«möcht einfach taser ferrekt»

[Anriss auf der Titelseite]

Blicktagesschaufertigschluss

Zum Problem der Linientreue von literarischer Fiktion

Ein Schriftsteller siedelt seine Fiktion in einer nicht politischen Umgebung an. Seine Helden sind jung und schwul, verliebt und kaputt, tragen Leder, fahren Töff, machen den Strich. Von dieser Szene weiss der Schriftsteller, «dass sie die Welt des ‘Blick’ ist, wo Politik bestenfalls aus Sachen wie der Autobahnvignette besteht. Was da rundherum passiert, das merken sie erst, wenn eine Atombombe runterfällt. Und wenn die Bombe ein wenig weiter weg herunterkommt und Königin Silvia am gleichen Tag ein Kind kriegt, dann erfahren sie nie etwas davon.» Das Fehlen jeglicher politischer Perspektiven bei seinen Helden wird dem Autor zum Problem. Seine töffahrenden Helden sollen ja ein Innenleben von töffahrenden Halbwüchsigen, nicht jener eines belesenen und informierten Autors haben: «Ich zeige Leute, die Information mit ‘Blick’ und ‘Tagesschau’ verbinden. So weit geht ihr Horizont. Was es sonst noch gibt, wissen diese Leute einfach nicht. Fertig Schluss.» Wie sagt der Autor aber unter diesen Voraussetzungen alles, was er sagen möchte? Darf er solche Helden überhaupt wählen, ohne jeden emanzipativen Anspruch seiner Arbeit zum vornherein zu verscherzen? Gibt es für ihn am Ende unschreibbare Geschichten?

Martin Frank – Autor von «ter fögi isch e souhung» (1979) und «Spannteppichjunge» (1980) – hat die Geschichte mit den töffahrenden Halbwüchsigen geschrieben und dieser Fragen auf bemerkenswerte Weise gelöst. [Seiten 11/12]

 

[Annäherung 1]

Schewi, ein Schwanengesang

 

Chevrolet ist tot, das geschlossene Buch ist sein Denkmal. Weisse Antiqua auf schwarzem Grund, die Fläche rechtwinklig gefeldert, im Blickpunkt das gestochen scharfe Votivbild: Der schwarze Lederengel tanzt mit dem Jüngling. Ein Totentanz?

Am Anfang des Buchblocks die zweite Ikone. Sie präsentiert den schönen Menschen frontal, in voller Pracht, als wär’s der heilige Sebastian, jener legendäre Märtyrer, dessen makelloser Leib von Pfeilen durchbohrt wurde.

Was da unter schwarzen Vorzeichen beginnt, als Geschichte eines Sterbens überschrieben, entfaltet sich zur ausserordentlichen Liebesgeschichte. Sie irritiert durch die vorbehaltlose Selbstverständlichkeit, mit der sich Aggression, Hingabe, Begeisterung, Trostlosigkeit und Berechnung durchdringen. Was die Norm auseinanderzuhalten zwingt, vermischt sich hier frech; was die deutsche Satzlehre ordentlich aufreiht, vernetzt sich zu einer Sprachhaut, die den Menschen spürbar, riechbar, betastbar macht. Fluss- und Seeufer, Matten und Gehölzstreifen am Wasser, die wir nun Biotope nennen und nur noch vom Lehrpfad aus zu sehen bekommen, werden zu befreiten Zonen, wo Nacktheit und Sinnlichkeit, die eigene Natur, intensiv erlebbar werden. Die fatalen Erinnerungen, die an Ledermonturen kleben, kümmern diese Jungen nicht, das ist unser Bier; sie geniessen die weichen Tierhäute als Talisman, als Ausdruck und Verstärker von Körperpräsenz und Lebensgefühl. Inmitten einer ausbeuterischen Männerwelt, die erstarrt und ohne Perspektiven ist, bewahren Franks Helden Eigenschaften der Kinder, die keine Angst vor Dreck und Berührung haben. Wen wundert’s, dass die Aura dieser Buben, des schlauen Tiger, des wendigen Schwimmers Schewi, die abgeschlafften Bürger im Strandband so aufgeregt macht, dass sie gegen teures Geld diese Jungbrunnen auszulutschen versuchen? So beginnt Schewis bedingungslose Freundschaft das herrische Gehabe des älteren Freundes zu erodieren, und kaum wahrnehmbar unterwandert reale Zuneigung dessen zwanghafte, schockierende Allmachtsphantasien.

