Die letzten Tage des Berner AJZ

 

[WoZ 14/1982, 9.4.1982]

1. «Auch zu Bern blüht schon der Krokus»

 

Im Gespräch in der Reithalle sagt einer: «Weisst Du, wenn ich nicht meine tägliche Tränengasration kriege, komme ich auf Entzug.» Berechtigter Galgenhumor: Polizeiliche Tränengaseinsätze begleiteten seit dem Eröffnungsfest im letzten Herbst den Betrieb in der Reithalle. Einerseits versuchte die Polizei die gemeinderätliche Forderung nach Sicherheit von Schiene und Strasse rund um das AJZ mit Tränengas und Gummigeschossen durchzusetzen und lieferte jenen, die es aus verschiedensten Gründen suchten, das gewünschte Räuber-und-Gendarm-Spiel. Andererseits führten Vorfrühlings-Lagerfeuer im Hof der Reithalle mehrere Male zur Alarmierung der Feuerwehr durch Anwohner (solche gibt’s immer noch im Reithalle-Areal). In schöner Regelmässigkeit trafen kurz nach der Feuerwehr einige Polizeigrenadiere ein, von denen sich wiederum einige Bewegler provozieren liessen und einige Flaschen warfen, worauf postwendend einige Petarden zurückflogen. Diesen Feuerwehr-Polizei-Mechanismus machten sich ab und zu Bewegler im Kampf gegen Dealer harter Drogen zunutze: Sie entfachten, gut sichtbar, ein Feuer, worauf die Dealer vor den sich nähernden Blaulichtern und Sirenen das Weite suchten.

Donnerstag, 25. März

Feuerwehreinsatz wegen eines brennenden Containers. Die Polizei ist anwesend. Man hält sich beidseitig zurück. Die Sache läuft glimpflich ab.

Freitag, 26. März

Nach Flaschenwürfen kommt es zu Tränengaseinsätzen der Polizei.

Samstag, 27. März

In der Berner Zeitung (BZ) fragt die Trägerschaft des AJZ’s in einer Pressemitteilung in Bezug auf die sich häufenden Polizeieinsätze: «Will der Gemeinderat die Bewegung zu Taten provozieren, die ihm Anlass geben, das AJZ nach Zürichs Vorbild verschwinden und die Probleme stehen zu lassen?» Konkret geht die Trägerschaft noch einmal auf die Vorfälle während und nach dem Vortrag von Dr. Sager vom 22. März ein.[1]

Als Abschluss der Berner Poesietage findet am Abend eine Lesung mit Christoph Derschau, Barbara Heinzius, Peter Baschung u. a. in der Reithalle statt.[2] Musikalisch umrahmt wird der Anlass vom Gitarristen Paul Ubana Jones und der Reithalle-Band. Was im Anschluss an diese Veranstaltung passiert ist, schildert der Kulturredaktor der BZ, Daniel Leuenberger, wie folgt: «Wir unterhielten uns bestens mit Poeten, Kunstmalern und Kulturredaktoren anderer Zeitungen. Einer sagte: ‘Das ist es eben, was die Reithalle so dringend braucht: Feste mit Poesie und Musik, bei denen jedermann dabei sein kann.’ Da wurde es im dichtgedrängten Publikum plötzlich unruhig: ‘D’Schmier het s AJZ umschtellt’, rief jemand. Tränengasschwaden stiegen ins Obergeschoss, wo sich die meisten Leute aufhielten und von wo nur eine enge Treppe nach unten führt. Fassungslosigkeit, Wut und panische Angst erfüllten die nach Atem ringenden Besucher.»

Noch während der Dichterlesung waren offenbar Flaschen auf die Strasse geworfen worden. Mehr als eine Stunde flogen nun Tränengaspetarden zurück. Für viele Besucher der Poesieveranstaltung war es unmöglich, das AJZ zu verlassen. Ich sah ein jüngeres Paar mit einem schreienden zweijährigen Kind. Sie suchten vergeblich einen passierbaren Ausgang.

Als tags darauf Adjunkt Amherd, in Bewegungskreisen der gefürchtetste Polizei-Einsatzleiter, darauf angesprochen wurde, dass die Poesieveranstaltung von der Stadt und vom Kanton Bern, von der Pro Helvetia sowie der deutschen und der holländischen Botschaft unterstützt worden sei, meint er gegenüber der BZ: «Wenn wir gewusst hätten, dass die Veranstaltung im AJZ stattfindet, hätten wir kein Tränengas eingesetzt.» Im gleichen Gespräch formulierte er seine Einsatzdoktrin so: «Für jede weitere Flasche eine Tränengaspetarde.»

