Vom Sinn des Scheiterns

Ein verblüffend junger alter Mann, dieser Hans Mühlethaler. Kommt herein, setzt sich hin, sofort präsent, hört zu, antwortet präzis, erzählt ohne Abschweifungen. Als 1963 sein Theaterstück «An der Grenze» im Zürcher Schauspielhaus aufgeführt wurde, war er für einige Wochen der Shootingstar der Deutschschweizer Literaturszene. Erwähnt man heute, über Mühlethaler schreiben zu wollen, wird man gross angeschaut: Ja, lebt denn der noch? Hans Mühlethaler – ein halbes Jahr jünger als Paul Nizon, drei Monate älter als Jörg Steiner – spricht über sein Leben als Schriftsteller und sagt: «Wer scheitert, lernt mehr, als wer Erfolg hat.»

Versagen und Triumph der frühen Jahre

Mit dem Gefühl, gescheitert zu sein, kämpfte Hans Mühlethaler schon Jahre bevor er als Schriftsteller erstmals zur Kenntnis genommen wurde. Direkt vom Seminar kam er 1950 ins Schulhaus «An der Egg» ob Röthenbach (BE). Als Lehrer und als Organist in der Dorfkirche war er bald anerkannt; früh gründete er mit einer Sekundarlehrerin aus Bern eine bald siebenköpfige Familie. Mühlethaler, ein Schulmeister, wie er im Emmental seit Gotthelfs Zeiten im Buche stand. Aber abends am Schreibtisch leidet er als junger Schriftsteller: Einen fertigen und zwei weit fortgeschrittene Romane in der Tradition von Thomas Mann und Fjodor Dostojewski wirft er weg und hadert mit seinem Versagen als Schriftsteller.

Schliesslich macht er sich frei von der Idee, ein grosser Romancier werden zu müssen, versucht den Kopf auszuschalten, beginnt als Lockerungsübung eine «écriture automatique» mit Flair für das Absurde zu schreiben. Jetzt findet er einen Ton, schreibt Gedichte in Minutenschnelle, ungefiltertes Unbewusstes: korrigiert wird nicht, was als Text nicht befriedigt, fliegt in den Kübel. In wenigen Wochen gelingt ihm im gleichen Ton ein Theaterstück über Liebe und Tod, über eine Grenze und darüber, dass erschossen wird, wer sie überschreitet. Er schickt das Stück dem Zürcher Schauspielhaus, dort ist man sofort interessiert, noch vor der Premiere kommt die «Schweizer Illustrierte» für eine Homestory vorbei. Plötzlich ist Hans Mühlethaler wer.

Das Stück allerdings wird zum Misserfolg, nach acht Aufführungen verschwindet es endgültig in der Versenkung. Doch Mühlethaler will jetzt Theaterautor werden, lässt sich in Bern-Bümpliz zum Lehrer wählen, zieht noch 1963 mit seiner Familie in die eben fertiggestellte Halen-Siedlung, ist nun junger Schriftsteller, der im bernischen Brückenkopf der architektonischen Moderne wohnt. In der Stadt sitzt er bald regelmässig mit Kollegen zusammen, mit Ernst Eggimann, Peter Lehner, Kurt Marti, Mani Matter, Walter Vogt. Über Literatur habe man allerdings kaum geredet, erinnert er sich: «Wenn man etwas, was ein anderer gemacht hat, schlecht fand, sagte man das nicht. Und wenn man’s gut fand, sagte man vielleicht etwas.»

Neben dem Schuldienst versucht er, an seinen Achtungserfolg als Theaterautor anzuknüpfen. 1967 ist klar, dass er es so nicht schafft. Zwar ist das Stück in Hans Rudolf Hiltys Zeitschrift «hortulus» erschienen, und bereits kommen erste Gedichte unter dem Titel «zutreffendes ankreuzen» in Egon Ammanns «kandelaber»-Verlag heraus. Aber gegen seine «kreative Blockade» hilft nur der radikale Bruch. So bittet er seine Frau, für ein halbes Jahr seine Stelle in der Schule zu übernehmen, und fährt nach Berlin, um ein richtiger Theaterautor zu werden.