Der unlängst verstorbene Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler hat seinem letzten Buch, einer Aufsatzsammlung zum Thema Sexualität, ein eigenes Gemälde vorangestellt. Seine «Transvestitenbar in Los Angeles» zeigt inmitten weisser T-Shirts und Hemden eine Gestalt in leuchtend rotem Kleid, das in der unterkühlten Ambiance zu glühen scheint. Es ist sein Bild für das Perverse, das auffällig Andersartige, das glänzt wie Lederstiefel, pulsiert wie Tom of Finlands stramme Kerle. «Ein scharf umrissener Zug perverser Faszination ist der Niederschlag einer schöpferischen Leistung. […] Was da krankhaft erscheint, war einst der ‘farbige Stein’, den einer fand und ins Mosaik seines inneren Bildes einfügte, damit es leuchtete und weiterbestand.» Aber das Würgen, der gewaltsame Tod?

William Burroughs, Marquis de Sade, Nagisa Oshima («Im Reich der Sinne») – sie kennen jenes Würgen, jene kaum begreifbare Zuspitzung, wo die Angst das Lebensgefühl und die Lust bis zur Explosion komprimiert. Aber das sind schwarze Messen, Rituale von Erwachsenen, nicht der heftige Sex von Halbwüchsigen und Underdogs, nicht dieses Sterben. Wenn Schewi stirbt, stirbt die Jugend, mit ihm enden Schönheit, Üppigkeit, Verschwendung. Der Chevrolet, jenes glitzernde Amischiff, geht gleichsam in der grauen Flut von Golf und Opel unter. Der frühe Tod erscheint als gnädiges Geschick, das die Jugendblüte verewigt, den strotzenden Leib, als Ikone auf immer dem noch grösseren Schrecken, dem Altern entzogen.

Beat Stöckli

Fritz Morgenthaler: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Paris (Qumran-Verlag) 1984.

 

[Annäherung 2]

Ein «unlesbares» Jahrzehntebuch

Auf Martin Franks neuen Roman angesprochen, wehren auch Literaturproduzierende ab: Man habe das Buch durchgeblättert, das sei ja alles Mundart. Und dann die Darstellung. Und das Umschlagbild, dieser Ledertyp mit dem Nackten in den hohen Stiefel. Und der Inhalt: All das Quälen und In-den-Arsch-Vögeln auf den ersten Blick. Also bitte. Dieses Buch könne man nicht lesen. Andere sagen sogar, das Buch sei «unlesbar». Das ist das eine. Mit kleinem Risiko lässt sich aber auch sagen: Franks Buch ist ein Jahrzehntebuch im Rahmen der Schweizer LIteratur, und es ist von unabsehbarer Bedeutung für die Entwicklung geschriebener Mundart von nostalgischer Folklore zur zeitgenössischen Literatur. Das ist das andere.

Frank hat sich erlaubt, an einem Institut für Linguistik in Südindien grundsätzlich über gesprochene Sprachen, über die Umsetzung in Text und über die Möglichkeit ihrer grafischen Notierung nachzudenken. Auf Grund dieses Studiums hat sich Frank in seinem neuen Buch nun ein weiteres erlaubt: Die Sprache, die er schreiben wollte, nicht nach überkommener Konvention, sondern mit linguistisch geschulter Logik darzustellen. Für den Zweck seines Romans hat er im Vergleich zu einer exakten phonetischen eine vereinfachende phonetische Schreibweise gewählt, die die sinnträchtigen, nicht aber die individuell-sprachlichen Unterscheidungen notiert. Frank: «Phonetik ist einfach ein System, das dir erlaubt, mit so wenig Zeichen wie möglich das zu beschreiben, was du willst.»

Bis auf «?» und «/» (beim Wechsel der direkten Rede) sind bei Franks Schreibweise alle Satzzeichen überflüssig, ebenso «v», «y», «tz», «ck». Der Text hat keine Abschnitte, ist konsequent klein, direkte Rede immer VERSAL geschrieben. Vokalqualitäten werden nur für die Dialektunterscheidung («nei» vs,. «näi») verwendet, Vokaldehnungen fallen weg («zukeräperi» für «Zuckererdbeere»).

