auch musiker.

geist und materie sind waren. alle utensilien, um musik zu erzeugen, sind waren. alle instrumentalisten, dirigenten usw. sind konsumenten des musikutensilienmarktes. dafür beliefern sie den markt mit klingender musik. musik (und zwar grundsätzlich jede, die irgendwie verkauft wird) ist ware. wie bei jedem markt ist auch beim musikmarkt derjenige der endverbraucher am grössten. unter endverbraucher verstehe ich: all jene, die zu musik keine andere beziehung haben, als die des konsumenten; all jene (es sind die meisten), die sich schämen, einmal selber ein lied zu singen, weil ihre stimme nicht so viel hergibt, wie die stimmen von udo jürgens oder hermann prey. (warum soll ich die zwei namen nicht in einem atemzug nennen? beide namen sind in ihrem teil des musikmarktes bürgen für qualität. das geld, das mit diesen namen verdient wird, ist in beiden fällen das gleiche und: qualität ist, was geld bringt).

die verkaufsstrategie der produzenten beruht – vorallem bei waren, die grundsätzlich auch selber hergestellt werden könnten (zum beispiel nahrungsmittel, zum beispiel möbel, zum beispiel musik) – auf der negativen konditionierung des konsumenten. «meine radieschen sind noch roter, als du sie je ziehen kannst», «meine polstergruppe ist noch weicher, als du sie je zusammenbasteln kannst», «meine ‘winterreise’ (mit prey zum beispiel) ist noch musikalischer, als du sie je singen kannst.» konsequenz: «wenn du radieschen, polstergruppe, ‘winterreise’ von diskutabler qualität willst, so kaufe.» was ist in diesem zusammenhang unter dem begriff «diskutable qualität» zu verstehen? wie gehabt: qualität ist gleich marktwert. so gesehen kann man manchen widerspenstigen konsumenten entmutigen: alles, was sich nicht verkaufen lässt, ist minderwertig, «undiskutabel». viele zweige der massenproduktion führen vorallem mit ihrer werbung einen permanenten kampf gegen den dilettantismus (dieser begriff wird ja – im gegensatz zum 18. jahrhundert und früher – ausschliesslich abwertend gebraucht). wer nicht kauft, schmälert den markt der produzenten.

nach der ideologie des totalausverkaufs soll der konsument nur noch zwei dinge: mitarbeiten in der monopolisierten massenproduktion und in seiner freizeit: konsumation der eigenen arbeit (gewinnbringend für den produzenten). die ideologie des totalausverkaufs ist absolut und diktatorisch; sie lässt keine alternativen zu. ihre vernunft reduziert sich auf den befehl: PRODUZIEREN – KONSUMIEREN. alles andere ist unvernünftig, suspekt, gefährlich. die politische vernunft befreit von allem denken: ausser produzieren und konsumieren kommt sowieso nichts in betracht. der mensch, der seinen bewegungsspielraum als konsument mit freiheit verwechselt, ist in wirklichkeit vollkommen an die wand gespielt: nachdem er die lektion vom bösen dilettantismus begriffen hat, lässt er seine angeborenen fähigkeiten und möglichkeiten endgültig verkümmern (allmählich vergisst man, dass der leierkastenmann in der «winterreise» nicht nur ein kaufbares akustisches ereignis ist, sondern auch physisches und psychischer erlebnis sein kann, das jenseits jeder musikalischen perfektion möglich ist und nichts erfordert als aktives angagement und wille zum erleben).

der an die wand gespielte konsument entwickelt als ersatz für seine effektiven fähigkeiten, die er ungenutzt lässt, scheinwissen, scheinkönnen und scheinkritik: aus der tatsache, dass er eine erstklassige stereoanlage besitzt, leitet er die kompetenz ab, bei interpretationsvergleichen prey gegen fischer-dieskau ausspielen zu können usw.

so wie der einzelne in den meisten bereichen kritikloser konsument ist, so ist er in einem bestimmten punkt von berufs wegen spezialist; freilich spezialist ohne perspektive; spezialist, der, weil er nur von seinem beruf etwas versteht, auch davon keine ahnung hat; spezialist, der weder die voraussetzungen noch die konsequenzen dessen, was er tut, überblicken kann; spezialist, der nicht weiss, was er tut und welche konsequenz sein tun haben kann. der so beschriebene mensch ist der ideale konsument: in allem und jedem verunsichert, verängstigt vom spezialistentum anderer, hoffend auf die ideologen des totalausverkaufs, die ja schon wissen, was sie tun (aber: auch ideologen sind spezialisten).

diesen gedankengang weiterführend: die gesellschaftliche funktion von konservatorien ist leicht zu erklären. in konservatorien wird eine bestimmte sorte von musikern ausgebildet. ihre aufgabe nach der ausbildung ist die fähigkeit, «konservierte» musik, das heisst mumifizierte notentexte wieder in klang umsetzen («wiederbeleben») zu können, und zwar derart, dass diese umsetzungen dem ästhetischen kriterium der plattenrille, das heisst der ästhetik des marktwerts genüge tun. an konservatorien ausgebildete musiker sind also spezialisten, deren aufgabe es ist, einen bestimmten teil des musikmarktes – den der sogenannten E-musik – abzudecken. die gutgemeinten intentionen, die den musiker möglicherweise leiten, stehen hier nicht zur debatte: sobald er seine fähigkeiten in den dienst der «öffentlichkeit» stellt, das heisst, sobald er mit seinen fähigkeiten geld verdient, hat er sich verkauft. seine musik wird nun durch die massenmedien radio und fernsehen, durch plattenfirmen und konzertagenturen gebraucht, verbraucht, verschlissen, am schluss weggeworfen. der musikmarkt ist unersättlich. konservatorien sind zuhälterinstitute für den (musik-)konsumismus.