Sonntag, 28. März

Nachdem an einem Sicherungskasten, der ausserhalb der eigentlichen AJZ-Räumlichkeiten liegt, zweimal hintereinander Sicherungen verschwinden und so die Stromversorgung des AJZ’s lahmgelegt wird, bricht abends gegen halb acht in einem Nebenhaus, einem Kulissenlager des Stadttheaters (Ecke Bierhübeli) ein Grossbrand aus. Gemeinsam mit Beweglern stehen bis zu 35 Feuerwehrleute im Einsatz, um das Schlimmste zu verhindern. Polizei und Bewegung vermuten Brandstiftung. Offen bleibt, wer das Feuer gelegt hat und warum.

Montag, 29. März

Nachdem der «Bund» in Bezug auf die Poesieveranstaltung vom Samstag meldet,  durch Steinschleudergeschosse seien eine Passagierin eines vorbeifahrenden SBB-Zuges verletzt sowie verschiedene Privatfahrzeuge und Busse der Städtischen Verkehrsbetriebe (SVB) beschädigt worden, spricht die Pressegruppe der Bewegung in einem Communiqué zum ersten Mal von Sabotage: Neben dieser «Bund»-Meldung und dem Brand am Vorabend werden unter anderem die sich häufenden Zerstörungen von Velos und Motorrädern (zum Teil wurden sie angezündet) rund um das AJZ als Teile einer gezielten Sabotageaktion gewertet, «die offensichtlich zum Ziel hat, die Bewegung zu diskreditieren und das Scheitern des AJZ-Experimentes zu provozieren».

An der sehr gut besuchten VV, die an diesem Abend stattfindet, wird darüber gesprochen, wie gegen Provokateure vorgegangen werden könnte. Gegen 21 Uhr werden im Haus zwei Personen gefasst und in den Kreis der VV gestellt, die von sich sagen, sie seien Polizeiaspiranten und seien rein privat hier, um sich zu informieren. Nach hitzigen Diskussionen lässt man sie laufen. Noch während und nach der VV werden gegen «in der Gegend stationierte Stadtpolizei von Unbekannten längere Zeit Steine geworden» (BZ 30.4.). Darauf folgt das «übliche Katz-und-Maus-Spiel» (ein Polizeisprecher).

Mittwoch, 31. März

Am Nachmittag lädt der Gemeinderat zu einer dringlichen Pressekonferenz zum Thema AJZ: Nach der Einschätzung des Gemeinderats sei weder die Trägerschaft noch die Bewegung heute in der Lage, einen geordneten Betrieb im AJZ zu führen. Deshalb stellt er ein auf eine Woche befristetes Ultimatum:

»1. Innert einer Woche sind dem Gemeinderat diejenigen Personen bekannt zu geben, die bereit sind,

• sich während den Öffnungszeiten des AJZ für einen geordneten Betrieb einzusetzen;

• mit der Polizei zusammenzuarbeiten, um Leute zu fassen, die die öffentliche Ordnung stören.

2. Die Polizei wird beauftragt, strafbare Handlungen, die vom AJZ ausgehen, zu verfolgen und gegebenenfalls im Zentrum einzugreifen.

3. […]

4. Sollten innert kurzer Zeit nicht geordnete Verhältnisse eintreten, so muss sich der Gemeinderat weitere Massnahmen vorbehalten.»

Nach 19 Uhr wird im AJZ erneut ein Brand in den Kulissenräumen des Stadttheaters entdeckt. Gemeinsam mit der Feuerwehr wird er gelöscht. Kurz vor Mitternacht brennt ein Container.

Donnerstag, 1. April

Nach 55 Tagen U-Haft kommt heute Morgen S. aus dem Amtshaus.[3] Zum gemeinderätlichen Ultimatum von gestern schreibt Peter Abelin in einem BZ-Kommentar: «Eine allfällige Ablehnung der Bedingungen brächte den Gemeinderat in Zugzwang. Eine Schliessung des Zentrums wäre wohl unabwendbar. Die jugendlichen Saboteure (bei der ‘Bewegung’ nennt man sie ‘Faschos’) hätten ihren Triumph.»