Da Frank Sprache als Kontinuum betrachtet, fallen dudenmässige Wortzwischenräume weg. Der Sprachfluss wird wörter- und sätzeübergreifend zusammengezogen, wobei die Endung des vorhergehenden Wortes verschwindet, aber den Anlaut des folgenden färbt («läng gue pis» für «reicht gut bis»). Der einzelne Begriff wird in unterschiedlichen Sprachkonstellationen unterschiedlich geschrieben («uweder tscharli usechun kunter o zu üs»). Durch diese dem Sprachklang folgende Schreibweise werden auf kleinstem Raum überraschende Aussagen möglich. Beispiel: Chevi und Tschimi kaufen Bier über die Gasse: «nime zusegäup fersorges ude nimi di angere zwe fläsche FIDERLUEGE / UFWIEDERLUEGE TANKE». Dieses unaufmerksame, schnoddrige Grüssen Tschimis und das eingelernt deutliche der Frau am Buffet wären in normiertem Hochdeutsch nur als Umschreibung möglich. Franks Schreibweise ist deshalb weder Gag noch Provokation, sondern die adäquate Notation seiner Idee. Trotz vereinfachtem Zeichensatz kann er auf gleichem Raum mehr Informationen darstellen, als dies mit einer schematischen Schreibweise möglich wäre. Literarisch relevant an dieser Notationsweise ist, dass möglicherweise genau diese gesteigerte Informationsdichte für die extreme Plastizität, Klarheit und Farbigkeit der Szenen und Bilder mitverantwortlich ist, die Frank entwirft.

Um die Spannung zwischen den monotonen Allmachtsphantasien Tschimis, den planlosen Tagesabläufen und ihrer immer wieder neuen veränderten und überraschenden formalen Gestaltung aufrechtzuerhalten, hat Frank eine eigene, einzigartige Schriftsprache entworfen und durchgeführt. Dies macht seinen Roman zu einer unübersehbaren literarischen Innovation. Eigentlich können es sich nur heillose Ignoranten leisten, dieses Buch als «unlesbar» zu bezeichnen.

Fredi Lerch

 

[Gespräch mit Martin Frank: Beat Stöckli und Fredi Lerch]

WoZ: Das Umschlagbild Deines neuen Romans ziert ein Männerpaar – einer ganz in Leder, der andere nackt bis auf kniehohe Stiefel. Uns fallen dazu Begriffe ein wie Kitsch, Porno oder gar «fascho». Warum diese Provokation?

Martin Frank: In diesem Bild steckt für mich ein anderes Konzept vom Menschen, das – natürlich – dem intellektuellen Menschenkonzept völlig entgegensteht. Aber es ist eine vertretbare Auffassung vom Menschen. Ich habe diese Bilder genommen, weil ich finde: Jene Menschen, die ich beschreibe, die sehen sich selber in dies Richtung, diese Bilder entsprechen weitgehend dem, wie sie gern wären oder sich gern sähen. Auf jeden Fall ist es das Zeug, was sie aufgeilt und was für sie bedeutend ist. Die interessiert nicht die Scheinironie, die Scheindramatik, die die gängige Grafik und gängige Darstellung in der neuen Kunst hat. Es gibt ja unzählige Künstler, die heute auf den beiden Wellen «amnesty international» und «Umweltschutz» daherhumpeln, bei denen jedes Bild eine derart billige message bringt, die du nicht ständig eingehämmert haben musst.

Aber dieser martialische Ledertyp, in der einen Hand die Peitsche, die andere am Arsch des Partners –

Wer sich durch dieses Bild wirklich provoziert fühlt, der hat eine ziemlich schmale Bandbreite. Gerade die Linken neigen ja meistens zum Schlitzverschluss, aber es gibt ja irgendwo eine Grenze. Wenn die Leute nicht mehr sehen, dass hier auch noch ein gewisser Witz dahinter ist, dann sehen sie gar nichts mehr. Es ist doch komisch, dass gerade jene Leute, die ständig auf der Suche sind nach irgendetwas, das irgendwie den Anschein von einem Bürgerschreck hat, die humorlosesten Menschen sind, die es gibt.