das gefälle zwischen spezialist und konsument, wächst ins unermessliche. sub- und alternativkulturen werden aufgekauft (und dadurch zerstört), volksgut verkümmert. es stellt sich die frage nach der gesellschaftlichen funktion der musik.

zweiter abschnitt: heile-welt-kultur

es gibt nichts dümmlicheres, als wenn sich in den massenmedien politiker, wirtschaftsführer oder geistliche in elegischen klagen über stress, leistungsdenken oder ähnliches ergehen. sie klagen damit über «negative» symptome eines gesellschaftssystems, zu dessen verteidigung sie über leichen zu gehen sich eines tages gezwungen sehen könnten. das leistungsdenken (und damit der stress) ist unlösbar mit unserem politischen system, das wie nichts anderes die gesellschaft prägt, verbunden, das denken in der messeinheit der leistung (die in jedem fall eine kommerzialisierbare leistung ist) hat die kapitalistische denkweise überhaupt erst möglich gemacht.

auf den markt der kultur übertragen hat sich die leistung zu einem ästhetischen kriterium gemausert, denn sie ist eine voraussetzung für die ästhetik der plattenrille: ohne leistung keine platte, ohne platte keine musikalische qualität (das heisst: kein kommerz).

mit dem beginn der verbürgerlichung des musikbetriebs um die mitte des 18. jahrhunderts wurde der leistungsgedanke in der musik erst richtig eingeführt. für den komponisten wurde es nun eine frage des überlebens, beim publikum anzukommen. und das zahlungskräftige publikum (also das bürgertum) wollte, in der euphorie der ersten industriellen revolution, nicht nur unterhaltung, sondern auch den motor und abgott des wachsenden wohlstands: die leistung. der komponist musste, um das publikum zu verblüffen, schwieriger setzen; der ripieno-musiker des 17. und 18. jahrhunderts wäre nun bei weitem überfordert gewesen. die ausbildung zum orchestermusiker musste gründlicher und strenger werden (parallel dazu wuchs die verpönung dilettantischer musikausübung). grosse virtuosen, die personifizierung musikalischer leistungsfähigkeit begeisterten ganz europa. leute wie liszt, chopin oder paganini, überragende spezialisten in ihrem metier, haben das bild des leistungsfähigen musikers bis heute massgeblich geprägt.

es ist mir bewusst, dass ich nicht die ganze musikalische entwicklung der letzten zweihundert jahre ausschliesslich auf den leistungsgedanken zurückführen kann. ich will hier auch nicht untersuchen, warum es in diesem zeitraum immer wieder dazu kam, dass die ausführenden musiker dem komponisten die gefolgschaft verweigerten. warum verlangte der komponist mehr vom musiker, als dieser zu geben bereit/fähig war/ist? woraus besteht die «künstlerische notwendigkeit», die man für diesen willen des komponisten ins feld führen könnte? welche rolle spielt die publikumserwartung? wie bewusst schrieb/schreibt ein komponist für oder gegen diese publikumserwartung? wie gebraucht er in diesen verschiedenen fällen die leistung des musikers?

fest stehen die zum teil irreversiblen auswirkungen, die die idee der leistung im gesamten bereich der kultur, aber vorallem in dem der musik, in den letzten zwei jahrhunderten hatte. komponisten unterlagen dem missverständnis, dass vergrösserung des musikalischen apparats und komplizierung der partitur allemal schon musikalischen fortschritt (was heisst das überhaupt?) impliziere. durch den ungeheuren aufwand, den die komponisten betrieben/betreiben, um fortschritt zu markieren, ist ihre abhängigkeit von der herrschenden schicht (das ist ja das schreckliche: es gibt einen punkt, in dem sich mäzene und massenmörder nicht mehr unterscheiden lassen) auch schon verewigt. lückenlos ist der übergang des zielpublikums von aristokratie in bourgeoisie. mit ihrem geld liess/lässt sie sich musikalische machtdemonstrationen inszenieren. wenn sich das publikum von wagner-opern beeindrucken liess/lässt, liess/lässt es sich vorallem beeindrucken vom eigenen geld, das die inszenierung der dümmelnden «mythen» des omnipotenten patriarchen erst möglich macht/e (so war wagner-verehrung zu allen zeiten schon ein indiz für politisch reaktionäres verhalten).

die verheerende wirkung des leistungsdenkens, das das spezialistentum zur folge hat, ist die polarisierung des kulturbetriebs. kultur braucht geld. also gilt umgekehrt: geld macht kultur. das geld wird von privaten, von agenturen, plattenfirmen, massenmedien nach privatwirtschaftlichen interessen investiert. künstler werden gekauft, lanciert, gebraucht, verschlissen, weggeworfen. wer dem publikumsgeschmack nicht genügt, kommt nicht in betracht. der publikumsgeschmack will zwei dinge: leistung, die verblüfft und selbstbestätigung in form von grösse, potenz, simulierter tragik usw. welches musikalische genre das publikum bevorzugt, respektive welche spitzenathleten der heile-welt-kultur man auf das publikum loszulassen hat, ist von sekundärer bedeutung. ob udo jürgens oder hermann prey singt, ist dem management egal: ihre funktionen im kontext der ideologie des konsumismus sind verzweifelt ähnliche.

