Tod eines Künstlers

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Anfang Dezember 2013 trat Philippe Saxer (30.9.1965 – 22.12.2013) wieder einmal stationär in die Klinik der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) ein. Im Laufe des Sommers war er zum wiederholten Mal in eine schwere Krise geraten. Seither fand er nicht mehr aus dem Labyrinth seiner Ängste heraus.

Das Klinikareal der ehemaligen Waldau verliess er nur noch, um seine betagten Eltern in Bümpliz zu besuchen. So auch am 22. Dezember. An diesem Sonntagabend hat ihn sein Vater nach 17 Uhr mit dem Auto in die Klinik zurückgebracht und vor dem Haupteingang aussteigen lassen.

Der arrogante Typ wird zum Freund

Otto Frick nennt sich bescheiden «Malermeister». Aber seit dem Psychiater Walter Morgenthaler (1882-1965), der Adolf Wölfli als Künstler ernstgenommen hat, gab es hier kaum einen bedeutenderen Förderer der schöpferisch tätigen Psychiatrie-Erfahrenen. 1978 kam der Vorarlberger Frick als Malermeister hierher; nach einer Aufbauarbeit von einem Vierteljahrhundert initiierte er 2003 die Kunstwerkstatt Waldau und half mit, einen Trägerverein zu gründen. Und auch heute, sieben Jahre nach seiner Pensionierung, betritt er die Kunstwerkstatt im alten Bauernhaus auf dem Waldau-Areal als väterlicher Kollege, den auch jene, die seine Grosskinder sein könnten, mit «Sali, Otto» begrüssen.

Frick hat Philippe Saxer um 1986 kennengelernt und sein erster Eindruck war nicht gut: «Ein arroganter Typ, schien mir, die Hände in den Taschen eines Militärmantels, Zigarette im Mund, eingezogener Kopf, abweisend.» Bald hat Frick seine Meinung geändert: «Fipu war einer, den alle gern gehabt haben.» Sei er in die Cafeteria der Klinik gekommen, habe er allen, die ihn darum gebeten hätten, einen Kaffee spendiert oder Zigaretten und Kleingeld gegeben.

Bald hat Frick ihn auch als Kunstmaler kennen- und als Freund schätzengelernt. In der Kunstwerkstatt habe sich Saxer vom ersten Tag an engagiert: «Es ist kaum jemand öfter hierhergekommen als er», sagt Frick. Überhaupt sei Saxer auf dem Klinikareal zuhause gewesen, auch wenn er in Hinterkappelen und später in Ostermundigen eine eigene Wohnung gehabt habe. Wenn man wie er als «Langzeitpatient» gelte, habe man ja unter den sogenannt Gesunden kaum Freunde. Hatte Saxer in seiner Wohnung einmal Besuch, dann zumeist aus der Klinik. «Es gibt eben bis heute das Vorurteil, wer mit der UPD zu tun habe, sei bloss zu faul, um zu arbeiten.»

Mit der Arbeit sei es bei Saxer so gewesen: «Wenn es ihm ganz schlecht oder ganz gut ging, lief es ihm nicht beim Malen. Aber in der übrigen Zeit konnte er sich hinsetzen und in einer Stunde zwanzig bis vierzig Bilder malen, expressionistisch, aus einem Guss, blitzschnell. Und das Verblüffende war: Was er manchmal in bloss einer Minute aufs Papier warf, beeindruckte nicht selten später die Kunstsachverständigen.»

Philippe Saxers immenses Werk

Saxer ist in Bümpliz aufgewachsen und hat zwischen 1982 und 1985 beim Glaskünstler Konrad Vetter in der Altstadt eine Lehre als Kunstglaser gemacht. Darum umfasst sein Werk auch Glasarbeiten. Aber vor allem gibt es Ölbilder, Aquarelle, Gouachen, Tusch- und Kreidezeichnungen, Bleistiftskizzen, Ton- und Zinngussfiguren, Töpfereien und im Laserverfahren hergestellte Medaillons. Dazu produzierte Saxer auf Bierdeckeln gerne «Kunst für den Hosensack». Seine Werke hat er in Dutzenden von Ausstellungen – zumeist Gruppenausstellungen – in der Schweiz, aber auch in Deutschland, Frankreich, Holland und in Japan gezeigt.

«Der Umfang des Werks, das Philippe geschaffen hat, ist noch nicht überschaubar», sagt Frick. Obschon Saxer immer Bilder verkauft und deshalb meistens über ein wenig eigenes Geld verfügt habe, sind Frick insgesamt fünf verschiedene Werklager bekannt – zwei davon auf dem Klinikareal. «Insgesamt muss es tausende von Werken geben, und darunter sind viele Super-Bilder, wunderschöne Sachen.»

Unterdessen haben Mitglieder des Vereins Kunstwerkstatt mit der Katalogisierung von Saxers Arbeiten begonnen. Eine Sisyphusarbeit. Mit den Erbberechtigten wird zurzeit diskutiert, ob eine Philippe-Saxer-Stiftung ins Leben gerufen werden könnte, damit die Katalogisierung des Werks gefördert und abgeschlossen und dafür gesorgt werden kann, Saxers Name als Künstler im Bewusstsein der Öffentlichkeit stärker zu verankern.

Jede Minute, wochenlang, monatelang

«In den letzten Monaten ist Philippe meist  mit hochgeschlagener Kapuze, in sich zusammengesunken, unter grosser Anspannung herumgesessen und hat geraucht», erinnert sich Frick. Anfang Dezember habe ihn Saxer mit seinem Vater noch einmal zuhause besucht: «Philippe setzte sich auf den Balkon und rauchte in zwanzig Minuten neun Zigaretten. Angezündet, gezogen, gezogen, gezogen und die nächste angezündet. Sechs bis acht Pakete im Tag. Daneben konntest Du mit ihm normal reden. Bloss sagte er seit Monaten jedesmal, wenn ich ihn traf, gleich zu Beginn: Du, Otto, heute geht's mir nicht gut.»

Warum es ihm nicht gut gegangen sei, habe er nicht ausdeutschen können oder mögen. Frick: «Es war dieses Gefühl, niemand hat mich gern, niemand kann mich brauchen – aber hundert Mal stärker, als wir das empfinden könnten. Und zwar jede Minute, wochenlang, monatelang. Und die Medikamente haben auch bei doppelter Dosierung nicht mehr gewirkt.»

Am 22. Dezember hat Philippe Saxer vor dem Haupteingang der Klinik seinen Vater wegfahren lassen. Um die Abendessenszeit hat man auf seiner Abteilung bemerkt, das er von seinem Besuch immer noch nicht zurück war und hat den Vater angerufen. Dann begann die Suche, zuerst in der Klinik, danach auf dem Areal, auch drüben bei der Kunstwerkstatt. Dann ist man zu seiner Wohnung in Ostermundigen gefahren. Die Tür war verschlossen. Der Schlüssel steckte von innen. Polizei. Schlüsseldienst. Man fand Saxer tot auf dem Fussboden liegend. Wie viele Tabletten er mit viel Wasser hinuntergespült hat, weiss wohl niemand genau. Aber es waren mehr als genug.

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