Auf der vielgelesenen Leserbriefseite des «Bundes» fordern mehrere Schreiber die Schliessung des AJZ’s, einer sogar den Abbruch der Reithalle: «Ist unsere Stadtregierung auch einmal zu einer mutigen Tat bereit wie in Zürich?» Auf der gleichen Seite beschäftigen sich fünf Leserbriefe mit den Auseinandersetzungen um das erwähnte Sager-Referat. Sager selber rechtfertigt sich in einem Leserbrief unter dem Titel: «Krawalle am Vortrag über Jugendkrawalle». Wie zufällig findet sich auf der nächsten Seite ein fast halbseitiges Inserat für Sagers Broschüre «Jugendkrawalle – Symptom einer Fehlerziehung».

Für 19 Uhr wird auf einem Flugblatt zur Demo aufgerufen unter dem Motto «WUT 82 – WIDERSTAND 82»: «Demo-Begründung für Taubstumme: Mehrere Schmiereinsätze in 1 Woche, Sabotageakte im AZ, […] Zürich: AZ futsch, Basel: Schmier-Repression, Schweiz = Psychokrieg.»

Zu dieser Demo kommt es nicht. Kurz nach halb sieben entdeckt ein Bewegler auf seinem Rundgang als Feuerwache (diese Wache funktioniert seit dem ersten Brand am Sonntag) in den Kulissenräumen [drei] Feuer, diesmal auf einem Zwischenboden direkt unter dem Dach. Feuerwehralarm, Brandbekämpfung wie gehabt, während um das AJZ die unvermeidlichen Polizeigrenadiere in Kampfmontur und zum Teil mit dem Tränengasgewehr in der Hand den Verkehr regeln. Gegen 20 Uhr ist das Feuer gelöscht. Nach Auskunft der Feuerwehr müssen alle drei Brände innert zehn Minuten entdeckt worden sein, sonst wäre man dem Feuer nicht mehr Herr geworden.

Freitag, 2. April

Gegenüber einem Bewegler schätzt ein Beamter des Hochbauamtes den Schaden des gestrigen Brandes auf eine viertel Million Franken. Die BZ publiziert zum Brand ein Foto, auf dem Bewegler und Feuerwehrleute auf Leitern gemeinsam bei den Löscharbeiten zu sehen sind. In der umfangreichen Bildlegende steht unter anderem: «Die Löscharbeiten wurden durch einen von Leuten aus der ‘Bewegung’ eingesetzten Tränengaswurfkörper gestört. Die anwesende Polizei brauchte nicht einzugreifen.»

Abends in der Reithalle: Man versucht wegen der Brände eine VV abzuhalten. Nachdem mehrere Leute Heroin-Dealer gesehen haben, lässt man die VV sein und versucht, die Händler hinauszuwerfen. Nach einigem Hin und Her zünden Bewegler im oberen Stock einen letzthin gefundenen Tränengasblindgänger. Im Nu ist der obere Stock leer. Als erste kehren die Leute der Reithalle-Band in den oberen Stock zurück, bauen ihre Instrumente auf und beginnen zu spielen. Während der Bässeler und der Schlagzeuger vor sich hin improvisieren, erklärt der eine Gitarrist dem anderen die Griffe des Stücks, das sie spielen wollen. Darum herum in lockeren Gruppen Leute, plaudernd: Mehr bekannte Gesichter als vor der Petarde. Im dämmrigen Vorraum das Teestübli. Zehn Leute haben den ganzen Nachmittag gearbeitet hier; monatelang haben sie immer wieder genagelt, geschraubt, gesägt, gestrichen. Morgen soll der Raum eingeweiht werden. Einige Schritte weiter im neuen Infozimmer sitzen drei Bewegler, in ihre Lektüre versunken.

Ab und zu schlurft einer vorbei, einen grossen Sturzhelm auf dem Kopf, in den Händen eine grosse Taschenlampe und einen Holzstock. Gleichmütig dreht er seine Runden. Langsam kriegt die Reithalle-Band im oberen Stock das neue Stück zusammen.

