Hilfe, wir wollen leben!

Viele Bürger dieses Landes mögen aufgeatmet haben, als die Meldung von der generalstabsmässig geplanten Endlösung des Zürcher AJZ’s an der Limmatstrasse durch die Medien gegangen ist.(1) Viele mögen gedacht haben: «Endlich wieder Ruhe und Ordnung in Zürich» und «Das soll uns nicht noch einmal passieren.» So denken die Politiker, die die Polizei anweisen, härter gegen die Jugendbewegung vorzugehen: In Zürich besteht seit einem Jahr ein faktisches Demonstrationsverbot. Sich bildende Demonstrationszüge werden sofort mit Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst. So denkt auch das Bundesgericht, das den Tatbestand des Landfriedensbruchs in einer Weise auslegt, dass man sich fragen muss, «ob es nicht schon ein Vergehen ist, sich zu politisch unruhigen Zeiten in einer belebten Strasse aufzuhalten» (Markus Felber in der «Berner Zeitung»). Mag sein, dass mit solch rigoroser Rechtsstaatlichkeit die Bewegung von der Strasse gefegt werden kann. Damit werden aber die gesellschaftspolitischen Probleme, an denen sich die Unruhen vor fast zwei Jahren entzündet haben, nicht beseitigt.

Zwar gibt es rechtsbürgerliche Erklärungsversuche der Jugendunruhen; jener der Genfer Professorin Jeanne Hersch («Antithesen») oder jener des Leiters des Ostinstituts, Dr. Peter Sager («Jugendkrawalle – Symptome einer Fehlerziehung»), die als Ursachen der 80er Unruhen einseitig den Zerfall von Werten, Normen und Sitten sehen. Obschon dieser Aspekt – selbstverständlich mit der Anschlussfrage: Wer hat die Gesellschaft geschaffen, in der althergebrachte Werte, Normen und Sitten offenbar zwangsläufig zerfallen? – nicht ausser Acht gelassen werden soll, vernachlässigt er doch die Frage, die bereits die Eidgenössische Jugendkommission in ihren «Thesen» zu den Jugendunruhen des Jahrs 1980 angesprochen und auf die weder die Gesellschaft noch die offizielle Politik Antworten hat.

Hierzu einige Stichworte:

• «Keine Macht für niemand.» – Bei weitem nicht nur im Bewusstsein Jugendlicher breitet sich die Angst vor der immer schneller voranschreitenden Konzentration wirtschaftlicher Macht aus. Dies ist auch die Triebfeder der Anti-AKW-Bewegung, die nach dem bundesrätlichen Grundsatz-Ja zu Kaiseraugst innert drei Tagen eine Demonstration von 30000 Menschen in Bewegung brachte.

• «Monobetonie.» – Die systematische Umweltzerstörung gerade in den Städten und Agglomerationen vernichtet allzuoft dringend notwendigen Lebensraum von Kindern und Jugendlichen. Dazu kommt die Frage: Wie sollen wir im Jahr 2000 noch leben können, wenn das so weitergeht?

• «No future.» – Zukunftsangst; Endzeitstimmung; Jugendalkoholismus; Drogen; Angst vor der endgültig zerstörten Umwelt; Angst vor dem Krieg (Stichwort: Friedensbewegung); Wohnungsnot in den Städten; Arbeitsplätze, an denen der Stress derart ist, dass gesundheitliche Schäden unausbleibbar sind; Arbeitslosigkeit und dauernde Angst vor drohender Entlassung.

Diese Stichworte sollen hier nicht anklagen. Sie sollen bloss belegen, dass die Jugendunruhen nicht nur mit Autoritätsverlust von Kirche, Staat, Armee, Politikern, Lehrern und Eltern zu erklären sind.

Mag sein, dass der Verdienst der Jugendbewegung darin besteht, dass sie durch ihren vehement vorgetragenen Protest die Existenz der bestehenden gesellschaftspolitischen Probleme ins Bewusstsein breiterer Bevölkerungsmassen getragen hat. Ob ihr letztes AJZ, das in der Reithalle Bern, in dem nach wie vor gegen hundert Jugendliche unter enormem gesellschaftlichem (Kriminalisierungs-)druck Aufbauarbeit leisten, eine Zukunft hat, weiss ich nicht.(2) Vermutlich werden auch wir hier in Bern der Ruhe und Ordnung zuliebe, vor denen (nicht nur) wir Angst haben, über die Klinge gehen müssen. Im Basler AJZ, das mittlerweilen bereits ein Jahr geschlossen und unterdessen ganz abgerissen worden ist, habe ich einmal gelesen: «Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter.» Diesen Schritt hat die Jugendbewegung, realistisch betrachtet, wohl bereits gemacht. Will ihn aber die Gesellschaft als ganzes nicht machen, werden ihre Führer nicht drum herumkommen, den Hilferuf meiner Generation ernst zu nehmen.

Anatol Jeremia Zangger

(1) Das Zürcher AJZ an der Limmatstrasse war kurz zuvor, am 17. März 1982 geräumt und am 23. März 1982 abgebrochen worden.

(2) Das AJZ Reithalle in Bern wurde am 14. April 1982 geschlossen. Der vorliegende Text erschien im «spektrum» – der Wochenendbeilage des 1989 eingegangenen «Walliser Volksfreunds» – erst am 23. April und war deshalb schon bei seinem Erscheinen das zeitgeschichtliche Dokument, das er heute ist.

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