Kein Durchkommen in den mittleren Jahren

Ab Oktober 1967 pendelt Mühlethaler zwischen Berlin-West, wo er wohnt, und Berlin-Ost. Im Deutschen Theater stellt sein Freund, der Bühnenbildner Kurt Hutterli, ihn dem Regisseur Benno Besson vor, der ihn sofort wieder vergisst. Von da an sitzt er wochenlang wie bestellt und nicht abgeholt im dunklen Zuschauerraum und schaut zu, wie Besson die Arbeiterdichtung eines DDR-Autors inszeniert. Trotzdem wird für ihn Berlin zur wichtigen Erfahrung. Er findet Anschluss an den Buchhändlerkeller in Westberlin, macht mit seinem Gedichtband eine Lesung und erntet als Exot einen Achtungserfolg; er findet über junge BuchhändlerInnen den Kontakt zu DDR-Oppositionellen und in Norbert Randow und Henryk Bereska zwei Freunde; und er findet den Anschluss an den studentischen Aufbruch jener Monate, er demonstriert für die Kommune 1, und er besucht den Internationalen Vietnamkongress vom 17./18. Februar 1968. Als er im März wieder zuhause eintrifft, ist für ihn klar: Schulmeistern in Bümpliz, das geht nicht mehr.

Jetzt übernimmt seine Frau die Erwerbstätigkeit für die Familie definitiv. Er wird Hausmann, verrichtet ab und zu bezahlte Schreibarbeiten und sitzt ansonsten hinter seinem zweiten Theaterstück. Er scheitert. Immerhin sendet das Radio noch 1968 ein Hörspiel von ihm («Osterpredigt»); 1969 erscheinen im kleinen deutschen Anabas-Verlag zehn Kurzgeschichten («Ausser Amseln gibt es noch andere Vögel»). Ein Stück, das er für das Fernsehen schreibt, wird abgelehnt. Schwierige Jahre: «Ich habe es immer wieder versucht und bin nirgends angekommen.»

Im Mai 1970 gerät die Literaturszene in Aufruhr: 22 kritische Autoren haben genug vom Schweizerischen Schriftstellerverein (SSV), nachdem bekannt geworden ist, dass dessen Präsident Maurice Zermatten an einem üblen antikommunistischen Machwerk der damaligen Geistigen Landesverteidigung, dem «Zivilverteidigungsbüchlein», mitgearbeitet hat. Die 22 Oppositionellen treffen sich in Olten und reden über die Gründung eines neuen, fortschrittlichen Verbands. «Ich bin», sagt Mühlethaler, «bei den ersten Zusammenkünften schon deshalb nicht dabei gewesen, weil ich nicht zur Prominenz gehört habe.» Im Schlepptau von Peter Lehner besucht er aber zusammen mit Mani Matter im Herbst 1970 eines der Folgetreffen. Matter erklärt den unpraktisch-ratlosen Revoluzzern, sie müssten sich, um ernst genommen zu werden, eine organisatorische Struktur geben, und schreibt ihnen als Jurist Vereinsstatuten.

Mühlethaler übernimmt, noch vor der offiziellen Gründung der «Gruppe Olten» am 27. März 1971 in Neuchâtel, das Amt des Vereinssekretärs: «Aus zwei Gründen: Wegen der Erfolglosigkeit als Schriftsteller habe ich wieder einen Job gesucht, und als Achtundsechziger war ich überzeugt, dass fortschrittliche Verbandsarbeit wichtig ist.» Hans Mühlethaler, Sekretär der «Gruppe Olten»: der Mann, der das Sekretariat aufbaute, der – wie später sein Nachfolger Jochen Kelter – den Verein zum Sprachrohr gegenüber der Kulturpolitik des Landes machte, der die urheber- und verlagsrechtlichen Interessen der Mitglieder verteidigte, der in alle Richtungen mit den Werknutzern verhandelte, der den behäbigen SSV Jahr für Jahr mehr links überholte und zum Trittbrettfahrer Richtung Verbandsreformen degradierte: Daran erinnern sich viele mit Respekt.