 

[WoZ 15/1982, 16.4.1982]

2. Die letzten Tage des Berner AJZ

 

Die «WoZ» berichtete vergangene Woche über die zwielichtige Rolle der Berner Behörden und der Polizei in Sachen AJZ, offiziell «Autonomes Begegnungszentrum» (ABZ) genannt. Jeder noch so geringe Anlass genügte der Stadtregierung, um öffentlich ihre Meinung kundzutun, das «Experiment Reithalle» sei «gescheitert». Allerdings machte es ihr die Berner Bewegung nicht so leicht, diesen Wunsch auch in die Tat umzusetzen, wie das in Zürich der Fall war. Der Betrieb im Berner AJZ wurde allen Widrigkeiten zum Trotz aufrechterhalten. Man zeigte sich wendig in der Öffentlichkeitsarbeit und liess sich auch soziale Probleme wie Drogen und Alkohol möglichst nicht über den Kopf wachsen. Am 5. April fand eine gut besuchte Vollversammlung zu den möglichen Folgen des am 31. März von der Stadt gestellten Ultimatums statt. Auf die unerfüllbaren Forderungen wollte niemand eingehen. (Wer will schon ein AJZ, das nachts geschlossen ist, mit einem Leiter, der mit den Bullen zusammenarbeitet?) Nachdem sich sogenannte Personen des öffentlichen Lebens für die Erhaltung des ABZ eingesetzt hatten, krebste der Gemeinderat (Exekutive) vorübergehend zurück. Am 6. April gab er bekannt, es handle sich bei den von ihm formulierten «Betriebsbedingungen» nicht um ein Ultimatum, sondern um eine «Eingabefrist für Stellungnahmen zu den Forderungen». Doch den scheinheiligen Worten des Fürsorgedirektors Bratschi (SP) traute niemand mehr so recht: «Dieser Versuch hat eine wichtige Funktion in unserer Gesellschaft […] nur mit allseitigem Verständnis […] stetiger Bereitschaft […] Gespräch […] Probleme lösen […]» Blabla. Das Misstrauen war, wie sich am Mittwochabend herausstellte, gerechtfertigt. Nach Ablauf der Frist kam ohne Gefackel die Räumung.

Mittwoch, 7. April

Eine Meldung der Telefonzytig: Morgens um 01.45 Uhr wird ein Jugendlicher, der als Brandwache einen Rundgang macht und als Brandwache gekennzeichnet ist, vor dem AJZ von einer Polizeistreife festgenommen und auf den Waisenhausposten gebracht. Ein Polizist bei der Festnahme: «Du kannst ja deine Brandwache bei uns im Keller weiterführen.» Auf dem Posten wird der Jugendliche eine halbe Stunde lang verhört, angeblich um die Personalien zu überprüfen. In dieser Zeit wird er von einem Polizisten mehrfach als «Sauhund», «Arschloch» u.a. beschimpft und wegen einer Busse, die schon längst bezahlt ist, mit zehn Tagen Haft bedroht.

Heute geht die offizielle Stellungnahme der Trägerschaft zum Ultimatum an den Gemeinderat. Zur ersten Forderung (namentlich Verantwortliche für den AJZ-Betrieb) zitiert die Trägerschaft aus den «Vorbemerkungen der Bewegung» zum Budget, das am 19. März eingereicht wurde: «[…] Der Forderung nach Angabe von verantwortlichen Leitern können wir keinesfalls nachkommen. Zum einen wären dadurch die Autonomie im Sinne der Unabhängigkeit von den Stadtbehörden verletzt, zum andern gibt es in den Arbeitsgruppen gar keine verantwortlichen Leiter. Die konsequente Ablehnung jeglicher Hierarchie war von Anfang an eine Grundidee der ‘Bewegung’ […].»Die Trägerschaft betrachtet deshalb die gemeinderätliche Forderung als gegenstandslos. Zur zweiten Forderung (Zusammenarbeit mit der Polizei) nimmt die Pressegruppe in der am nächsten Tag erscheinenden «Gegeninformation» Nr. 2 («Drahtzieher für lausige Zeiten») Stellung: Nachdem noch einmal die Polizeimethoden der letzten Zeit beschrieben worden sind, steht als lakonische Folgerung: «Dass der Gemeinderat nun die Zusammenarbeit von ‘verantwortlichen’ Personen im AJZ mit dieser Polizei verlangt, mutet mehr als komisch an.»

Am Abend wird der Feuerwehr ein neuerlicher Grossbrand in der Reithalle gemeldet. Die drei eintreffenden Löschwagen kommen nicht zum Einsatz: Als die Feuerwehr abziehen will, ordnen die unvermeidlichen Polizisten die Löschung des kleinen, mit Backsteinen eingefassten Lagerfeuers auf dem Parkplatz vor der Reithalle an. Pech für die Polizei: Nicht einmal ein Flaschenwurf liess sich durch die Kinderei provozieren.