durch die zentralisierung der kulturellen aktivitäten entsteht an den kulturperipherien, in ländlichen regionen also, ein kulturvakuum. über dieses vakuum verfügen fast ausschliesslich die massenmedien radio und fernsehen. in weiten teilen der schweiz zerfällt sehr rasch jahrhunderte altes kulturgut; volksmusik überlebt, indem sie sich kommerzialisiert und über die massenmedien als «volksmusik» ans publikum gelangt; gemeinsames musizieren (hausmusik), spontanes gemeinsames singen (soweit es nicht ins faschistoide pervertiert wird) usw. gehören schon heute weitgehend der vergangenheit an. der gleiche niedergang wie in der musik der kulturperipherie, trifft auch die sprache dieser regionen: zusehens werden dialekte zerstört und nivelliert. was kultur ist, wird von den massenmedien bestimmt. über «entartete» kunst braucht nicht mehr gesprochen zu werden. die massenmedien selektieren stillschweigend. ein kulturelles produkt, das in kein gängiges klischee passen will, wird politisch frisiert und als kuriosum lanciert. es entsteht eine zentral gesteuerte heile-welt-kultur, deren angebot von beethoven-sinfonien bis zur hitparade, von grimm-märchen bis zu günter-eich-hörspielen reicht; die die kulturellen «spitzenleistungen» aller zeiten umfasst. die heile-welt-kultur hat bestimmte funktionen: sie soll vorallem den peripherien und dem verstädterten kleinbürgerum beweisen, dass wirklich kein grund zum nachdenken bestehe; wer aber trotzdem nachdenkt, den soll es trösten, dass der bernische grosse rat es unnötig findet, an der universität bern ein friedensforschungsinstitut einzurichten (BaZ 2.2.1979), dass aber die schweizer armee im jahr 1979 890 millionen franken allein zum kauf von 207 panzerhaubitzen braucht (eigentlich müsste der bernische grosse rat eine kommission einsetzen, die sich darüber gedanken macht, wie denn artilleriegeschütze den frieden erforschen). – ich betone: ich bin nicht abgeschweift. ich spreche von der funktion der heile-welt-kultur, mit der die massenmedien «bewusstsein» machen, tagtäglich. zu dieser heile-welt-kultur gehören hitparadenlieder, beethoven-sinfonien und dieupart-suiten für altblockflöte, zum beispiel. ich spreche als blockflötenlehrer.

die behauptung, jener elitäre teil der kultur, der jahrhunderte überdauert, habe in irgendeiner zeit grosse verbreitung oder bedeutung für die unteren bevölkerungsschichten gehabt, ist vorallem für den bereich der musik für alle zeiten gleich falsch. ein nicht unwichtiger aspekt der sogenannten kunstmusik war zu jeder zeit die beweihräucherung diesseitiger macht, der sie durch deren mäzenatentum ihre entstehung verdankte/verdankt. es ist naheliegend, dass vorallem dieser teil der musikkultur auf unsere zeit gekommen ist; kunstmusik erklang in zahlungsfähigen kreisen, die auch die drucklegung eines musikwerks finanzieren konnten. im vergleich zur heutigen situation der kunstmusik bestand aber ein prinzipieller unterschied: neben den sphären der kunstmusik existierte in hundertfältiger weise das volksgut: mündlich überlieferte lieder, melodien, tanzweisen, die fähigkeit zur improvisation und zur lebendigen weiterentwicklung von überliefertem. die oben erwähnten kulturperipherien waren nicht oder kaum berührt von der kunstmusik der zentren. in dörfern, weilern und gehöften produzierte man die musikalische unterhaltung selber. man kann sich eine abendstimmung vorstellen: ältere leute (die voll in den grossfamilien integriert waren) im gespräch, jüngere bei eigener musik, bei tanz und spiel: eine starke, in jedem einzelnen verwurzelte kultur, die sich keinen deut um die geschniegelten hofcompositeurs mit ihrem quintenverbot, ihren überkandidelten madrigalen und ihren hochgelahrten fugen kümmerte. (ich wende mich weder gegen die kunstmusik im allgemeinen, noch gegen die berechtigung des quintenverbots. ich betone nur die existenzberechtigung aller andern möglichkeiten der musikausübung, die nicht oder nur sehr verstümmelt auf uns gekommen sind, weil die notwendigkeit der schriftlichen überlieferung gar nicht bestand).

im 16. jahrhundert wurden nicht nur messen, motetten, madrigale und ab und zu ein instrumentalstück musiziert. ich behaupte, diese überlieferte kunstmusik machte den kleinsten teil der damaligen musikkultur aus: die menschen lebten mit melodien und musiken, die sie nur in ihrem gedächtnis speicherten; die einzige möglichkeit zur reproduktion war die eigene stimme, das eigene instrument; musik, die vergessen war, war unwiederbringlich verloren (aus dieser überlegung heraus halte ich es für möglich, dass das musikalische gedächtnis musikalisch «ungeschulter» menschen unverhältnismässig besser und exakter war als heute). – man wird einwenden, diese feststellungen seien reichlich lapidar, und wo denn der unterschied zur heutigen zeit liege, in der doch die kunstmusik auch nur für eine kleine schicht gedacht sei und daneben das musikangebot wie früher jedem geschmack etwas biete.