Aber der Ledertyp ist doch eine Verherrlichung von nazihaftem Männerwahn…

Das ist eine Kritik aus dem linken Winkel, für die Lederleute eigentlich ein Anathema sind. Aber sie überschätzen vermutlich katastrophal, was da läut. Diese Leute haben mit Faschismus, mit Nazitypen, nichts zu tun. Die konsumieren einfach ein visuelles Inventar für ihre relativ naiven Zwecke. Das sind nicht die Leute, die den Rassismus machen. Das sind meistens harmlose Menschen. Zusammenhänge mit den Nazis, das geht dann schon über mehrere Umwege. In der Zeit, als es viele Schwule in der SA hatte, also vor 1933, war die SA noch gar nicht eine extrem politische Organisation, sondern weitgehend noch ein Männerbund. Damals wurden viel mehr noch die turnerischen und die freundschaftlichen Aspekte betont, natürlich in einem allgemein völkischen Zusammenhang. Aber in diesem völkischen Zusammenhang drin waren auch viele Linke. Nur weil die Nazis das Gedankengut dieser Lederszenen weitgehend aufgenommen haben, das übermässig Männliche, und etwas anderes daraus gemacht haben, kann man nicht sagen, dass es zwischen der Lederszene und den Faschisten irgendwelche Beziehung gibt. Die Schwulen sind ja dann auch alle in die Konzentrationslager gekommen. Und es hat Leute gegeben, die, nachdem sie wieder herausgekommen waren, Lederleute geblieben sind. Ein Zwanzigjähriger hat mit beschrieben, wie er sich mit etwa 16 zum ersten Mal eine Lederjacke habe kaufen können, und sein Freund konnte sich noch keine Lederjacke kaufen. Und dann haben sie sich in dieser Lederjacke geliebt – das hat eben mit «faschistisch» nichts zu tun, da ist überhaupt keine politische Note drin. Leder ist einfach ein Teil ihres Sexuallebens, der ihnen enorm wichtig ist. Ich glaube eher, dass der ganze Faschismus-Vorwurf einfach davon ablenken soll, dass die Linken nie etwas für die Schwulen getan haben und einfach furchtbar Mühe haben mit den Schwulen. Ausser der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP, die manchmal, von Zeit zu Zeit, ganz vorsichtig bemerkt, dass es die Schwulen überhaupt gibt – aber die anderen haben überhaupt nichts am Hut mit den Schwulen.

Tom of Finland, der die Zeichnung auf dem Titelbild gemacht hat, wurde als Zeichner von Porno-Comics bekannt.

Tom of Finland hat einfach das Pech, dass er einige der berühmtesten Porno-Comics der Welt gemacht hat. Deshalb ist er abgestempelt als Porno-Künstler. Aber er ist wirklich einer der besten Zeichner und wohl der einzige, der erlebt hat, dass die Leute plötzlich so herumlaufen, wie er sie zwanzig Jahre vorher gezeichnet hat. Alle anderen Leute zeichnen, wie die Leute vor zwanzig Jahren herumgelaufen sind. Tom of Finland hat eine wahnsinnige Wirkung gehabt auf die ganze Schwulenszene. Ich glaube, heute laufen die halben Leute so herum, wie er das entworfen hat und alle versuchen, so zu sein wie seine Figuren.

Was am Umschlag Deines Buches weiter auffällt ist der französische Titel.

Der ist mir einfach so eingefallen. Ich habe mir eben den Titel zuerst ausgedacht gehabt. Unter diesem Titel konnte ich mir meine Idee, die ich hatte, vorstellen. Dazu kommt: Ich habe einen Roman gemacht. Das ist etwas Elegantes. Ich wollte etwas Elegantes machen, und das braucht auch einen eleganten Titel. Dieser Text ist nicht handglismets Birchermüeslizüg. Ich betrachte mich nicht als irgendein Mundartchrüsmelipoet aus irgendeinem Chrachen, der einfach Freude hat, mit den Mundartwörtern öppis zu machen. Die Sprache in meinem Buch ist eine, die auf eigenen Beinen laufen kann. Deshalb der Titel: Er ist einfach weltläufiger, als wenn du einen schweizerdeutschen Titel machst. Sonst haben die Leute sofort das Gefühl, der Text sei aus dem pluemete Trögli.

Den Eindruck, dass Dein Buch handglismets Birchermüeslizüg sei, hat man wirklich nicht, im Gegenteil: Der Text wirkt extrem gearbeitet und geschliffen. Handwerk mit Computer?

In der Schriftstellerei – oder besser: überall, wo das Material nichts kostet – wird normalerweise sehr gegen das Handwerk losgegangen, wie wenn Handwerk elitär wäre: Leute kommen mit einem Text, den sie vor drei Tagen geschrieben haben. Vorher haben sie überhaupt noch nie etwas probiert, haben sich noch nie mit Schreiben beschäftigt, haben auch noch nichts gelesen und meinen dann, sie müssten gleich in den «Club der Literaten der Schweiz» aufgenommen werden und absolut gleichberechtigt dabeisein. Das ist etwas, das ich nicht begreife.  Schreiben ist auch etwas, das man lernt, bei dem man arbeitet und sich anstrengt und versucht, etwas zu begreifen. Schliesslich haben sich seit Jahrhunderten immer wieder vernünftige Leute damit beschäftigt, und da geht die geistige Strömung einfach wirklich zwischen Leuten, die das Handwerk beherrschen. Ich finde, Schreiben braucht eine gewisse Anstrengung. Ich zum Beispiel habe mich angestrengt, und ich weiss es.

