Der Philologe als Künstler

Erst 122 Jahre nach seinem Tod im Juli 1890 hat Gottfried Keller mit der jüngst abgeschlossenen 32-bändigen Ausgabe eine vollständige historisch-kritische Edition seiner Werke erhalten. Allerdings hatte schon 1926 der Rentsch-Verlag in Erlenbach in einem Prospekt die «abschliessende Edition» beziehungsweise die «endgültige Keller-Ausgabe» angekündigt – herausgegeben von Jonas Fränkel.

Ausgerechnet Jonas Fränkel! Das wird damals vielleicht nicht nur Emil Ermatinger, Germanistikprofessor an der Universität Zürich, gedacht haben. Aber Ermatinger sicher. Denn eigentlich wäre er in Zürich der gegebene Keller-Spezialist gewesen: Immerhin hatte er 1915 die dreibändige Keller-Briefbiografie von Jakob Baechtold neu bearbeitet und herausgegeben. Was war geschehen? In den «Göttingischen gelehrten Anzeigen»  war im Jahr darauf über 25 grossformatige Druckseiten ein Verriss seiner Arbeit erschienen, verfasst von ebendiesem Jonas Fränkel. Sie endete mit dem Satz: «Nach dieser Leistung E.s erwarte ich von seiner angekündigten kritischen Keller-Ausgabe nichts Gutes.»

Der polnische Rabbiner-Student

Jonas Fränkel ist zu jener Zeit Privatdozent in Bern; geboren 1879 in Krakau, Muttersprache polnisch. Unter dem Einfluss seines Vaters, eines orthodoxen Juden, der als Kaufmann arbeitet, beginnt er, Rabbiner zu studieren. Er lernt Hebräisch, Lateinisch, Griechisch und daneben weitestgehend autodidaktisch die deutsche Sprache anhand von Reclam-Ausgaben klassischer deutscher Literatur. 1897 bricht er das Rabbiner-Studium ab: Er kann sich mit dem Glaubenspostulat, der ganze Pentateuch sei Gottes Wort, nicht mehr identifizieren. Die in sich widerspruchsvollen Texte, so erinnert sich sein Sohn Salomon Fränkel, hätten für den Vater unzweifelhaft «auf die verschiedenen Erkenntnisschichten einer in Evolution begriffenen menschlichen Gesellschaft» hingewiesen.

1898 geht er zum Studium nach Wien. Nach traumatisierenden Erfahrungen mit gewalttätigem Antisemitismus will er weg aus Polen, und in Wien hofft er auf ärztliche Hilfe: Ein Ohrenleiden hat ihn mit 15 zum Schwerhörigen gemacht. Die Ärzte in Wien können ihm aber nicht helfen, und die Hörsäle an der Universität sind so gross, dass er den Vorlesungen nicht folgen kann. 1899 wechselt er deshalb an die Universität Bern, wo er 1904 als Germanist über Zacharias Werners Dramen-Technik doktoriert. Sein Leben verdient er sich seit Ende 1900 mit Journalismus, insbesondere für die NZZ. Zeitlebens veröffentlicht er danach Essays, Feuilletons und Rezensionen in in- und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften. Zwischen 1905 und 1908 lebt er in Berlin und gibt im Jenaer Diederichs-Verlag die Briefwechsel Goethes mit Charlotte von Stein und mit Bettina von Arnim heraus. Seit 1909 ist er Privatdozent an der Universität Bern, ab 1921 dann ausserordentlicher Professor; 1919 lässt er sich einbürgern. In bedeutenden Werkausgaben von Heinrich Heine und C. F. Meyer ediert er in jenen Jahren jeweils deren Gedichte.