Donnerstag, 8. April

Um 18.00 Uhr läuft das Ultimatum ab. Zu dieser Zeit treffen sich im oberen Stock der Reithalle Presseleute, Trägerschaft und etwa hundert Bewegler zur Pressekonferenz, die in der Art einer VV abgehalten wird. Als Diskussionsgrundlage dient die erwähnte «Gegeninformation». Bewegler erzählen, die Journalisten fragen, dazwischen Sprüche, Gelächter, Zwischenrufe, gute Stimmung.

• Vom Poesieabend (27. März) ist noch einmal die Rede: Ein Bewegler berichtet, wie er über eine Mauer im hinteren Teil des Reithalleareals versuchte, das zweijährige Kind, das während des Tränengaseinsatzes mit seinen Eltern in der Reithalle war, aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Kaum wurde sein Gesicht jenseits der Mauer sichtbar, traf ihn eine Tränengaspetarde im Gesicht: Platzwunde, Nasenbeinbruch, Augenverletzung. Nach Auskunft seines Arztes wird die Sehfähigkeit für immer beeinträchtigt bleiben.

• In letzter Zeit versucht die Polizei vermehrt, Tränengas durch Fenster und Türen ins Innere des AJZ’s zu schiessen.

• Aus der «Gegeninformation»: «Durch seine verfehlte Politik in Bezug auf das ehemalige Kulissenlager des Stadttheaters im hinteren Teil der Reitschule, durch das Verhindern jeder Nutzung dieser Räume, hat der Gemeinderat den Brandstiftungen dort richtig Vorschub geleistet. Die AJZ-Benützer dürfen nun für diese Räume, die der Gemeinderat ihnen bisher verweigert hat, eine Brandwache aufstellen und werden dafür von der Stadt nicht einmal entschädigt.»

• Über die Ostertage soll gezeigt werden, wie sich die Bewegung einen funktionierenden AJZ-Betrieb vorstellt, meint ein Bewegler abschliessend.

Freitag, 9. April

Das Teestübli hat schon früh geöffnet. Frisbee-Teller segeln entlang der Dachstockbalken. In einer Ecke jonglieren welche mit einem Fussball. Abends sorgt wieder eine spontan gebildete Gruppe von Musikern für Betrieb.

Samstag, 10. April

Friedlicher Reithallebetrieb: um Mitternacht Filmvorführung. Bewegler zeigen Super-8-Eigenproduktionen.

Sonntag, 11. April

Nachmittags: Malaktion. Auf dem Parkplatz vor der Reithalle werden ein Mühle- und ein Backgammon-Spielfeld aufgepinselt. Der Haupteingang wird verschönert. An der Vorderfront wird ein grosses, buntbemaltes Transparent aufgezogen.

Montag, 12. April

An der VV viele ermüdete Ostermarschierer. Werktagsprobleme: Wer macht die nächste Brandwache? Für einige kleine Schäden an den Musikanlagen wird eine Geldsammlung veranstaltet. Für den Donnerstagabend wird eine VV angesagt, damit man den zu erwartenden Gemeinderatsbeschluss bequatschen kann. Was passiert, wenn sie trotz allem schliessen?

Einer berichtet, ihm seien sämtliche Bundeshaussprayereien der Friedensdemo angehängt worden. Wo er die 16'000 Franken hernehmen solle.

Dienstag, 13. April

Eine Gefahr weniger für das AJZ: dem geplanten Neufeld-Autobahnzubringer soll die Reithalle offenbar nicht geopfert werden. Die Vernehmlassung der Fachkommission «Schützenmatte» hat nach dem heutigen «Bund» ergeben, dass «die Erhaltung der alten Reitschule und der Betrieb eines Jugendzentrums (wenn auch mit etwas abweichenden Formulierungen bezüglich AJZ) bejaht» werde.

Morgen Nachmittag: Gemeinderatssitzung.

Mittwoch, 14. April

Die grosse Wut!

