Unglückliche Konstellationen

«Das Stückeschreiben ist für uns Autoren deutscher Sprache vorderhand sinnlos geworden, weil wir kein Theater haben, das uns bringt.»

(Ödön v. Horváth, 1937)

1987/88 wird der Dramatiker Werner Wüthrich eingeladen, ein Jahr lang in der Villa Maraini, dem Istituto Svizzero di Roma, zu arbeiten. Mit Fleiss und Arbeitseifer setzt er sich hinter seine Ideen und Projekte. Mit jenem Fleiss, mit dem er als ehemaliger Bauernsohn aus Ittigen bei Bern in den siebziger Jahren in Wien seine Studien in Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie vorangetrieben und über «Brecht in der Schweiz» dissertiert hat; mit dem gleichen Arbeitseifer, der ihm in den achtziger Jahren verschiedene Dramatiker-Stipendien und zwei erste Preise eingebracht hat. Am Ende seines Romjahres bringt er, neben kleineren dramatischen Texten, Exposés und neuen Ideen, drei Komödien für die grosse Bühne mit nach Hause. Damit ist freilich noch nichts gewonnen: «Im Gegensatz zum Prosaschreiber ist der Stückeschreiber in der gesellschaftlichen Diskussion, auf dem literarischen Markt, nicht vorhanden, wenn er nicht gespielt wird», schreibt Felix Weyh in der «TheaterZeitSchrift» (TZS II/89) und fährt fort: «Seine Isolation übertrifft noch die des wenig verkauften Lyrikers, der zumindest über Rezensionen ins öffentliche Bewusstsein Eingang finden kann.» Seit zwei Jahren versucht Wüthrich, für den seine bisher bekannteste Arbeit, der Erzählband «Vom Land – Bauern berichten» (Unionsverlag), nur eine Gelegenheitsarbeit gewesen ist, seine Stücke zur Aufführung zu bringen.

«Halt auf Verlangen»

Für die dramatische Gestaltung einer Postautofahrt, die nach merkwürdigen Vorfällen in Panik und einer «Stunde der Wahrheit» kulminiert, hat Wüthrich 1987 den 1. Preis des Dramatikerwettbewerbs der bernischen Gesellschaft für das Volkstheater erhalten. Verschiedene Spielgruppen zeigen sich in der Folge am Stück interessiert, lehnen aber die Uraufführung ohne Begründung ab. In Heimenschwand bei Thun, wo der Männerchor 1984 Wüthrichs Stück «Landflucht» gespielt hatte, verzichtet man, weil man das Dorf nicht wieder wegen einer Theateraufführung ins Gerede bringen wolle. Am 4. März 1989 bringen die Hottwiler Spielleute, eine Laienbühne im Aargauischen, «Halt auf Verlangen» zur Uraufführung. Wüthrich, der sich seit 1979 als Verfasser von Volksstücken einen Namen gemacht hat, ist mit der Inszenierung «sehr zufrieden». Auch für die Spielleute ist's ein Erfolg:«Für einmal ist es kein Muss, sondern eine Freude, über eine Aufführung zu berichten», beginnt die Rezension der «Theater Zytig», die auch auf den Publikumserfolg hinweist: «Die Nachfrage verlangte nach zusätzlichen Aufführungen.» Am 30. Juni 1989 erhält Wüthrich die Tantiemen-Abrechnung. Für die mehrmonatige Arbeit werden ihm vom Volksverlag Elgg 443.20 Franken überwiesen (Wüthrich ist verheiratet und Vater zweier Kinder).

«Dällenbach»