ich glaube, wer dazu neigt, obigen einwand zu unterstützen, hat von den machtverhältnissen, die unsere (musik-)kultur steuern, so gut wie nichts begriffen. die wandlung von einer gesellschaft, in der verschiedene (musik-)kulturelle ebenen friedlich nebeneinander existierten, zur heutigen, ist keine graduelle, sondern eine prinzipielle. ich kann nicht von unterschied reden. der wandlung der kultur in den letzten hundert jahren kommt die qualität einer mutation zu. in dem mass, in dem die einwegkommuniktoren presse, später auch radio und fernsehen eine zentral steuerbare informationsindustrie (deren eine unterabteilung die heile-welt-kultur ist) aufbauten, in dem mass wurden andere informations- und kommunikationssysteme vernachlässigt. an stelle der persönlichen kommunikationsformen, der rede, des mitteilens, des erzählens, des diskutierens (wohlverstanden: im mittelalter gehörte die rhetorik zu den artes liberales, den freien künsten; heute scheint das schweigen die voraussetzung für die kunst der freiheit zu sein) traten anonyme kommunikationsformen ohne direkte feedbackmöglichkeit. auf sie als einzelner irgendwelchen einfluss auszuüben, ist selbstverständlich unmöglich: entweder man glaubt der informationsindustrie oder man bleibt uninformiert: wissen ist mehr denn je zur glaubenssache geworden. – es gibt heute keine kunstmusik mehr, die neben sich eine hundertfältige musikkultur zuliesse: alle musik ist zu verwalteter «kunst»-musik geworden. indem heute kultur einseitig von zentralen massenmedien aus gesteuert wird, werden vorallem zwischenmenschliche kommunikationsmodelle zerstört: das gespräch, das zusammensein, das zusammentun usw. unsere welt wird zur kopfhörer-welt, in der sich jeder nach aussen abschliesst, um sich an die traum- und glücksspendende mutterbrust des anonymen zentrums zu legen.

es gibt keine friedlich nebeneinander existierenden kulturebenen mehr. es gibt nur noch eine ebene: die des kommerzes. wie musik klingt, welchen geschmack sie befriedigt, ist gleichgültig geworden; wichtig ist nur, dass sie den weg durch die zentralen kanäle der heile-welt-kultur geht. – es gibt keine erkenntnis, die sich nichtverbal kommunizieren lässt (anderes lässt sich sehr wohl nichtverbal kommunizieren). unsere sprache (auch die musikalische!) wird schon heute wesentlich zentral gesteuert: wir beginnen mit den augen des fernsehers zu schauen, wir beginnen mit den ohren des radios zu hören, wir beginnen mit den plastikherzen dämlicher filmgrössen zu fühlen, wir beginnen mit der moral des nachrichtensprechers zu urteilen und zu verurteilen; wir werden zusehends gelebt im interesse diesseitiger götter: dieses nenne ich kulturelle mutation; es gibt keine flucht mehr, weil es keine «vernünftige» alternative mehr gibt. ausser der selbstverweigerung.

wen sollte es verwundern, dass die gesellschaftsschicht, die den grössten nutzen aus dem konsumismus zieht, sich selbst als vorbildliche konsumentengruppe gebärdet? und wen sollte es wundern, dass die verhaltensmuster der gesellschaftsschicht, die den grössten nutzen aus dem konsumismus zieht, von einer riesigen anonymen masse – dem «kleinbürgertum» – nachgeahmt wird? diese schicht, die auf der politischen ebene opportunistische, indifferente loyalität und auf der kulturellen bedingungslosen konsumismus praktiziert, lebt alle jene verhaltensmuster, die zur verewigung des status quo nützlich erscheinen: das kleinbürgertum soll passivität, wohlstand und statussymbole nachahmen: das wird es in krisensituationen bei der stange halten. – kultur als alibi: das bildungsbürgertum lässt sich immer und immer wieder bestätigen, die komponisten helfen mit, die musiker helfen mit, das radio sendet live, die presse bespricht wohlwollend das kulturelle ereignis und die musikpädagogen züchten eine neue generation von nivellierten, valiumfressenden instrumentalathleten. der kulturbetrieb ist eine in sich stimmige lüge. – bleibt dem pfichtbewussten musikpädagogen nichts anderes mehr zu tun, als den schüler darin anzuweisen, wie er sein instrument am schnellsten zersägen kann? oder gibt es die möglichkeit, die säge zum singen zu bringen und sie gleichzeitig über dem sinnentleerten kulturbetrieb als damoklesschwert hängen zu lassen?

eine musikalische avantgarde, die sich den gesetzen des marktes unterwirft, ist nicht mehr musikalische avantgarde, sondern produzent von ware für das «avanciertere» publikum, der durch den zwang der vermarktung seiner ware jede möglichkeit, fortschrittlich-kritisch zu wirken, verliert. die idelogie des permanenten totalausverkaufs mit ihrer heile-welt-kultur hat es nicht mehr nötig, vordergründig repressiv zu werden: sie kauft die opposition gegen sich selbst auf, unterwirft sie allenfalls der politischen kosmetik und vermarktet sie mit dem hinweis auf die liberale gesinnung des konsumterrors.