Der Weg abseits der späten Jahre

Aber nur wenige wissen, dass Mühlethaler weiterhin als Schriftsteller gearbeitet hat: Auch im grössten Sitzungsstress hält er im Minimum an seiner frühmorgendlichen Schreibstunde fest. 1978 erscheint im Zytglogge-Verlag der Roman «Die Fowlersche Lösung» über den spektakulären Riedel-Guala-Giftmordprozess in Burgdorf von 1926. Der Roman wird kein Erfolg. 1989 veröffentlicht er nach sechzehn Amtsjahren und nach dem Rücktritt als Sekretär seinen Erfahrungsbericht «Die Gruppe Olten»: «Um mein Renommee als Romanschriftsteller aufzupolieren, hat dieses Sachbuch allerdings nichts genützt.» 1991 dann «Abschied vom Burgund», die Geschichte eines Aussteigers, ebenfalls ein Roman, ebenfalls kein grosser Erfolg. Den dritten Roman habe Zytglogge dann nicht mehr herausgeben wollen: «Wenn ein Verlag schon zwei Bücher gemacht und bloss je 800 Exemplare verkauft hat, dann will er nicht so weiterfahren. Das habe ich verstanden.»

Als bald Siebzigjähriger sitzt Mühlethaler Ende der neunziger Jahre auf einem fertigen Romanmanuskript und hat keinen Verlag mehr. Er beschliesst die Flucht nach vorn: Er übt sich im Umgang mit dem PC, lernt mit Unterstützung eines Sohns, am Bildschirm Bücher zu gestalten und produziert seinen dritten Roman, «Der leere Sockel», als Book on Demand: «Natürlich war das der endgültige Schritt ins Aussenseitertum. Aber ich würde es so sagen: Books on Demand zu machen bedeutet auch, Pionier zu sein.»

Nämlich: Wenn man sich am PC so weit übt, dass man das eigene Buch als fertiges pdf-Dokument abliefern kann, dann kostet das Mastering ­– die Übertragung der Daten auf den Books on Demand-Computer – kaum mehr als fünfzig Franken; und der Stückpreis pro Buch liegt, je nach Umfang, zwischen fünf und zehn Franken. «Dieses System ist derart preisgünstig», sagt Mühlethaler, «dass die Buchherstellung im Druckverfahren bei kleinen Auflagen nicht mehr konkurrenzfähig ist.» Jährlich gebe es im deutschsprachigen Raum schon jetzt um die 5000 Titel als Books on Demand. Und dass es nicht schon mehr seien, liege daran, dass die Feuilletonredaktionen diese Titel grundsätzlich nicht rezensierten und die Buchhandlungen sie nicht auflegten. «Aber immer mehr interessante Bücher werden als Books on Demand produziert werden.» Auch wenn sich da eine Flut von Publikationen ankündige, die nicht mehr von Verlagslektoraten zu druckwürdigen Büchern kanonisiert worden seien: «Irgendeinmal werden Zeitungen und Buchhandlungen diese Bücher zur Kenntnis nehmen müssen.»

Nach «Der leere Sockel» (2000) hat Mühlethaler den philosophischen Essay «Das Bewusstsein. Ursache und Überwindung der Todesangst» (2006), dann «An der Grenze», die Neufassung seines absurden Theaterstücks (2007) und eben letzthin «Frühe Gedichte und Prosatexte» als Books on Demand herausgegeben. Nächstes Jahr werden unter dem Titel «Sternzeichen Krebs» neue Gedichte folgen.

Dass von der letzten Publikation nach drei Monate gerade vierzehn Exemplare verkauft sind und er von zehn Exemplaren den Besitzer kennt, stört ihn nicht. Mit Erfolglosigkeit kann man einen Hans Mühlethaler nicht mehr aus der Ruhe bringen. Denn Scheitern hat für ihn einen Sinn: «Wer scheitert, muss Neues probieren. Deshalb kann Scheitern ein gewaltiger Motor sein, um ein Leben lang schöpferisch tätig zu bleiben. Und am Ende scheitert auch der Erfolgreiche, denn auch er muss sterben.»

http://www.hansmuehlethaler.com"

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5