Und seit 1921 ist er Herausgeber einer Gottfried Keller-Ausgabe im Wiener Schroll-Verlag. Seither bemüht er sich in Zürich um den Zugang zum Keller-Nachlass. Aber dort gehen seine Einsichtsgesuche an die Keller-Nachlassverwaltung ausgerechnet über Ermatingers Schreibtisch, dem ein faktisches Monopol zugestanden wird, weil er für den Rascher- und den Cotta-Verlag an Keller-Volksausgaben arbeitet. Ermatinger blockt ab. Fränkel nimmt, wie 1916, den Kampf auf, indem er Ermatingers Arbeit demontiert. Anhand der Erstdrucke weist er in dessen Keller-Büchern Schludrigkeiten nach. Seine Funde sind so überzeugend, dass der NZZ-Feuilletonredaktor Hans Trog nach Kenntnisnahme die Keller-Nachlassverwaltung vor die Alternative stellt: Entweder Fränkel erhält für seine Werkausgabe Zugang zum Nachlass oder die NZZ druckt Fränkels Kritik an Ermatingers Arbeit.

Nach zehn Bänden bricht der Schroll-Verlag seine Keller-Ausgabe aus finanziellen Gründen ab. Jetzt springt der Verleger Eugen Rentsch in die Bresche. Er kündigt die von Ermatinger seit Jahren geplante, aber nicht ausgeführte kritische Ausgabe an und übernimmt von Schroll den Herausgeber Fränkel. Ausgerechnet Fränkel! Gewollt hat ihn in Zürich kaum jemand. Aber weil er der Beste war, konnte man ihn nicht verhindern. 1926/27 erscheinen bei Rentsch vorerst die zehn neu überarbeiteten Schroll-Bände. Bald einmal überwirft sich Rentsch mit seinem Herausgeber wegen der von Fränkel nicht eingehaltenen Lieferfristen für die Folgebände. Der Konflikt wird schliesslich vor Gericht ausgefochten und führt dazu, dass Fränkels Keller-Ausgabe ab 1931 von der Buchdruckerei Benteli in Bümpliz weitergeführt wird.

Jonas Fränkel ist gewiss eine der tragischen Figuren der schweizerischen Literaturgeschichte: Als langjähriger Vertrauter und Sekretär von Carl Spitteler hatte er zwar dessen Mandat, aber keinen formellen testamentarischen Auftrag, sein Werk herauszugeben und seine Biographie zu schreiben. Nach Spittelers Tod Ende 1924 wurde er jedoch von dessen Nachlass weggedrängt. Trotz vehementer Gegenwehr musste er ab 1944 tatenlos zusehen, wie im Auftrag von Bundesrat Philipp Etter die Philologen Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altwegg und Robert Faesi die bis heute gültige zehnbändige Spitteler-Ausgabe herausbrachten und wie später deren junger Mitarbeiter Werner Stauffacher seine grosse Spitteler-Biografie in Angriff nahm (erschienen 1973, nach Fränkels Tod).

Der eingebürgerte Jude Jonas Fränkel wurde im akademischen Betrieb auch aus antisemitischen und ausländerfeindlichen Gründen bekämpft, und hauptsächlich deswegen – abgesehen von seiner Schwerhörigkeit, die ihn handicapierte – wurde ihm in Bern, Zürich, Basel und Lausanne die ordentliche Professur verweigert. Das nationalsozialistische Deutschland wiederum machte ab 1935 Druck auf den Kanton Zürich, die Keller-Edition eines Juden werde in reichsdeutschen Buchhandlungen nicht aufgelegt. Derweil rang sich Fränkel als Vater von drei Kindern in den dreissiger Jahren die schlecht bezahlte Keller-Edition unter prekären Lebensbedingungen Jahr für Jahr ab. Die philologische Zunft, vorab in Zürich, schaute ihm mit missgünstiger Häme dabei zu und wartete auf die Gelegenheit, ihn als Herausgeber loszuwerden.

