ARBEIT IST VERRAT AM PROLETARIAT

die sprachlosigkeit der söhne
ist die taubheit der väter

I unsere jugend ist nicht identisch mit unserer jugend

im letzten sommer soll es bürgerinnen und bürger gegeben haben, die nicht nur mit verhärtung, sondern auch mit verunsicherung reagiert haben auf die seifenblasen in der telearena, auf die nacktdemonstranten in zürich, auf herrn müller im ch-magazin («…das ist so eine CB-Granate, von der ja dauernd behauptet wird, sie sei krebsfördernd – hoffentlich ist sie’s…»), auf die slogans der bewegung (NIEDER MIT DEN ALPEN – FREIE SICHT AUFS MITTELMEER). bereits breitete sich furcht aus, von den monobetonierten wohnsilos und lebefabriken bis hinan zu den villen jener, die ernsthaft zu bangen begannen um die karosserie des drittwagens beim einkaufsbummel an der freiebahnhofstrasse: ausbreitete sich die furcht vor jenen, die offenbar nicht fähig waren, die sozialisierende wirkung des real existierenden freien durchblicks aufs paradies zu verspüren. in dieser situation warfen sich stosstrupps liberalen bürgerlichen geistes in die bresche und widerlegten präventiv die zu befürchtenden forderungen jener «Vandalen (, die) nicht identisch sind mit unserer Jugend» (aus einer EVP-erklärung, (TA 3/6/80) mit einer in ihrer einfachheit genialen formel: SPRACHLOSIGKEIT: «Heute sind Wertmuster zwar vorhanden, aber – und das ist bemerkenswert – nicht aussprechbar» (dr. jost, BZ 23/7/80).

II mit lautem PLUMPS verunsichert

einerseits wurde also «Sprachlosigkeit» analysiert, andererseits die bewegung in «Rädelsführer, Brandbombenwerfer und zerstörungswütige Linksradikale» unterteilt, die aufgepeitscht werden durch die «permanente Hetze linker Politdemagogen» (SVP-communiqué, TA 3/6/80). in die saubere diagnose: SPRACHLOS UND LINKS platzte schon im letzten november die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen mit ihren «Thesen zu den Jugendunruhen 1980» und den darin enthaltenen beunruhigenden feststellungen: «Aber die Jugend ist keineswegs sprachlos» (s. 9) und «Sie (die kommission) glaubt nicht an die ‘Drahtziehertheorie’» (s. 12). nach diesem ersten schock am 1. mai 1981 in basel der zweite: als reaktion auf die ereignisse an jenem tag weist die basler PdA «mit Verständnislosigkeit und Entrüstung die arbeiterverachtenden und asozialen Parolen wie ‘Arbeit ist Verrat am Proletariat’ u. a. zurück, wie sie von den Jugendlichen aus dem AJZ mitgetragen wurden» (BaZ 8/5/81) und weiter: «Insbesondere wendet sich die PdA gegen die Aussteigerideologie, deren Kern die Arbeitsverweigerung darstellt…» (BaZ, 22/5/81) – was soll jetzt das? für die rechte SVP sind die bewegler «Rädelsführer und «linksradikal», für die linke PdA sind sie «Elemente» und «Provokateure» (BaZ, 8/5/81). wo bleibt denn da das griffige feindbild, wenn die blauäugige feuerwehr des bürgerlichen geistes und die gottlos roten chefideologen gleichermassen und wie ein mann mit lautem PLUMPS aus ihren ideologischen galoschen kippen? wo bleiben die ewigen werte, wenn  linke und rechte sandkastengenerale plötzlich merken, dass sie auf der gleichen seite der front stehen – gegen die eigenen kinder?

III wenn ein goldenes kalb gold kalbt

wenn wir von arbeit sprechen, sprechen wir auch von konsum, und umgekehrt. und wenn wir von arbeit und konsum sprechen, geht’s an unser innerstes (gleich neben der seele: abteilung für wertvorstellungen). denn: wenn arbeit und konsum in frage gestellt werden, was bleibt uns dann noch? wenn das alle täten und überhaupt. arbeit und konsum sind die zwei seiten eines unserer goldenen kälber (präziser: für eine minderheit vor allem gold, für die mehrheit vor allem kalberei). der tanz ums goldene kalb geht wie wild, immer weiter, muss immer weiter gehen, trotz infarktuösen zuckungen und klumpenden stressgeschwüren, obschon nur eine minderheit weiss, was das endlose rundstreckenrennen soll. muckst jemand auf, dann muht das kalb missmutig das magische wort: ARBEITSPLÄTZE und schon hechelt’s und zuckt’s, rast’s und wuchert’s weiter, brav wie es soll. – und jetzt kommen welche, setzen sich abseits, machen keinen wank richtung kalb und brummen: leckt uns am arsch. das ist ein skandal. scheint’s.

IV SCHAFFÄ, SCHAFFÄ, SCHAFFÄ

das ist klar: nicht jede arbeit ist arbeit. arbeit, die nicht bezahlt wird, ist bestenfalls freizeitbeschäftigung. das haben studenten, hausfrauen und demonstranten gemeinsam: sie sind arbeitsscheu, denn sie verdienen nichts. nur bezahlte, stressende, langweilige, entfremdete arbeit ist arbeit: ARBEIT IST SÜSS, SO SÜSS WIE MASCHINENÖL (PAJZ, bern). entfremdete arbeit ist soweit sinnlos, dass einer sie nie tun würde, wenn er nicht das geld, das er dabei verdient, brauchte: WER DIE ARBEIT SIEHT / UND SICH NICHT DRÜCKT / IST TOTAL VERRÜCKT! (AJZ I, basel). oder man steigt aus: WERDE GLÜCKLICH, WERDE ARBEITSLOS! (AJZ I, BASEL). oder man wird aggressiv: MACHT KAPUTT, WAS EUCH KAPUTT MACHT! oder Du beginnst nachzudenken: generationen von menschen sitzen in lärmigen, stinkenden, hoffnungslosen produktionshallen, verraten und verkauft, hängen hoffnungslos am konsumangelhaken und strampeln sich am fliessband zu tode – statt zu leben: ARBEIT IST VERRAT AM PROLETARIAT!

