«Arbeit schafft Kapital, nicht umgekehrt!»

Vor dem Bahnhof Rüschlikon (ZH) bittet Otto Tobler zum Mittagessen ins benachbarte Restaurant «Da Toni». Wüsste man nicht, dass er Kunstmaler ist, würde man den gutbürgerlich gekleideten Herrn mit dem weissen Haarschopf für einen pensionierten Angestellten halten. Tatsächlich war er während des Kalten Kriegs, als sich die Westmächte und der Ostblock gegenüberstanden, zwischen 1947 und 1989 beides: sozialkritischer Künstler, der als verantwortungsbewusster Familienvater als Verwaltungsangestellter arbeitete.

Beruf und Berufung

Otto Tobler wuchs in einem bürgerlichen Elternhaus in Zürich Wollishofen auf, das nahe am Bahngeleise stand. Wenn er vom Zweiten Weltkrieg spricht, erinnert er sich deshalb nicht nur an verdunkelte Fenster oder an das Brummen der alliierten Bomber im nächtlichen Himmel: «In den Ohren habe ich immer noch das Rattern der Kohlezüge, von denen man schon damals gesagt hat, sie transportierten zwischen Deutschland und Italien nicht nur Kohlen, sondern, wer weiss, Gefangene, Soldaten oder Waffen.»

Nach der Handels- und Kunstgewerbeschule arbeitete Otto Tobler im Vorhanggeschäft seines Vaters, der «Rideaux AG». 1956 machte er sich selbständig. Als Designer versuchte er, eine Marktlücke zu finden. Um seine Textilentwürfe vorzustellen, reiste er zu Kunden im In- und Ausland. Ein hartes Brot: «Textilunternehmer wollten keine Kunst, sondern Dessins, die sich gut verkaufen liessen.»

1957 heiratete er, zog mit seiner Frau nach Rüschlikon (ZH) in eine Blockwohnung, und bald war das Paar mit zwei Töchtern zu viert. Um ein regelmässiges Einkommen zu haben, gab Tobler die Selbständigkeit auf und arbeitete ab 1960 als Verwaltungsangestellter in Zürich, zuerst für die Suva, ab 1962 für die Versicherung Rentenanstalt. «Zwar war ich nun von acht bis fünf Bürogummi», sagt er, «dafür konnte ich daneben malen, was ich wollte». Er versuchte damals, einem konventionellen Kunstideal gerecht zu werden: Es malte schöne Kompositionen mit gepflegten Farben, die Inhalte seiner Bilder waren ihm zweitrangig.

Bei der Rentenanstalt engagierte er sich in der Personalvertretung: «Ich versuchte, den Hausverein überbetrieblich zu vernetzen, weil ich der Überzeugung war, dass wir nur gemeinsam stärker werden.» Die Zusammenarbeit mit den Kollegen der Zürich- und der Rückversicherung scheiterte, die Einbindung des Hausvereins in den Kaufmännischen Verein Zürich (KVZ) kam schliesslich zustande. Tobler liess sich in den KVZ-Vorstand wählen und als Arbeitnehmervertreter in das Arbeitsgericht.

Die Jahre von Kavenko

1968 ändert sich sein Verständnis der Malerei. Tobler wird als Vierzigjähriger durch die Studentenunruhen radikalisiert und beginnt, zwischen der Rentenanstalt und dem Zürcher Volkshaus ein Doppelleben zu führen.

Als Künstler will er aus dem Elfenbeinturm ausbrechen und wählt ein Pseudonym: Kavenko. Mit «Politcollagen» stellt er seine Kunst in den Dienst der sozialistischen Gesellschaftskritik: Über einen Protestierenden, der einem handgranatenschleudernden Soldaten gegenübersteht, schreibt er zum Beispiel: «Werktätige gegen Werktätige im Dienst des Kapitals!»

Auch parteipolitisch engagiert er sich: 1970 tritt er in die Sozialdemokratische Partei ein. Sein Interesse gilt allen politischen Versuchen, grössere gesellschaftliche Gerechtigkeit herzustellen. Für ihn wichtig sind damals die Gespräche mit Konrad Farner, dem prominentesten Kommunisten der Schweiz, der in Thalwil (ZH), dem Nachbardorf seeaufwärts, lebt und ab und zu bei ihm hereinschaut. Unter dem Eindruck der zweiten Jugendbewegung wendet er sich nach 1980 von der SP ab, zunehmend enttäuscht: Immer mehr versteht er sie als «Mitverwalterin des Kapitalismus».

Nach der politischen Kunst

Am Ende des Kalten Kriegs wird das Pseudonym Kavenko überflüssig. Zum einen muss Tobler kein Doppelleben mehr führen: Er lässt sich 1988 mit sechzig frühpensionieren, weil er sich sagt: «Lieber weniger Rente, dafür wieder frei arbeiten.» Zum anderen gerät seine sozialkritische Kunst ausser Kurs. Im Rückblick sagt er: «Ich habe gemeint, es sei möglich, die Leute mit Kunst aufzuwühlen und zu politisieren, und ich musste lernen, dass Kunst keine nachhaltige politische Wirkung hat.»

Seit dem Tod seiner Frau im Januar 2013 lebt er allein in der Rüschliker Blockwohnung. Dennoch steht er weiterhin täglich an seiner Staffelei: «Ich bin wieder auf die reine Malerei zurückgekommen. Heute beschäftigen mich vor allem ihre Grundformen: bewegte Formen, Linien, Winkel, das Helldunkelproblem, die Farben.» Insgesamt hat er in seinem Leben gut 900 Bilder gemalt. Die meisten stehen in einem Lager in Schwamendingen. Jene, die sich in der Wohnung stapeln, zeigen abstrakte Motive von grossem Formen- und Farbenreichtum.

Seine politischen Ideen gibt er nicht auf. Für work hat er einen Forderungskatalog in die Schreibmaschine getippt: «Arbeitszeit generell senken – dafür mehr Beschäftigung. Teilzeit ausbauen mit Mindestlohn.» Dazu: einkommensabhängige Krankenkassenprämien, AHV-Ausbau, Erbschaftssteuer und «Mitbestimmung im Betrieb». Toblers Motto: «Mensch – Herr oder Sklave der modernen Technik? Arbeit schafft Kapital, nicht umgekehrt!»

 

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Malen wie Picasso

Otto Tobler (* 1928) ist in Zürich Wollishofen aufgewachsen. Nach einer zweijährigen Handelsschule absolviert er zwischen 1945 und 1948 die Kunstgewerbeschule Zürich. Anschliessend tritt er in die «Rideaux AG» ein, das Vorhanggeschäft seines Vaters mit Filialen in Luzern und Bern. 1956 macht er sich als Textildesigner selbstständig und malt in seiner Freizeit im Stil von Pablo Picasso. Der spanische Kubist ist sein wichtigstes Vorbild.

Nachdem Tobler eine Familie gegründet hat, verbringt er seinen Arbeitstag als Verwaltungsangestellter bei der Suva und später bei der Rentenanstalt. Er malt aber weiter und mit den Studentenunruhen wird auch seine Kunst politisch und gesellschaftskritisch. Aus Tobler wird Kavenko.

In dieser Zeit stellt er seine Bilder verschiedentlich in der Zürcher «Produzentengalerie» aus. Aber eine grössere Resonanz vermag seine engagierte Kunst in den achtziger Jahren nicht in Zürich, sondern in der Deutschen Demokratischen Republik auszulösen. Vermittelt von der PdA Basel stellt er mehrmals in Ostberlin aus, aber auch in Frankfurt an der Oder, in Leipzig und in Zwickau.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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