In der Sackgasse

Fränkels grosses Verdienst, sagt Walter Morgenthaler, Herausgeber der neuen Historisch-kritischen Keller-Ausgabe (HKKA), sei erstens die Erzwingung der Nachlassöffnung gewesen. Mit den bis dahin weitgehend ignorierten unveröffentlichten Schriften habe er neue Aspekte des Keller-Werks und ein differenzierteres Keller-Bild erschliessen können. Eine grosse Stärke der Edition seien zweitens die sehr zuverlässig recherchierten Kommentare, auf die sich das HKKA-Team gestützt habe: «Hier haben wir davon profitiert, dass wir nach Fränkel gekommen sind.» Drittens attestiert Morgenthaler Fränkel einen überragenden philologischen Scharfsinn, mit dem er aus allen erreichbaren Textzeugen «seine» Keller-Texte konstruiert hat, um «Meister Gottfried», wie er ihn nannte, aus seiner Sicht das endgültige Denkmal zu errichten.

Allerdings: Dieser dritte Punkt machte Fränkels Edition zwar tatsächlich zu einer «endgültigen», aber nur deshalb, weil seine editionstechnische Methode aus heutiger Sicht in eine Sackgasse geführt hat. Fasst man Morgenthalers kritische Beurteilung zusammen, waren Fränkels präsentierte Texte zwar vielleicht kongenial, aber für die Nachfolgenden wissenschaftlich nur sehr bedingt brauchbar.Weil er in der Tradition der mittelalterlichen Kompilationstechnik alle erreichbaren Textzeugen zu einer – für ihn – optimalen Version zusammenführte, entstanden nicht überprüfbare Mischtexte. Fränkel ging so weit, aus verstreuten Notizen und Entwürfen Endfassungen von Keller-Gedichten zusammenzubauen, die es vor ihm so nicht gegeben hat. Die Schwäche dieses Vorgehens: Weil er nur seine Resultate darbietet, muss man Fränkel das glauben, was nur der längst tote Keller hätte wissen können. Dieser Schwierigkeit war sich Fränkel bewusst. Deshalb argumentierte er, die Philologie stehe der Kunst eben näher als der Wissenschaft: «Ist Wissenschaft ihrem Wesen nach lehrbar, so ist Kunst in ihrem Wesentlichsten nicht erlernbar.» Darum war Fränkels schärfster Vorwurf an schludernde Philologen jeweils der, sie seien «Unberufene». Für den Wissenschaftler Fränkel war die philologische Arbeit eine Berufung. Darin ist ihm die spätere Philologie nicht gefolgt.

Die HKKA, so Morgenthaler, hat zwar intensiv mit Fränkels Büchern gearbeitet, aber die Versionen «seiner» Keller-Texte hat sie nicht berücksichtigt: Spätestens seit Hans Zellers C. F. Meyer-Edition (ab 1958) gilt es als unbestritten, dass der literarische Text in nicht kontaminierter Form, nämlich auf der Basis eines geeigneten überlieferten Textzeugen, präsentiert wird – häufig die Ausgabe letzter Hand – und Abweichungen anderer Textzeugen als Lesarten angemerkt werden.

Die zerschlagene Lebensarbeit

Im Frühling 1939 ist bei Benteli Fränkels 17. Keller-Band erschienen. Am 20. Mai 1939 hat Fränkel seinem Verleger geschrieben: «Ich sehe mich gezwungen, meine Arbeit an der Keller-Ausgabe niederzulegen.» Weil seine finanzielle Situation so schwierig geworden sei, plane er, mit seiner Familie ins billigere Südfrankreich auszuwandern – ein Plan, den kurz darauf der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vereitelte. Liest man im Staatsarchiv Zürich die Briefe, die damals zwischen Fränkel, Benteli und dem Zürcher Staatsschreiber hin und her gegangen sind, wird klar: Fränkels Kündigung war vor allem ein Hilferuf. Um weitermachen zu können, brauchte er eine materielle Absicherung, und er brauchte einen richtigen Verlag, nicht eine Buchdruckerei, die kaum ein Interesse am Bücherverkauf hatte und – von den technischen Schwierigkeiten der Anmerkungsteile überfordert – für viele Verzögerungen verantwortlich war.