Die Handlungs- und Personenmuster vom «Fögi» waren sehr ähnlich wie nun beim «Chevi»: Eine Männerbeziehung, die am Schluss kaputt geht, weil einer der beiden stirbt. Du hast offenbar eine spezielle Beziehung zu dieser Konstellation.

Ich habe versucht, das gleiche zu machen, ich hab’s einfach besser machen wollen. Ich habe zu schreiben begonnen mit einer bestimmten Romanidee, dem Fögi, und hab das gemacht, so gut ich konnte. Dann habe ich das noch einmal versucht, im «Spannteppichjungen», und jetzt hab ich’s ein drittes Mal versucht. Und diesmal habe ich’s einigermassen so hingekriegt, wie ich es machen wollte.

Warum schreibst Du immer wieder die gleiche Geschichte?

Wenn du immer etwas anderes schreibst, dann hast du einfach am Schluss ein Dutzend Bücher geschrieben. Das ist nicht spannend. Dann arbeitest du wie ein Journalist, schreibst mal über Alter, dann über Krebs, dann ein wenig über die Umwelt und dann – ja, das ist eigentlich schon fast alles, worüber man heute schreiben kann. Ich finde es viel spannender, wenn du das gleiche Thema wieder fixierst und versuchst, einen Stock höher dranzugehen. Ich finde, die Leute können nun meine alten Bücher wegwerfen, das neue ersetzt jetzt die, die ich vorher gemacht habe.

Das tönt so, wie wenn Du einfach handwerklich an einem Stoff interessiert wärst und der das Leben lang immer der gleiche bleiben könnte. Die Wahl des Stoffes ist doch auch schon ein künstlerischer und ein politischer Entscheid.

Natürlich stimmt das nicht, dass da nur Handwerk ist. Aber du musst sehen: Wenn du dieses Handwerk in einem gewissen Grad betreibst, dann kommt der Punkt, wo dich das innerlich auch bewegt. Das ist ganz klar. In einem bestimmten Moment bist du mit dir selber konfrontiert, und du schreibst sicher nicht, was dich überhaupt nicht interessiert. Und du verjoggelst auch nicht ein paar Jahre deiner Existenz, um irgendeine Story zu schreiben, die dich nichts angeht. Aber umgekehrt musst du auch sehen: Ein Schriftsteller, der etwas Ernsthaftes macht und sich anstrengt, der ist nicht wie eine Familienbibel, die man aufschlägt, wenn der Besuch kommt und sagt: Lueg i mis Härzli, das isch drin. Das kannst du einfach nicht erwarten. Das Handwerk ist eben das, was dir überhaupt ermöglicht, intim von dir selber zu reden. Wenn du das nicht hast, dann geht’s einfach nicht.

Wie hast Du denn recherchiert?

Ich hab ein Inserat gemacht im «Easy rider», in so einem Töffheftli, die Leute sollten mir doch bitte schreiben, was sie an Leder und Töff derart faszinierend finden. Dann haben mir viele. viele Leute haufenweise Brief geschrieben, und zwar zum Teil saugute. Ich hab einen dicken Ordner voll Material gehabt, und die haben mich dann zum Teil auch von sich aus richtig gut dokumentiert. Ich hab ihnen jeweils zurückgeschrieben, das und das sei mir noch nicht klar. Und die haben wieder geantwortet. Diese Leute haben wirklich fleissig mitgearbeitet. Man hat mir dann auch Erlebnisse beschrieben: zum Beispiel Leute, die bei Rockern dabei sind, Schwule, die bei solchen Rockergruppen mitmachen, aber auch Lederleute.

Hast Du Statements von diesen Leuten denn in Dein Buch eingebaut?