In Rom arbeitet Wüthrich sein Exposé zu einer dramatischen Fassung des «Dällenbach Kari»-Stoffs aus. In seinem Tagebuch notiert er:«Der Stoff konzentriert sich immer mehr auf eine Woyzeck-Geschichte: Ein armer Hund wird ständig geschlagen und verspottet. Im Gegensatz zum Büchner-Drama hat Dällenbach keine Marie, an die er seine erhaltenen Schläge weitergeben kann. Doch er greift auch zum Messer, weil die Beziehungen der Menschen aggressiv, kriegerisch und feindlich sind. Er richtet das Messer gegen sich, erkennt aber die Absurdität und Lächerlichkeit. Dabei entdeckt er den Humor als Waffe...» Wüthrich schreibt den Stoff in zwei Fassungen und übergibt die Dialektbearbeitung in Bern dem Theater 1230, dessen Mitbegünder er 1977 gewesen ist. Der damalige Leiter des Kleintheaters, der im Dezember 1989 verstorbene Peter Schneider, gibt der Textvorlage eine neue Stossrichtung und arbeitet sie durch Neu-Hinzugefügtes zu einer show- und spektakelbetonten Revue um. Am 19. September 1989 nimmt Wüthrich aus Anlass der Uraufführung in einer «Erklärung an die Presse» Stellung: «Während der Probenarbeit entfernte sich das Theater 1230 mehr und mehr von meinen Intensionen und meiner Version des Stoffes, so dass ich mich genötigt sah, meine Komödie ‘Dällenbach’ zurückzuziehen und die erteilten Aufführungsrechte zu annulieren. Ich vereinbarte mit dem Theater 1230 in der Folge, dass ihre sehr freie Interpretation dennoch gezeigt werden darf, und zwar als ‘Fassung des Theaters 1230, nach Motiven aus dem gleichnamigen Stück von W.W.’.» Auch nach dieser Aufführung ist für Wüthrich offen, ob es ihm gelungen ist, dem Dällenbach in Kurt Frühs Film-Melodram aus den frühen siebziger Jahren den Zuckerguss abzukratzen: «Erst wenn wirklich mein Stück einmal gespielt wird, ist eine Antwort möglich.»

«Fast Nacht»

In Rom ausgearbeitet hat Wüthrich auch das Stück «Fast Nacht oder Der Tod geht um in Basel», eine tragische Verwechslungskomödie. Ort der Handlung ist das Restaurant «Zum Lällenkönig» in Basel, 1943, «während der Kriegswende von Stalingrad zur Zeit der verbotenen Fasnacht». Eine deutsche Wirtschaftsdelegation wartet auf ihre einheimischen Verhandlungspartner; es geht um neue Handelsverträge und das Reinwaschen von Raubgold. Die Geschäftsführerin lässt das schon abgesagte Fest der verbotenen Fasnacht doch noch steigen, als sich die anwesenden Nazis dafür begeistern. Der Wehrmachtsdeserteur Swoboda, der im Hotel Unterschlupf sucht, macht anfänglich mit seiner Uniform als Fasnachtsfigur Furore, am Schluss jedoch wird er den Interessen von Wirtschaft und Politik geopfert und über die Grenze abgeschoben.

Zusammen mit dem Dramaturgen Eberhard Zick erstellt Wüthrich bis zum Frühjahr 1989 eine Spielfassung für das Stadttheater Bern. «Fast Nacht» wird als sozialkritischer Gegenakzent zu den Kriegsausbruchsfeierlichkeiten des Jahres 1989 in die Spielplanüberlegungen des Stadttheaters für die Saison 1989/90 einbezogen, die Uraufführung für anfangs 1990 ins Auge gefasst. Wüthrich wird von Zick eingeladen, mehrere Aufführungen des Hauses mit dem Ziel zu besuchen, das Schauspielensemble kennenzulernen, um einen eigenen Besetzungsvorschlag machen zu können. Was danach geschehen ist, hat Wüthrich in einer «Chronik aus der Hauptstadt» festgehalten: «An einem dieser Theaterabende traf ich zufällig in der Pause einen Bekannten, und wir wechselten ein paar Worte. Als ich ihm den Grund meines Theaterbesuches erklärte, schaute er mich mit grossen Augen an: – Ja, ob ich denn nicht wisse, dass meine Uraufführung nicht kommen werde?» (Berner Tagwacht, 16.12.1989) Offiziell informiert wird Wüthrich nicht. Als er einige Tage später selber nachfragt, bestätigt ihm Zick, die Uraufführung sei geplatzt. Bis heute hat Theaterdirektor Philippe de Bros gegenüber Wüthrich weder mündlich noch schriftlich zur Absetzung des Stücks vom Spielplan 1989/90 Stellung genommen. Für die zweimonatige Arbeit an der Spielfassung wird der Autor nie einen Rappen erhalten. Wer nicht den Status eines Hausautors, einer Hausautorin hat oder aufgrund des eigenen Marktwerts eine Gage erzwingen kann, trägt zugunsten der subventionierten Bühnen das Risiko allein (das Berner Stadttheater zum Beispiel erhält jährlich 17 Millionen Franken öffentlicher Gelder).