 

Dieser zweite Teil der Chronik wurde auf der Titelseite der WoZ Nr. 15 /1982 mit einem Anriss eingeleitet, der auf die Ereignisse des 14. Aprils 1982 einging:

 

Berner AJZ geschlossen: Die Kraniche ziehen weiter

 

Die Geschichte mit dem «seltsamen Vogel» (Polizeierklärung), der im Berner Autonomen Begegnungszentrum (ABZ oder AJZ) als Osterbraten auf einem Feuer schmorte und sich später als Kranich aus dem Tierpark «Dählhölzli» entpuppte, kam den Berner Behörden gerade recht: Weil das ABZ, wie die WoZ berichtete, bis zur Schliessung vom Mittwochabend immer besser funktionierte, war die Polizei dauernd darauf angewiesen, kleine Vorfälle aufzubauschen, um Stimmung für die längst angesteuerte Schliessung zu machen.

fl./dw.[4] Die grosse Wut packte Aktivisten der Berner Bewegung, der ABZ-Arbeitsgruppen und der Reithalle-Benützer, als am Mittwoch um 17 Uhr 30 die Polizei das AJZ einkreiste. Gleichzeitig informierte Polizeichef Marco Albisetti (FdP) die «dringend» zusammengetrommelte Presse, die Räumung habe soeben begonnen.

Nur etwa fünfzig Uniformierte waren zunächst im Einsatz; Hunderte von Gaffern, darunter zahlreiche Polizisten in Zivil, verfolgten die sich langsam abwickelnde Räumung. Einige Jugendliche wurden sofort freigelassen, viele aber festgenommen. Ab und zu knallte eine Tränengaspetarde.

Durch die AJZ-Räumung verlor die Bewegung auch ihre Medien: Die Zentrale der «Telefonzytig» befand sich in der Reithalle und auch die Vorlagen für die Bewegungszeitung «Drahtzieher», die am Wochenende hätte produziert werden sollen, blieben im Begegnungszentrum zurück.

Um 20 Uhr entlud sich die grosse Wut zum ersten Mal an diesem Abend, als die Polizei vor dem «Breitschträff» den Versuch, eine Vollversammlung abzuhalten, mit Tränengas auflöste. Von diesem Augenblick an war die Kommunikation nicht mehr möglich. In kleinen Gruppen durchstreiften etwa zweihundert Militante die Stadt und lieferten der Polizei einen Kleinkrieg im Stil des Zürcher Sommers 1980. Überall zerschellten Schaufensterscheiben.

Die Polizei arbeitete nach Augenzeugenberichten wiederum mit «Faschos» zusammen, die Demonstranten – unter anderem auf dem Bärenplatz – zusammenschlugen und den Ordnungshütern zuführten.

Daniele Jenni, Stadtrat der «Demokratischen Alternative» (DA) und Mitglied der AJZ-Trägerschaft, erklärte der WoZ in einer ersten Stellungnahme, die vom Gemeinderat als Ultimatum formulierten «Betriebsbedingungen» für die Reithalle seien nicht erfüllbar gewesen. Sie hätten nur dazu gedient, einen Vorwand für die «von langer Hand vorbereitete Schliessung» zu liefern.

Dabei hatte der Frühling im Berner AJZ so vielversprechend angefangen. Über die letzten Tage in der Reithalle berichten wir ausführlich auf Seite 7.

[1] An diesem Montagabend hatten Bewegler eine Veranstaltung gestört, an der Peter Sager, als Leiter des Schweizerischen Ostinstituts damals einer der führenden antikommunistischen Ideologen im Land, seine Sicht auf die aktuellen Jugendunruhen vortragen wollte (vgl. auch WoZ Nr. 12 / 1982).

[2] Gemeint ist hier jener Raum, den man heutzutage als «Dachstock» bezeichnet.

[3] S. war am 6. Februar 1982 verhaftet worden unter dem Verdacht, «offenbar als Anführer bei den Ausschreitungen [an jenem Samstag, fl.] in Erscheinung getreten» zu sein (WoZ Nr. 7 / 1982). Danach wurde er unter «äusserst vage begründeten Anschuldigungen» schliesslich fast zwei Monate in Untersuchungshaft gehalten (vgl. auch WoZ Nr. 12 / 1982).

[4] Wer «dw.» war, erinnere ich mich nicht mehr. Ich bitte die Person hiermit um Erlaubnis, unsere Co-Produktion an dieser Stelle zweitveröffentlichen zu dürfen.

Die beiden Teile der Chronik hat A. J. Zangger unter dem Pseudonym «Fredi Lerch, Berner-Schreiberkollektiv» verfasst, das er von nun an immer häufiger verwendet.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5