Nein. Die Realität lässt sich auch in mikroskopisch kleinen Stückchen nicht einbauen in einen Roman. Der Roman ist eine andere Welt. Nein, ich hab mit vielen dieser Leute auch geredet und später beim Transkribieren bemerkt, dass sie zum Teil unendlich viel besser reden, als wir schreiben. Von ihnen habe ich viel gelernt. Die haben eine Sorte von Eleganz, von Inversionen und Elisionen – es gibt eine Sprachfigur, das Oxymoron, bei der du einen Satz anfängst in eine Richtung und in der Mitte so eine Halbpirouette machst und auf der anderen Seite als etwas anderes herauskommst, also eine Art sinngemässe Modulation machst. So Zeug machen diese Leute laufend. Bei denen ist das Poetische noch ein Naturelement, die erzählen schön, weil das Zeug sich in ihnen so zusammenfügt, zu etwas, das dem, was sie erzählen, entspricht. Während wir auf allerverknorzteste Art versuchen, mit Backsteinen ein Berglein zu bauen, von dem man am Schluss meinen soll, es sei die Jungfrau. Ich habe mit einem zusammengearbeitet, der war etwa fünfzehn, der hat auch so irrsinnig schön geredet. Und auch plastisch: Du hast immer genau gesehen, wo du jetzt bist, wie der aussieht, du konntest dir alles vorstellen. Ich glaub schon, dass das die Erwachsenen generell eigentlich nicht können. Sie wissen gar nicht mehr, dass das möglich ist mit unserer Sprache. Bei uns gibt es deshalb auch literarisch wenige Versuche, mit der Sprache etwas zu machen.

Wie lange hast Du an diesem Buch gearbeitet?

Ich glaube, seit etwas 1981. Zuerst habe ich erst mal lange das «Wie» überlegt, rein methodisch. Ich habe da im Vergleich zu den ersten Büchern methodisch viel dazugelernt. Du lernst ja nicht einfach, indem du kritzelst. Du musst dir auch mal überlegen, wie’s überhaupt funktioniert und wie’s die andern machen. Ich habe schon auch geschaut, wie’s die andern machen; also diejenigen, die’s besser können, natürlich.

Du hast Dein Buch mit Hilfe eines Computers geschrieben. Wie hast Du denn den beim Schreiben gebraucht, wie bist Du vorgegangen?

Also gut: Du kannst einen Roman anfangen, indem du dir einen Titel ausdenkst und dann sagst du: Ich habe einen ersten Teil, einen zweiten Teil und einen dritten Teil, und im ersten Teil passiert das und das und das; im zweiten das und das und das. Du kannst deine Idee soweit gliedern, bis du das Gefühl hast, jetzt müsste ich eigentlich dann beginnen mit dem Sätzeschreiben. Und dann kannst du damit beginnen, überall mal Sätze reinzustopfen und zwischendrin wieder Sätze reinzustopfen. Die Technik ist einfach die: Du musst immer alles ausschreiben, die handelnden Personen und alles. Du darfst einfach keine Pronomina verwenden, sonst läuft’s natürlich nicht, wenn du irgendwo noch etwas dazwischenschiebst und es dann heisst: «er» und «ihn» und du weisst nicht mehr, worauf sich was bezieht. Ich habe dann einfach alles ausgeschrieben und später maschinell wieder herausredigiert. Das ist eine weitaus intelligentere und interessantere Art des Schreibens, als wenn du mit einer Idee solange schwanger gehst, bis du einen dicken Stein im Bauch hast und dann versuchst, das einfach wie an einem langen Bindfaden herauszuschreiben.

In Deinem Buch weist Du in einer kleinen Notiz darauf hin, der Roman sei «mit Hilfe der Lee Strasberg-Methode» geschrieben. Was heisst das?

Lee Strasberg war der Schauspiellehrer von Marilyn Monroe und James Dean. Strasberg hat mit einer Art «Von-Aussen-nach-Innen-Methode» gearbeitet. Du lernst, jemand anders darzustellen, indem du versuchst, seine Äusserlichkeit nachzuvollziehen, also zu imitieren. Das Gegenteil einer psychoanalytischen Methode: Eine verhaltensimitative Methode, die annimmt, dass, wenn du dich genau so verhältst wie jemand anderes, dass – gewissermassen marxistisch – dein Körper die seelischen Zustände mitbedingt und du so zu einem Verständnis des andern kommst durch das Nachvollziehen.

Dieser Begriff «Lee-Strasberg-Methode» kommt also aus der Schauspielpädagogik?

Der kommt von mir. Das ist wie mit «Panteen». Du schreibst auf ein Päckchen «Panteen» oder «Pantenol» und dann haben die Leute das Gefühl, die Haare wachsen wieder. So ein Wort hilft viel. Wobei: Bei der «Lee-Strasberg-Methode» ist schon eine Idee dahinter. Ich find das einen guten approach, um mich mit Leuten auseinanderzusetzen, die weit weg sind. Dieses literarische Dokumentieren, das bringt’s ja überhaupt nicht. Da hast du am Schluss einen Koffer voll Papier über das, worüber du schreiben willst, und du hast das Gefühl: Ich verstehe die Leute. Aber dieses Verstehen funktioniert nicht, weil du ihnen ein viel zu reiches Innenleben gibst, ein Innenleben, das eben das Innenleben eines Schriftstellers ist, der einen Töffahrer zum Beispiel versteht. Ich glaube eben, dass bei Leuten, die nicht Intellektuelle sind, eine Beschreibung weitgehend auf der Hand liegen muss. Das nicht-intellektuelle Leben ist das Leben, das auf «action» beruht, in dem Dinge gemacht werden und der Mensch in sich drin Halt findet an einem Gerüst von Handlungen, die abgelaufen sind: Ich habe das und das und das gemacht. Und wenn du versuchst, das umzulagern auf eine Ebene von Erlebnissen psychischer Art, wie bei Tschimis Phantasien, dann bleibt diese Ebene nicht-intellektuell.