De Bros, der das Stadttheater Bern nicht zuletzt wegen Marco Morellis Sturz vom Seil [1] vorzeitig auf Ende dieser Saison verlässt, hatte bei seinem Amtsantritt 1986 dem aktuellen Theaterschaffen Hoffnungen gemacht: «Die Schweizer Dramatik ist von grösster Wichtigkeit; wenn wir sie in unserem Land nicht pflegen, wird sie zum Absterben verurteilt.» Unterdessen ist sicher, dass unter seiner Direktion in Bern kein einziges Stück aktueller Schweizer Dramatik zur Aufführung kommen wird. Zum Stück «Fast Nacht» hält de Bros gegenüber der WoZ fest, mit Wüthrich habe es eben nie einen Vorvertrag oder ein Versprechen gegeben. Das Stück sei abgesetzt worden, weil die zur Verfügung stehenden nicht-schweizerischen Regisseure eine schweizerische Regie empfohlen hätten und eine solche nicht aufzutreiben gewesen sei. Im übrigen sei das Stück von einigen Fachleuten als «nicht machbar auf der Bühne» bezeichnet worden: «Was soll ich mich nach meinem legendären Sturz hier in Bern für ein so schwieriges Stück einsetzen?» Die Gründe für die Absetzung des Stücks seien alles in allem in einer «unglücklichen Konstellation» zu suchen. Finanzielle Überlegungen hätten keine Rolle gespielt. Bekannt ist allerdings, dass de Bros Ende Saison eine Abgangsentschädigung in der Grössenordnung eines halben Jahresgehalts nur unter der Bedingung erhält, dass er das Ausgabenbudget der Saison 1989/90 einhält. Wüthrich seinerseits vermutet in seiner «Chronik» als Gründe für die Streichung seines Stücks «Mutlosigkeit» bei de Bros, «eine mögliche Intervention von oben» (die von der Verwaltungsratspräsidentin Verena Bürki bestritten wird) und «dass man vielleicht einen Intendanten auch dafür bezahlen könnte, bestimmte Dramatik nicht aufzuführen.»

Unterdessen hat Wüthrich sein Stück anderen Theatern angeboten. Die Reaktionen lassen vermuten, dass es in den nächsten Spielzeiten nicht zu einer Urauffühung kommen wird. «Fast Nacht» ist, darin sind sich alle Theaterleute einig, nur auf einer grossen Bühne zu realisieren. Einig sind sie sich auch darin: Heutzutage ist das Risiko zu gross, ein Stück eines unbekannten Autors auf einer grossen Bühne zu bringen. Noch in dieser Spielzeit – am 15., 22. und 29. Mai – will das Schauspielhaus Zürich nun die tragische Komödie immerhin als szenische Lesung vorstellen. Das ist zwar keine Aufführung, aber immerhin ein Test vor Publikum.

«The gnomes of»

Die TZS hat «Eine Erhebung zur Lage deutschsprachiger Bühnenautoren» unter den Titel gesetzt: «Am Theater sind wir der letzte Dreck» (III/89). Darin wird zusammenfassend festgestellt: «Die Lage des Autors ist zu beschreiben mit Stichworten wie Einflusslosigkeit, Anspruchs-Überforderung, wirtschaftliche Unsicherheit, Isolation und Nichtbeachtung.» Damit sind auch Wüthrichs Erfahrungen umrissen. Er, der die letzten zehn Jahre in Recherchen und die Erarbeitung dramatischer Stoffe investiert hat, sieht sich nun immer wieder konfrontiert mit der schieren Ignoranz abgebrühter Verwalter in den Institutionen. Der Aufwand für seine Arbeit steht in keinem Verhältnis zum Ertrag. Manchmal überlegt er sich, das Stückeschreiben aufzugeben. Auch in diesem Punkt ist er kein Einzelfall.

Dann wieder klammert sich Wüthrich an die wenigen Lichtblicke. Er arbeitet weiter. Zur Zeit an einer Komödie mit dem Titel «THE GNOMES OF oder ‘Hast noch der Söhne ja’», einer Farce für drei Darsteller: Le vieux Fritz auf dem Kriegerdenkmal, le vieux Guillaume auf dem Freiheitsdenkmal und einen Punk. Die Uraufführung ist auf den nächsten Winter in der Gessnerallee in Zürich geplant. Wüthrich schreibt auch hier auf eigenes Risiko. Kommt die Aufführung zustande, erhält er zwischen 2000 und 4000 Franken, scheitert die Finanzierung: nichts.

[1] An dieser Stelle wurde auf die entsprechende Berichterstattung der WoZ Nr. 5/1989 verwiesen: Im November 1988 war der Schauspieler und Artist Marco Morelli im Berner Stadttheater bei der Hauptprobe von Guy Krnetas Stück «Till Eulenspiegel» vom Seil gestürzt und hatte schwere Kopfverletzungen erlitten. Während Theaterdirektor de Bros einen Materialfehler an Morellis Zugmaschine für den Sturz verantwortlich machte, war es für Morelli menschliches Versagen von Theaterangestellten. Untersuchungen der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt haben Morelli später recht gegeben (hier nach «Berner Zeitung», 4.6.2012).

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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