die fünfziger und frühen sechziger jahre brachten einige wirklich alternative musikströmungen, die mithalfen, den aufbruch des jahres 1968 in die wege zu leiten. der frühe beat hatte eine ungeheure breitenwirkung, obschon die massenmedien zögernd, zum teil verurteilend reagierten. beat war eine protestbewegung, die vom kommerz erst später durch einverleibung unschädlich gemacht wurde. im vergleich zu den sechziger jahren ist der kommerz heute in der offensive: er ist dazu übergegangen, pseudo-protestbewegungen zu inszenieren, die einerseits zur skrupellosen ausbeutung des zielpublikums, der kinder und jugendlichen im alter von zwölf bis achtzehn jahren, andererseits zur kanalisierung und unschädlichmachung des latenten natürlichen protestgefühls, das den jungen leuten nicht zuletzt hilft, sich vom elternhaus zu lösen, dient. eine solche inszenierte bewegung ist/war der punk, der zwar in england noch eine basis des wirklichen protests gehabt haben soll. dagegen ist der «protest»-gedanke des pomadisierten plastikhelden john travolta nur noch kommerz: die kinder und jugendlichen werden vorsätzlich in ihrem protestgefühl gefoppt und genarrt (frustrierte und vollkommen verunsicherte menschen werden mit sicherheit die willenlosesten konsumenten). der massenkommerz, der längstens weiss, dass das geschäft mit den halbwüchsigen zu den einträglichsten gehört, verkauft scheinproteste billigst ab fliessband: scheinproteste im kino, auf langspielplatten, in illustrierten und magazinen, vom abziehbild bis zum motorrad: scheinprotest verkauft sich am besten.

der kommerz ist daran gegangen, kinder so früh wie möglich zu konsumenten zu erziehen: wie soll das kind etwas anderes denken oder gar wollen, wenn es nichts anderes kennt? (wer hat in den supermärkten nicht schon die niedlichen einkaufswägelchen «für unsere kleinen» gesehen und sich über die kinderfreundlichkeit der bekanntlich exakt kalkulierenden grossverteiler gewundert? früh wird manipuliert, was ein willenloser konsument werden soll.) die pädagogik, zumal die musikpädagogik nimmt diese offensive des kommerzes, die auf nichts anderes als auf die persönlichkeitsbrechung der jungen leute zielt, nicht zur kenntnis. dabei sind die jungen menschen heute zu bedauern wie noch keine vor ihnen: sie haben überhaupt keine chance mehr, zu sich selbst zu finden, weil sie gegen sich ein heer von korrupten psychologen, soziologen, marktwirtschaftern, managern usw. haben, die von der systematischen bewusstseinszerstörung, bevormundung und konditionierung der generation ihrer eigenen kinder leben. ich wiederhole: zumal die musikpädagogik nimmt solches nicht zur kenntnis. da hört man, die pubertät sei halt ein schwieriges alter oder, die jugend habe es zu allen zeiten schwer gehabt oder bestenfalls ein abgedroschenes klassiker-zitat, dass sich das gute im menschen, wenn überhaupt, trotzdem und sowieso einmal durchsetze. während vor unseren augen das beste einer ganzen generation, das in jedem einzelnen steckte, systematisch zerstört wird, ergeht sich die (musik)pädagogik in ergüssen saft- und kraftloser unfähigkeit. (musik)pädagogik muss heute vorallem die funktion haben, möglichst viele junge menschen davor zu bewahren, willenlos, als weltkriegsreife wohlstandsleichen, im meer des konsumismus zu versinken. ich bezweifle, dass sie dazu in irgend einer weise fähig ist.

dritter abschnitt: pädagogik der verweigerung

stellen wir uns vor:

– es werde heute ein junger instrumenallehrer mit dem diplom in amt und würde versetzt. stellen wir uns vor, wie sein in letzter zeit leider sehr gealterter lehrer sich noch gut erinnert, dass der junge instrumentallehrer schon immer ein braver musikschüler gewesen und dass er immer gut vorwärts gekommen sei. wir können uns auch vorstellen, dass er nach der diplomübergabe, sozusagen zur feier des tages, einige allseits beschmunzelte, zugegebenermassen allerliebste anekdoten über den betreffenden früheren schüler zum besten gibt. letztere können leider – zum bedauern des verfassers – in anbetracht, dass dieser abschnitt bestandteil einer diplomarbeit z. h. eines «lehr- und forschungsinstituts» werden soll, wegen ihrer betont unwissenschaftlichen anekdotenhaftigkeit, nicht wiedergegeben werden). stellen wir uns vor: die ersten arbeitstage. natürlich teilt der junge instrumentallehrer seine schüler auch in musikalische und unmusikalische, in solche, die es in der musik zu etwas bringen können und solche, die er trotzdem für menschlich mehr oder weniger wertvoll hält, denn so hatten es seine früheren lehrer auch gemacht, und er erinnert sich ja noch bestens an die zeit, in der er täglich fünfzehn stunden übte, um am konservatorium nicht als hoffnungsloser fall zu gelten. dass ihm von seiten der schüler oder deren eltern widersprochen wird, kommt kaum vor; schliesslich ist er ja spezialist, hat jahre und jahre musik studiert, und gerade in seiner ersten zeit kommt es zwei- oder dreimal vor, dass er auf dieser tatsache entschieden insistieren muss. stellen wir uns vor: die zeit vergeht. viele seiner schüler brechen den unterricht früher oder später ab, weil das talent nicht ausreicht, wie der instrumentallehrer, mittlerweile mit fünf jahren praxis und leicht angegrauten schläfen nicht ohne bedauern bestätigt. seine ersten pädagogischen «zucht»erfolge (wie er seine begabtesten schüler ab und zu im scherz nennt), besuchen nun auch schon das konservatorium, sein guter ruf ist weiterherum unbestritten: er verlangt etwas vom schüler, er nehme es sehr exakt, wer nicht regelmässig üben könne oder wolle, solle es besser gar nicht probieren, es gebe ja immer wieder solche, die sich zuviel zugemutet hätten, als sie zu ihm in den unterricht gingen. aber er mache halt keine konzessionen, die kunst sei ihm alles und so weiter. der vollständigkeit halber sei angemerkt, dass er mittlerweile glücklich verheiratet ist, zwei kinder hat und durch eine kleine erbschaft recht vermögend geworden ist. drei tage vor seinem vierzigsten geburtstag erhält er eine sehr nette einladung zu einem diplomkonzert seiner ehemaligen schülerin a., von der er in letzter zeit öfter als von einer überaus begabten vollblutmusikerin spricht. andere frühere schüler, natürlich die mehrheit der bis anhin unterrichteten, der jetzige postbote zum beispiel, der bankangestellte, die beiden verkäuferinnen bei der migros oder der stud. med. dent., der eine quinte nicht von einer quarte unterscheiden konnte (und heute selber über seine allerdings deprimierende unmusikalität lacht). sie alle haben ihr instrument seit jahren kaum mehr in die hände genommen. einige zeit später macht ihn ein kollege (oboe) auf einen artikel in einer musikpädagogischen zeitschrift aufmerksam. als er ihn kurz darauf liest, stört ihn vorallem der satz: «wer im musikunterricht vorwärtskommt, kommt dem bilde näher, das sich der lehrer von sich selbst macht.» als sein kollege (oboe) auf den artikel zurückkommt, sagt er, gegen junge pseudopädagogen, die noch keine praxis hätten und solche artikel schrieben, sei er ausgesprochen skeptisch. es müsse nicht immer alles niedergerissen werden, und wenn der musikunterricht nicht mehr die aufgabe habe, die heranwachsenden mit unseren unvergleichlichen kulturgütern in berührung zu bringen, welche aufgabe er dann überhaupt noch habe? wir können uns gut vorstellen, dass er das zum fenster hinausblickend und ein wenig ungeduldig sagt. danach hat er wieder unterricht: sein nächster schüler ist ein hoffnungslos unmusikalischer. (natürlich hat er das diplomkonzert von a. besucht: sie hat wie früher gespielt, mit einer soliden, sicheren technik.)

«Denn dies sollte uns endgültig klar sein: das Ziel, das jeglicher Blockflötenunterricht anstrebt, kann immer nur ein musikalisches sein – den Weg zu diesem Ziel aber zu ebnen und gangbar zu machen, ist Aufgabe der Pädagogik.» zu diesem schluss kommt Wolfram Wächter in seinem Aufsatz: «Kommerz, Kind oder Kunst? Motivationen und Zielsetzungen für den Blockflötenunterricht heute.» (TIBIA, 1977) für ihn ist die musikalische motivation des blockflötenlehrers «generell unwiderlegbar» und heisst: «Der Schüler muss nach gehabtem Unterricht besser Blockflöte spielen als vorher.» vom blockflötenlehrer verlangt Wächter fachliche qualifikation: das ideal wäre die synthese zwischen musiker und pädagoge, sagt er. das ideal ist also die synthese zwischen zwei professionellen, zwei spezialisten, die von berufs wegen in ihrem verscheuplappten arbeitssektor für qualitativ hochstehende leistung zu sorgen haben: kein unterricht ohne fortschritt, kein fortschritt ohne leistung, keine leistung ohne fachliche qualifikation, keine fachliche qualifikation ohne spezialisierung, keine spezialisierung ohne scheulklappen. «Woher die ungeheure Zahl von Kindergarten, Sozial-, Grundschul-, Früherziehungs- und Schulmusikpädagogen mit blosser Grifftabellenkenntnis ihre Legitimation zum Blockflötenunterricht nimmt, wird wohl ewig im dunkeln bleiben […] zumal diese unübersehbaren Scharen von Blockflötenschülern [76000 oder 28,5 prozent aller musikschüler nach der statistik des «Verbands deutscher Musikschulen», fl.] bisher doch wohl nur eine zahlenmässig sehr geringe instrumentale Elite hervorzubringen imstande war.»

wir leben in einer kultur, in der der entwicklungsprozess einer arbeit nichts, das resultat alles zählt. kunst ist nur als resultat zu vermarkten. ob der prozess, der zum resultat führte, nichts weiter ist als raub geistigen eigentums oder das lebenswerk eines künstlers, bleibt unwichtig. der kultur muss die pädagogik gleichen, die ja die aufgabe hat, den nachwuchs zu züchten, der den friedhof längst versteinerten gedankenguts instand zu halten hat, auf dass der besucher des gottesackers «ewiger» kulturwerte nicht von unberechenbarem lebendigem verunsichert werde. und wie die pädagogik der kultur gleicht! auch ihr ist das resultat alles, der prozess nichts. methodik? die wissenschaft, wie man auf dem kürzesten weg zum ziel kommt. was sich auf dem weg zum resultat ereignet, ist unwichtig oder lästig; der schüler muss nach gehabtem unterricht besser blockflöte spielen als zuvor. klar? irgendwelche fragen?