Auch Deine Darstellung von Sprache hat mit Beobachten zu tun. Du schreibst, wie Du hörst. Auch hier «Lee Strasberg-Methode»?

Ja, natürlich. Ich war in einem Institut für Linguistik in Südindien. Das war einfach verblüffend, wie sich diese Leute mit Sprache beschäftigen. Rein beobachtend. Die sind völlig systematisch, beobachten die Sprache, die Form. Das ist eine Art der Sprachbeobachtung, die wir bei uns nicht kennen, bei uns wird die Sprache gar nicht angeschaut, es ist ja selbstverständlich, dass man sie hat. – In Bezug auf unsere Mundart zum Beispiel gehst du, auch als halbwegs Gebildeter, durch all deine Schuljahre, ohne dass du je einen einzigen Satz über die Struktur unserer Sprache hörst. Mundart ist einfach inexistent. Und wenn sich die Leute dafür interessieren, dann geht es um Fragen, was en Tüchel isch und so Zeug.

So ein wenig ballenbergisch.

Ein sprachliches Museum, ja: Wörter, die niemand mehr braucht, hervorholen und wissen, was sie bedeuten. Oder geografisch wissen, wo die Wörter hingehören, wie beim Sprachatlas. Aber dort gilt auch: Je ausgefallener und unüblicher ein Wort ist, desto mehr haben sie Freude daran. Herauszufinden, wo man Tüchel sagt, das interessiert sie schaurig. Ich habe gerade heute einen Brief erhalten aus dem Emmental, es müsse ja schrecklich sein, so zu schreiben, wie ich schreibe und dann: «…u danke, dass Dir i däm Züri uss öii Mueterschprach nid verlehrt heit». Mundart ist eben wirklich Folklore. Mundartgruppen sind wie Trachtengruppen und Volkstanzgruppen. Man siedelt Mundart automatisch irgendwo an, als wäre sie bereits tot. Dabei reden die Leute den ganzen Tag schweizerdeutsch. Es gibt keine vernünftige Beschäftigung mit der Mundart.

Glaubst Du nicht, dass die Drastik in Deinem Buch, das Würgen, das Gewalttätige immer wieder, der Tod von Chevi, das zudeckt, was Dein Buch wirklich spannend macht, nämlich diese feinen Entwicklungen zwischen Tschimi und Chevi, diese kleinen Dissonanzen am Weg?

Nein, die kleinen Dissonanzen bleiben schon klar. Du musst mal schauen, wie sich das ganze verändert, was Tschimi machen will durchs ganze Buch hindurch, was er sich immer sagt, was er machen will und was er dann tatsächlich macht. Er macht immer etwas anderes. Und das andere, was er macht, das verändert sich laufend. Die Dissonanz besteht darin, dass er die ganze Zeit versucht, etwas Konstantes zu wollen, er will es zwar gar nicht mehr, aber er versucht es zu wollen. Selbst dieses Wollen gelingt ihm nicht mehr. Er klammert sich an die Rolle des Starken, er ist der Starke, der andere ist der Schwache. Er ist der Herr, der andere ist der Slave. das bröckelt aber ständig auseinander. das sind die kleinen Dissonanzen, es hat einfach haufenweise Haarrisse im ganzen drin: Am Anfang will er irgendetwas, aber nicht in der Realität, sondern vor allem in der Vorstellung. Und am Schluss hat er’s in der Realität gemacht, aber in der Vorstellung gar nicht mehr gewollt.

Ein Betriebsunfall quasi?

