Das Schreckhorn stand in goldnem Novemberlicht,
Der Bergahorn noch grün vor dem ersten Frost.
Nun taucht die Bahn in Schattentürme
Und aus der Lütschine steigt der Abend.
Die Glieder warm und müde vom Sonnentag,
Das Bahnabteil von Ausflüglern übervoll.
Halb dösend geht mein Sinn zurück zur
Grossen Scheidegg und zum Glanz der Firne.
Der Bahnhof Zweilütschinen: Hier reckt der Berg
Die schroffen Zinnen senkrecht ins letzte Licht,
Und spielzeuggross stehn auf den Graten
Fliegende Föhren im leeren Himmel –
Ein Blitz. Ein greller Schmerzblitz: Es flattert hoch
Am Föhrengrat ein Fetzen versteinter Angst;
Vergessne Weltverlorenheit:
Plötzlich ist Frühsommer einundsechzig,
Die gleiche Bahn fährt langsam talaufwärts und
Die Grate stehen bleiern im Mittagsdunst.
Ich weiss: Hier gibt es kein Entrinnen.
Strömender Regen danach in Wengen.
Die Tränen schmerzten, trotzig verschluckt, im Hals.
Der Esssaal voller Kinder: gespenstisch froh
Und laut. Die Fenster voller Nacht und
Nebel, sonst nichts. Meine Welt verloren.
Da brannte sich als leeres Signal, verklumpt
Zum Magenblitz, was undenkbar war, ins Fleisch:
Die Mutter hatte mich verstossen
Hinter die Grate ins Ferienlager.
An diesem Abend starb meine Hoffnung ab,
Dass mir ein Meistgeliebtes erreichbar sei.
Mich überzog wie Schorf der Tagtraum,
Schützte und wehrte zugleich, was lebte:
Verschämt und leidenschaftlich verehrte ich
Nun hoffnungslos das Schöne: ein Mädchen, gross
Und vierzehn Jahre alt. Sie war das
Älteste unter den Lagerkindern.
Bestaunten abends jeweils die Kinder stumm
Das letzte rote Licht auf dem Jungfraufirn,
Dann zog es mich in ihre Nähe
Stumm und verloren dem Fernsten nahe.
[...]
[18.-20.8., 13./14.9.2005]
[Aus meinen Notizen entnehme ich, dass nach der Beschreibung des Novembertags in den Bergen und nach der Rückblende auf die Tage in Wengen Anfang der sechziger Jahre ein dritter Teil geplant war, der – vermutlich mit der Frage: Warum hast du mich damals weggeschickt? – die Mutter konfrontieren sollte, die knapp zwei Monate zuvor gestorben war. Als Pointe: Mutter schweigt; mit ihr ist auch ein Stück von mir/ von meiner Geschichte gestorben.]