V KLOBUS, MIGROS – MIKLEIN

«Diese jungen Leute sind entschlossen, sich selbst und ihre Bedürfnisse zu achten, und sie nicht für ein paar miserable Ersatzstücke bei MMM, Globus, Mövenpick und Jumbo letztlich ersatzlos einzutauschen» (Brächise no. 15, 30/4/81). – der konsumterror ist gerecht und unbestechlich. der konsumterror ist allumfassend. der konsumterror spricht: «Lasset die Kindlein und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen, denn solcher ist das real existierende Paradies.» ES LEBE DER KOMMERZ (barfüsserplatz, basel) und nicht vergessen: der konsumterror sieht alles, darum KONSUMIERE (hirschengässchen, basel). nur schlechte menschen sagen: MIR LÖHN UNS NIT KONSUMIERE (am basler stadttheater, febr. 81). nur dem bösen verfallene menschen sagen: HÖR AUF, DEINE UNTERDRÜCKUNG ZU FINANZIEREN: KAUFE NICHTS (AJZ I, basel).

VI DANN BLA, BLA, BLA

zumindest in erwägung zu ziehen wäre, ob die jugendlichen möglicherweise wirklich meinen, was sie in ihrer wissenschaftlich attestierten sprachlosigkeit von sich geben: ZUR HÖLLE MIT DIESER NUR AUF IHREN FINANZIELLEN PROFIT AUSGERICHTETEN GESELLSCHAFT! (PAJZ, bern). – auch du kannst dieses neue lebensgefühl erleben: glaub deinem bauch und sag’s in einem satz: WENN VIELE MENSCHEN, DIE SICH NICHT VIEL LEISTEN KÖNNEN, VIEL LEISTEN MÜSSEN, DAMIT WENIGE MENSCHEN, DIE NICHT VIEL LEISTEN MÜSSEN, SICH VIEL LEISTEN KÖNNEN, DANN BLA, BLA , BLA (AJZ I, basel). fühlst Du Dich in sachzwänge einbetoniert? weisst Du Deine fähigkeit zur kritik auf packeis gelegt? atmen bringt’s! atme tief durch und blase eine schöne grosse seifenblase oder zwei: das wirkt befreiend.

VII je verwackelter das feindbild, desto identitätskrise

ich versuche den verzweifelten kampf vieler aufrecht zu salzsäulen erstarrter schweizer zu verstehen um ihr arg verwackeltes und zerzaustes feindbild (wenn man nicht mehr weiss, wo der feind steht, so ist man umzingelt, oder?); ich sehe die ratlosigkeit und die wut vieler in anbetracht deutlicher kratzspuren am goldenen kalb (gleich neben der seele: abteilung für wertvorstellungen: SCHAFFÄ, SCHAFFÄ, SCHAFFÄ); mein herz weint mit jenen, die in der inschrift über dem eingang des KZ’s auschwitz immer noch nichts zynisches zu erkennen vermögen und sie den unzufriedenen jugendlichen am liebsten eigenhändig in die knochen peitschen  würden – zu verstehen suche ich alle jene, aber: ich verstehe auch jene, die all jene langsam nicht mehr verstehen wollen, weil auf die dauer einfach nicht ganze generationen mit einem halben dutzend fadenscheiniger sprüche sozialisiert werden können.

im einzelnen:

1. wirmusstenauchundnochganzanders 2. waswürdewennallesowollten 3. immerallesniederreissenwerdetzuersteinmalpositivkonstruktiverwachsen
soldatehemannfamilienvatervorgesetztererzieherchefgrossvaterahvbezüger
dannredenwirwiederzusammen 4. ihrhabtjaalleswaswirimmergernefüruns
gehabthätten 5. gehtdochnachmoskauwennseuchnichtpasst 6. ARBEIT MACHT FREI

VIII SAGT NEIN!

ja, freunde: wenn wir erst damit beginnen, sinnvolle arbeit von sinnloser arbeit zu unterscheiden und uns lieber eine zeitlang mit dem existenzminimum befassen, als damit, mitzuhelfen, die kanonen für den dritten weltkrieg zusammenzubauen und die kühltürme für den atomstaat, dann werden unsere linken und rechten, die ausbeutenden und ausgebeuteten väter allesamt hilflos mit den ohren wackeln, aber schon das wäre ja ein fortschritt: denn hilfos wackelnde ohren bedeuten in ersten bescheidenen ansätzen BEWEGUNG. so weit müssen wir kommen: auch gegen unseren eigenen kurzfristigen materiellen vorteil «nein» sagen, wie es nach dem zweiten weltkrieg der todkranke wolfgang borchert in seinem grossen manifest geschrieben hat: «Du, Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! (…)» – freunde, wir das ein fest sein, wenn sich die manager des programmierten weltuntergangs selber ins überkleid stürzen und selber wieder zum schraubenschlüssel und zur maurerkelle greifen müssen, um die kanonen und die kühltürme zusammenzubauen, weil sich einfach keiner mehr findet, der für sie die dreckarbeit machen will, die sich gegen unser leben und gegen unsere zukunft richtet.

PS. so, verkehrter karl marx, du kannst dich in deinem grabe zurückdrehen: für heute ist’s genug.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5