kann man sich das vorstellen? eine kunst, die ihr resultat verweigert; eine kunst, die als prozess nach keinem resultat zielt, sondern am schluss des prozesses aufhört zu sein; eine kunst, die nicht gefahr läuft, in museen, bibliotheken oder auf schallplatten verharmlost und entmündigt zu werden. – und analog dazu: kann man sich eine (musik)-pädagogik vorstellen, die das resultat verweigert, die sich keinen deut um zeugnisse, und diplome oder um die ansprüche der geldgeber (eltern, staat usw.) kümmert, eine musikpädagogik, die die musikalität des schülers nicht mehr an der ordentlichkeit seines vorspiels misst, die es nicht mehr darauf anlegt, nivellierte pubertätler die «elise» aus dem klavier quetschen zu lassen, sondern nur noch dieses kennt: die gegenwart im unterricht, die kommunikation bis in ihre feinsten verästelungen, den prozess der nicht kommerzialisierbaren menschwerdung. – unter welchen prämissen ist dieser gedankengang absurd?

der musikpädagogik der messbaren leistung, die die pädagogik des resultats ist (auf die die forderungen Wächters hinauslaufen und die so systemkonform sind, dass sie zu nichts mehr taugen, als zur verewigung des heutigen sinnentleerten kulturbetriebs) stelle ich die utopie einer pädagogik des prozesses gegenüber, die die pädagogik der verweigerung jeglichen resultats ist.

dass bei meiner utopie kindergarten-, sozial-, grundschul-, früherziehungs- und schulmusikpädagogen nicht einmal mehr grifftabellenkenntnis bräuchten, um blockflöte zu unterrichten, kann man als erstes einwenden. ich will mich klar ausdrücken: es wäre töricht, die notwendigkeit fachlicher qualifikation des musikpädagogen anzuzweifeln. was ich aber anzweifle, ist die sturheit des weltbildes, das hinter dem praktizierten fachwissen in seiner ausbildung durchschimmert. was zu fordern wäre, wäre nicht ein weniger an fachwissen, sondern eine verquickung des speziellen mit dem allgemeinen, eine öffnung der scheuklappen. was zu fordern wäre, wäre die einsicht in gesellschaftliche zusammenhänge, insofern sie etwas über die situation des musiklehrers, dessen zielpublikum usw. aussagen. es müsste der beruf in seinen beschränkungen dargestellt werden, die einseitige betrachtungsweise der musikgeschichte, die geradezu grotesk einseitige repertoirepflege in gewissen gebieten, die hochgezüchtete («bürgerliche») meinung darüber, welche gesellschaftliche funktion das (podiums)musizieren habe (podiumsmusizieren wäre ja in gewissen anderen kulturen etwas vollkommen stupides). es wäre zu fordern, dass weniger einseitig an der frage: wie erlange ich podiumsreife? gearbeitet wird, und dafür mehr darüber nachgedacht würde, warum in aller welt ich podiumsreife erlangen sollte (der begriff «podiumsreife» ist ja sowieso ein widerspruch in sich: die «reife» – die ja mittlerweile auch programmierbare komputer erlangen können – auf dem podium wird mit der unreife in viel zu vielen lebensbereichen erkauft). ich plädiere für die einführung der gesellschaftlichen dimension in die ausbildung des musikpädagogen: denn für die einsicht in die notwendigkeit der pädagogik der verweigerung braucht es mehr (und nicht weniger!) als für die einsicht in die pädagogik des resultats.

(als metakommunikation zu diesen letzten gedanken: nach diesem abschnitt zu schliessen, laufe ich nun gefahr, auf die argumentationsbene des reformismus abzusinken, wobei ich sofort mit den sachzwängen kollidieren werde. diese arbeit wird aber unter dem gesichtspunkt geschrieben, dass ich die prämissen nicht akzeptiere, die die sachzwänge erst zu solchen machen. meine argumentationsebene soll die der utopie bleiben.)

in jedem wie auch immer gefärbten, ideologischen jargon ist eine geisteshaltung, die sich dem nutzen, dem vorteil und/oder der allgemeinen ideologischen richtung der mehrheit verweigert: subversiv. von daher gesehen plädiere ich für nichts mehr und nicht weniger, als für eine sich gegenüber der herrschenden ideologie subversiv gebärdenden (musik)pädagogik (unter herrschender ideologie verstehe ich den konsumismus, das krebsgeschwür, das heute jedes politische system überlagert und die konsequente weiterführung des altrömischen panem et circenses darstellt. auf deutsch: willst die menschen politisch entmündigen, so gibt ihnen brot und blutende feindbilder).

wie ich in den ersten zwei abschnitten zu zeigen versuchte, war die voraussetzung für den konsumismus und dessen totgeburt, die heile-welt-kultur, die einseitige überbewertung der leistung. da ich für mich sowohl konsumismus als auch heile-welt-kultur als an sich destruktiv erachte (weil sie tausend menschen in ihrem schöpferischen selbstverständnis zerstören, um einen kulturellen modellathleten zu züchten), entwickle ich hier die utopie einer konstruktiveren kultur, die zugunsten des prozesses auf resulate verzichtet. als deren ersten vorläufer erachte ich eine pädagogik, die die kulturellen güter neu wertet: kultur darf nie zur sublimierung von stress entarten, denn sie war von jeher ein von menschen erschaffenes, das keinen anderen sinn hatte/hat als den, die qualität der zwischenmenschlichkeit in irgendeiner weise zugunsten des menschen zu beeinflussen. es steht nirgends geschrieben, dass es dazu kulturelle «spitzen»leistungen braucht; es ist nur wichtig, dass kultur geschieht, dass sie auf grosser breite geschieht und dass sie soviele menschen wie möglich in ihrem schöpferischen selbstverständnis stärkt.

