Max Frisch hat Wort gehalten

«Was wir, die Linken, im weiteren Sinne, ja wollen, ist einen Menschen herstellen, den der liebe Gott, weil er am Samstag aufgehört hat zu arbeiten, nicht mehr hergestellt hat.» (Max Frisch in einem Interview, 1989)

Einen Schweizer Pass haben und integer bleiben, lebenslänglich Schweizer und trotzdem ein Leben lang Intellektueller sein: Max Frisch hat es – dem «Abenteuer der Wahrhaftigkeit» verpflichtet – vorgelebt; er hat, wie selten jemand, Wort gehalten. Ich habe ihn nicht persönlich gekannt. Aber ich habe, als heute Mittdreissiger, seit Ende der sechziger Jahre zugehört, wenn er geredet, nachgelesen, wenn er vorgedacht hat.

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«Andorra», 1961: Als der Tischler – dieser dumpfe, bornierte, bigotte Vertreter des andorranischen Establishments – die Lehrlingsprobe des «Juden» Andri, seines Stifts, ignoriert, verliert dieser die Nerven und schreit, verzweifelt, ins Gesicht seines Meisters: «Warum seid ihr stärker als die Wahrheit?» Den Tischler zum reden zu bringen: Max Frisch hat’s ein halbes Jahrhundert lang versucht. Seine Erfahrung: «Wenn jemand etwas sagt, das dem Establishment nicht gefällt, so herrscht Schweigen. Man redet wie in Watte hinein.»

1948 schrieb Frisch während eines frühen Streits mit der NZZ in einem Brief an die Redaktion: «Ich möchte meinen Standort einen sozialistischen Humanismus nennen; ausser jedem Zweifel steht die Ablehnung der Gewalt und der Diktatur.» Für dieses Bekenntnis wurde er Ende der vierziger Jahre zum «geistig unsicheren Schriftsteller» gemacht; zu einem, der «mit den Volksdemokratien flirtet» (National-Zeitung). Es stimmt: Frisch hat während den Jahrzehnten des Kalten Kriegs darauf beharrt, die Welt sei jederzeit eine politische und damit Literatur auf politisches Bewusstsein angewiesen: «Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei» («Tagebuch 1946-1949»); dafür schimpfte man ihn «Tendenzdichter». Dies war er jedoch in keinem Augenblick. Er war ein Meister der intelligenten Fragen; seine Arbeit war eine ästhetische: «Natürlich hat man seine Meinungen, manchmal sogar leidenschaftliche, die moralischen und die politischen Interessen als Mensch und Staatsbürger; das Interesse des Künstlers aber gilt der Darstellung.» («Öffentlichkeit als Partner», 1958) 

«Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Masstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können.» So hat er 1946 das Projekt des mündigen Menschen gegen den technologischen Machbarkeitswahn der Wirtschaftswunderwelt abgegrenzt. Skeptisch, aber nicht resigniert, hat er vierzig Jahre später, 1986 in der Solothurner Rede zu seinem 75. Geburtstag,  den Anspruch einer sich selbstaufklärenden Aufklärung verteidigt: «Enttäuschung über den Lauf der Welt ist eins, Preisgabe oder Widerruf einer Hoffnung wäre schon etwas anderes.» Er hat Kant zitiert («Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit») und ergänzt: «Ohne einen Durchbruch zur sittlichen Vernunft, der allein aus Widerstand kommen kann, gibt es kein nächstes Jahrhundert, fürchte ich. Ein Aufruf zur Hoffnung ist heute ein Aufruf zum Widerstand.»

«Widerstand» – dieser Begriff trug ihm 1986 den Vorwurf des verbitterten Altersstarrsinnigen ein. Aber nicht Frisch hat sich in den achtziger Jahren radikalisiert, sondern die Unmenschlichkeit der Welt, die irgendwann in den letzten zwanzig Jahren einen «point of no return» überschritten hat: «Wir befinden uns, getrieben vom industriellen Fortschritts- und Renditewahn, auf einem demokratisch längst nicht mehr kontrollierten Blindflug. Eben jetzt, in diesen Jahren, überfliegen wir den ‘point of no return’.» (Otto F. Walter 1978) Jenseits dieser «Grenze ohne Zurück» kann der kategorische Imperativ nicht mehr «als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten» (so Kant). Das Handeln der Herrschenden der hochindustrialisierten Welt – der «Bourgeoisie» bei Frisch – vernichtet heute vorsätzlich, weltweit und möglicherweise endgültig die Lebensgrundlagen der Menschheit.

Also Widerstand – was sonst? Widerstand «gegen Rechtsstaatlichkeiten als Kniff», Widerstand «auf allen Etagen dieser profitmanischen Gesellschaft», «Widerstand mit dem Ziel, dass der Geist der Aufklärung sich durchsetzt und zwar zeitig genug: nicht als historische Reprise, sondern durch historische Erfahrung erweckt zu neuen und anderen Versuchen eines Zusammenlebens von mündigen Menschen», so Frisch in Solothurn.

Teil dieses Widerstands: die Arbeit der «Intellektuellen», deren Aufgabe Frisch 1979 in einer Rede vor dem VPOD-Kongress so beschrieben hat: «Interesse an der Wahrheit, das unstillbare Verlangen nach Erkenntnis der Dinge, und zwar auch dann, wenn diese Erkenntnis (wer weiss) peinlich ist und unserem Privat-Interesse nicht dienlich.» Weiterdenken, auch gegen die eigenen Interessen, am dialektischen Projekt der Aufklärung, das (und nur das) ist für Frisch widerständige Arbeit von Intellektuellen.

1946 hat Frisch umschrieben: «Verpflichtet an eine Gesellschaft der Zukunft: – wobei es für die Verpflichtung belanglos ist, ob wir selber diese Gesellschaft noch erreichen, ob sie überhaupt jemals erreicht wird; Nähe und Ferne eines Zieles, solange es uns als solches erscheint, ändern nichts an unsrer Richtung.» Am «Umbau der Gesellschaft» – der ein «beschwerlicher» sein werde – hat Frisch auch in seiner letzten öffentlichen Rede, am 20. November 1989 in Basel, festgehalten: «Wir träumen (wenn man eine verwegene Art des Hoffens so bezeichnen mag) von einem anderen Zusammenleben […] Freiheit nicht als Faustrecht für den Stärkeren, Freiheit nicht durch wirtschaftliche Macht über andere, sondern Selbstbestimmung und Gemeinsinn.»

Drei Wochen vor seinem Tod hat Frisch in einem Brief an Marco Solari die Bürgerblock-Schweiz endgültig aufgegeben: «Wenn ich mit Ihnen von der Schweiz rede, so […] meine ich den Staat, 1848, eine grosse Gründung des FREISINNS, heute unter der jahrhundertlangen Dominanz des Bürgerblocks ein verluderter Staat – und was mich mit diesem Staat heute noch verbindet: ein Reisepass (den ich nicht mehr brauchen werde).» (WoZ 11/1991)

Wenn wir, die Vierzig-, Dreissig-, Zwanzigjährigen hier und heute mit diesem Land nicht fertig sind, müssen wir mit dem «verluderten Staat» fertig werden. In diesem Land trotz allem ein Zusammenleben von mündigen Menschen in Selbstbestimmung und Gemeinsinn zu ermöglichen – daran werden dereinst die Enkel Max Frischs gemessen werden. (Jonas wird nicht auswandern.)

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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