Ein Fall für die SUVA. – Nein, im Ernst, ich glaube schon, dass Sexualität im Normalfall eine gegenseitige Aggression ist, eine feindselige Beziehung, die gerade deshalb mit so viel Getätschel und Liebhaben umgeben wird. Die meisten Leute leben ihre sexuelle Beziehung in einem Ausnahmezustand. Auch nach fünfzig Jahren Ehe verabschieden sich Ehepaare, bevor sie zu vögeln beginnen, um sich danach wieder Grüezi zu sagen eine Viertelstunde später. Diese zwei Personen geben ihre normale Beziehung zueinander auf und werden eine andere Person eine zeitlang, um danach, meistens mit Hilfe eines Rituals, wieder in ihre andere Rolle zurückzuschlüpfen. Die liebende Sexualität – natürlich, du kannst das lernen. Nur dieses Lernen ist etwas, das etwas anderes aufhebt und wenn du dieses Lernen durchgeführt hast, dann hast du danach keine Sexualität mehr. Es gibt zwar noch einen Halbweg, wo du scheinbare eine liebe Sexualität hast, gerade bei ganz jungen Leuten. Aber danach, wenn du als Erwachsener lernst, deine Sexualität zu erotifizieren und lieb zu sein mit dem Partner, dann hebt das deine Sexualität mit der Zeit auf, und mit der Zeit bist du einfach in einem Zustand, wo du willst, dass es der andere schön hat und gut hat und befriedigt ist. Und dann kannst du gerade so gut miteinander nicht ins Bett gehen. Nur um zu schauen, dass der andere glücklich ist – es ist ja nicht ein Urtrieb des Menschen, den anderen sexuell zu befriedigen.

Der Psychoanalytiker Medard Boss hat ein Büchlein geschrieben: «Sinn und Gehalt der Perversion». Darin beschreibt er einen Sadomasochisten, einen recht massiven Typen. Aufgrund der Gespräche, die Boss mit ihm führt, kommt er zum Schluss: Dieser Mensch braucht eine wahnsinnige Zuspitzung im Schmerzzufügen oder Schmerzerleiden, damit er spürt: Ich lebe. Boss braucht das Wort «komprimieren», komprimieren durch Schmerz, damit ihn das dann für Augenblicke befreit und aufbricht. Ist Tschimi auch ein solcher Typ?

Bei Tschimi und Chevi glaube ich das nicht so ganz, weil, das ist keine wirkliche sadomasochistische Beziehung. ich glaube, es geht mehr um die Macht von jemandem, der überhaupt keine Macht hat. Aber bei richtigen Sadisten und Masochisten glaub ich schon, dass es so ist, wie du sagst: Der Schmerz kann dir ja auch helfen, dass du eine grössere Konzentriertheit erreichst und dadurch zum Beispiel überhaupt Ejakulationshemmungen überwinden kannst, die diese Leute zum Teil in einem Ausmass haben, dass sie sie in ihrem normalen Zustand nicht überwinden können. Aber ich bin kein Psychiater.

Obwohl Du Deine Bücher gut verkaufst, arbeitest Du für den Broterwerb in einem Architekturbüro. Du kannst also nicht leben vom Schreiben.

Das musst du sehen: Ein Chefarzt am Kantonsspital, der kassiert doch unendlich viel mehr als jeder Schweizer Literat. Da kannst du Erfolg haben, dass dir die Leute die Türe eindrücken, du hast das Geld doch nicht. Schreiben ist kein Beruf, wo man Geld verdienen kann.

Darum ist es auch nicht weiter erstaunlich, wenn ich gar nicht mehr so sehr darauf schaue – ich brauche nicht kommerziell zu schreiben, es hat gar keinen Sinn. Beim «Fögi», da hatte ich noch das Gefühl, ich könne Erfolg haben, Geld verdienen, wenn auch nicht gerade in den grossen Zahlen. Da hatte ich noch diese Idee und habe deshalb immer ein wenig auf den Leser geschielt, dass ich dem Leser immer wieder ein Hundeplätzchen hinwerfe, damit der lachen kann. Das hat ja dann auch funktioniert, die Leute haben gelacht. Aber dann habe ich gemerkt, dass das nichts bringt. Bei den Umsätzen, die du hast im Literaturgeschäft, da brauchst du den Leuten nicht noch Hundeplätzchen hinzuwerfen, das kommt gar nicht mehr drauf an. es lohnt sich erst gar nicht zu versuchen, den Leuten irgendwie entgegenzukommen, sich anzudienen. Du kannst gerade so gut geradeaus fahren, du verlierst kein Geld dabei.

• ter fögi ische souhung, Zürich (eco Verlag) 1979.

• Spannteppichjunge, Zürich (eco Verlag) 1980.

• La mort de chevrolet. Roman, Zürich (Ammann Verlag) 1984.

Ich danke Beat Stöckli für die Einwilligung, unsere gemeinsame Arbeit hier integral zu dokumentieren.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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