Dieser Hilferuf interessiert niemanden. Benteli klagt auf Vertragsbruch (und erhält schliesslich, 1948, vor Bundesgericht letztinstanzlich recht). Aus Zürcher Sicht wird die Ausbootung Fränkels zu diesem Zeitpunkt aus einem besonderen Grund opportun: Im Sommer 1939 erscheint im Oprecht-Verlag Fränkels Essay «Gottfried Kellers politische Sendung»: ein klug gemachter Text, der, über Keller redend, gegen den Nationalsozialismus Stellung bezieht; ein bis heute bemerkenswerter Beitrag zur antifaschistischen Geistigen Landesverteidigung und eine bewundernswürdig mutige publizistische Tat eines jüdischen Schweizers. In Zürich hat man in dem Text allerdings nur eine unnötige Provokation gegenüber dem grossen Nachbarn gesehen, hinter der «hebräische Bosheit» stecke (so der damalige Zürcher Regierungsrat Karl Hafner).

Zürich gibt Fränkel keine Chance mehr. Dieser wehrt sich vergeblich mit zwei polemischen Abwehrschriften. Ab 1943 gibt Carl Helbling die restlichen sieben Bände der Keller-Ausgabe heraus, Fränkels Methode zwar fortsetzend, aber, so Morgenthalers Einschätzung, ohne den philologischen Scharfsinn seines Vorgängers. Seine Keller-Ausgabe bleibt, wie Fränkel mehrfach betont hat, «ein Torso».

Am 16. Oktober 1961 empfing der 82jährige Jonas Fränkel in seinem Haus in Hünibach über dem Thunersee Etters Nachfolger, Bundesrat Hans-Peter Tschudi. Es ging einmal mehr um die Modalitäten von Fränkels Zugang zum Spitteler-Nachlass, von dem er seit 1933, seit der Überführung der Papiere in die Landesbibliothek in Bern, ausgeschlossen gewesen war. Einige Tage später schickte Fränkel Tschudi einige Dokumente zur weiteren Information. Im Begleitbrief heisst es: «Sie werden mir sicher nachfühlen können, was es für einen, der der Wissenschaft lebt, bedeutet, wenn man ihm seine Lebensarbeit zerschlagen hat.»

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Von Goethe über Heine bis Spitteler

 

Als Publizist hat sich Jonas Fränkel, ausgehend von seinem literarischen Zentralgestirn Goethe, insbesondere mit der Literatur des 19. Jahrhunderts befasst: mit den Romantikern, Heine, Keller, Spitteler und Widmann. Seine philologischen Grundsätze hat er in der Essaysammlung «Dichtung und Wissenschaft» (Heidelberg 1954) zusammengefasst. Sowohl im «Keller-Handel» als auch im «Spitteler-Handel» hat er sich auf verlorenem Posten mit «Abwehrschriften» zu wehren versucht: «Die Gottfried Keller-Ausgabe und die Zürcher Regierung» (Zürich 1942); «Der neue Medius» (Zürich 1944; ebenfalls zur Keller-Ausgabe) und «Spittelers Recht» (Winterthur 1946). Über Fränkel als Menschen geben seine umfangreichen freundschaftlichen Briefwechsel mit C. A. Loosli und Rudolf Jakob Humm Auskunft. Nach seinem Tod 1965 ist Jonas Fränkel in Vergessenheit geraten. Heute wäre seine Wiederentdeckung nicht nur literaturgeschichtlich, sondern auch mentalitätsgeschichtlich von grossem Interesse. Voraussetzung für eine Wiederentdeckung ist der Zugang zu Fränkels umfangreichem Nachlass. Kontakte bestehen zwischen seinen Erben und dem Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Seit kurzem öffentlich zugänglich ist vorderhand das Quellenverzeichnis von Jonas Fränkels publizistischem Werk. Fredi Lerch hat im Auftrag der Christoph Geiser-Stiftung, Bern, aus Fränkels Nachlass dessen handschriftliche Auto-Bibliographie 1900-1964 elektronisch aufgearbeitet.

Der Beitrag ist nachgedruckt worden in: «Mitteilungen der Gottfried Keller-Gesellschaft 2014», 32-37. 

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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