«Der Glur?» – Da war ein Rädchen zuviel im Kopf,
Bei diesem Mann. Ein komischer Kauz, ein Arzt,
Verkrachte Existenz, Verfasser
Zahlreicher Bücher, Chronist des Dorfes.
Die Kirchenmauer ziert eine Tafel, die
Erinnert: Glur, getauft hier im Dorf, am Tag
Bevor Napoleon Bern besetzte,
Schüler der Mönche im Kloster hinter
Der Rot, dem Grenzbach. Später Student in Bern,
Berlin, Paris, dann Rückkehr ins Dorf als Arzt
Mit eigner Praxis. Heirat, Kinder –
Und eine Welt, die verbessert sein muss.
Er postuliert: «Die Kenntnis der Heimat steht
Am Anfang jedes Dienstes am Vaterort»
Und predigt feurig seinen Dörflern:
«Sie ist die Weihe des wahren Volksfreunds.»
Er forscht, entziffert, sammelt und deutet aus,
Vertieft sich in die Vorzeit und formuliert
Mit schroffem Urteil. Rasch gekränkt und
Ärgerlich liest man dann seine Chronik,
Verbietet Glur den Zugang zum Dorfarchiv,
Entlässt ihn grollend aus dem Gemeinderat
Und meidet fleissig seine Praxis.
Dann stirbt die Frau. Übereilte Heirat,
Skandal der Scheidung, Geldsorgen, Kinderlärm.
«Da sieht mans», heissts im Dorf und misstraut erst recht
Dem Wortgeklingel Johann Glurs von
«Aufklärung», «Christentum», «Bildung», «Freiheit».
Dann wird die Rot zur Front und die Stadt Luzern
Zum Hort der Reaktion. Das Fanal des Streits:
Die Jesuitenfrage. Glur ist
Siebenundvierzig. Er ruft zum Kampf, und
Mit dreissig Dörflern zieht er als Feldarzt los
Zum wilden Zug der Freischaren an die Reuss,
Gerät nach Stunden Marschs ins Feuer,
Flieht wie die andern erschöpft und kopflos:
Vor Altbüron gestellt und nach Willisau
Geführt als Kriegsgefangner, beschimpft als Glur,
«Der Rädelsführer z’Roggel unten!»,
Freigekauft später von Berns Regierung.
Als erster ausgezogen, zurückgekehrt
Als letzter und geschlagen. Die Sieger sind
Zwar antijesuitisch, aber
Nicht radikal wird die Schweiz der Zukunft.
Zuhaus die dritte Frau und in siebzehn Jahrn,
Erneut neun Kinder. Dann holt der Tod auch sie.
An weitern, selbstverlegten eignen
Schriften verarmt er dann schliesslich völlig.
Im Spätherbst neunundfünfzig zieht Doktor Glur
Ins nunmehr leere Kloster Sankt Urban. Hier,
Am Ort vertriebner Lehrer, will er
Seine Memoiren verfassen. Dies wird
Sein letzter eitler Traum: Er erkrankt und stirbt
Schon bald nach einem Krankenbesuch. Das Dorf
hat ihm gedacht als eines Wirrkopfs.
Mir ist er Bruder im Geist geworden.
[29.-31.7.1999; 11.4.2001]