wozu könnte eine pädagogik der verweigerung jeglichen resultats dienen? – für die pädagogik des prozesses gäbe es keine talentierten oder untalentierten schüler mehr: es gäbe nur noch talentierte schüler. die funktion der pädagogik bestünde in der mitwirkung bei der suche nach dem eigenen talent. ich kann mir nicht vorstellen, dass ein mensch in bezug auf musik überhaupt kein talent hat. ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass jeder blockflötenschüler zum beispiel gerade für dieses instrument talent haben soll. anstatt dass es der lehrer darauf anlegt, den schüler zum abpfeifen von barocken sonaten zu bringen (wobei das ästhetische ideal eine schallplatteneinspielung ist), müsste er den schüler zu der musik führen, die in ihm vorhanden ist. er müsste die musikalischen kräfte im schüler entdecken und fördern. pädagogik muss den schüler aktivieren, weiter musik zu machen, mit seiner musik zu leben, seine musik zu suchen: nur so kann er dem immensen druck der umwelt, willenloser konsument zu werden, etwas entgegenhalten. wer seine musik als schallplatten- oder tonbandsammlung im schrank stehen hat, der hat keine musik. pädagogik muss die leute soweit bringen, dass sie ihre musikalischen einfälle wieder selber zu realisieren versuchen; dass sie sich nicht mehr scheuen, eine eigene melodie zu singen, die ja keine gute melodie sein muss – denn es gibt nun keine guten oder schlechten melodien mehr: es gibt nur noch eigene oder fremde.

(über diese arbeit:
es ist mir klar, dass ich die utopie der pädagogik der verweigerung hier nicht klar ausgeführt habe; ich konnte nicht klarer sein, als mir die ideen heute selber sind. vieles wurde mir erst während der arbeit klar, vieles muss ich für mich noch zu lösen versuchen. ich komme zum schlussabschnitt, obschon ich weiss, dass gewisse behauptungen nur halbwahr sind und gewisse folgerungen möglicherweise auf die dauer unhaltbar sein werden. ich weiss aber, dass ich heute nicht mehr oder anderes sagen kann.)

wie das 16. jahrhundert für die menschheitsgeschichte durch verschiedene entwicklungen, ereignisse und taten einen einschnitt bildet, so wird das 20. jahrhundert einen einschnitt bilden. denn die einsicht, dass die erde eine kugel ist und sich um die sonne bewegt, kann nicht gravierender sein als die einsicht, dass eine ganze kultur, gerade in einer zeit, in der sie sich über alle zweifel erhaben fühlt, vollständig scheitern kann. dies ist in unserem jahrhundert geschehen. die weltkriege mit ihren schrecklichen greueln haben die ganze bisherige kultur in frage gestellt, in auschwitz half kein goethe und kein wagner, kein dante und kein verdi; die kulturelle wirklichkeit war, dass menschen als schlachtvieh zu seife verarbeitet wurden. wer das vergessen kann, wer sich an wagner und verdi ergötzt wie ehedem die grossen schlächter, die fiesen mitläufer und die vielen unwissenden opfer, der hat – zumindest – nichts begriffen. – der versuch «mensch», auf dieser erde einer der jüngsten, ist auf dem besten weg zu scheitern. vor dieser einsicht ist es zu wenig, schüler zu einem wohlgefälligen musikvortrag zu dressieren und im übrigen eine obskure transzendente allmacht darum zu bitten, den overkill noch einige jahre hinauszuschieben. – musikpädagogik ist vor allem pädagogik, und ihre aufgabe ist klar umrissen: pädagogik ist der versuch aller, die das leben lieben und an das leben glauben, die generation unserer kinder so zu erziehen, dass sich keines unter ihnen findet, das je den overkill auslösen würde. diese aufgabe scheint unlösbar, aber sie muss gelöst werden. allerdings: mit obrigkeitshörigem reförmchenwesen, das die wirklichen blockierenden und zerstörerischen kräfte in unserer gesellschaft nicht einmal ankratzt (oder mit glaubenskriegen über die tempoanweisungen bei quantz) ist mit sicherheit nichts auszurichten.

dies gebe ich zu bedenken.

[basel, im april 1979]

 

Die vorliegende Diplomarbeit wird im «Blockflöten-Lehrdiplom» der Musik-Akademie der Stadt Basel zwar in der Rubrik «Schriftliche Arbeiten» aufgelistet, in jener der «Diplomarbeit» aber nicht benotet. Die die Ausbildung abschliessende Hauptfachprüfung habe ich laut dem Dokument am 26. Juni 1979 abgelegt, das Diplom ist mit 18. Februar 1980 datiert und wird mir demnach rund acht Monate nach der Hauptfachprüfung per Post zugestellt worden sein (ich erinnere mich nicht mehr, lebte aber seit Juli 1979 in Zollikofen bei Bern). Ein Begleitschreiben hat sich nicht erhalten. In meiner Erinnerung ist es so, dass man mir aus Basel damals mündlich oder schriftlich signalisiert hat, dass ich das Diplom bloss trotz meiner Diplomarbeit erhalten würde. Zweifellos eine liberale Geste, die keinen Schaden angerichtet hat: Ich habe später nie als Musiklehrer gearbeitet. 

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