An den hereinbrechenden Rändern

Als der arbeitslose Jean das Telefon abnimmt, ist ein Unbekannter dran. Er gibt sich als Leiter eines kleinen Verlags aus und bietet ihm gleich zwei Jobs an. Einerseits soll er an einem «Verhaltensleitfaden für Menschen am Rand unserer Gesellschaft» mitarbeiten, andererseits Abfallkontrolleur bei der Müllabfuhr der Stadt Zürich werden. Kaum hat er in einer Baracke der Sonderabfall-Sammelstelle Hagenholz damit begonnen, illegal deponierte Kehrichtsäcke nach Identifikationshinweisen zu untersuchen, wird er innerhalb der Stadtverwaltung zur politischen Polizei abdetachiert. Von nun an hat er im Keller des Staatschutzgebäudes im Auftrag der «Fahndungsgruppe Kultur» – einer Unterabteilung der Nationalen Fachgruppe für politisch motivierte Straftaten – «Sondermüll» aus der einheimischen Kulturszene zu untersuchen.

Von der Autobiografik zur Fiktion

So beginnt der erste Roman des Schriftstellers H. U. Müller. Mit «Stadt ohne Echo» veröffentlicht er, knapp 61jährig, sein insgesamt fünftes Buch und ist damit endgültig vom Selbsterfahrungsschreiber zum Romancier geworden. 1979/80 hat er in einer schweren psychischen Krise während monatelangen Klinikaufenthalten zu schreiben begonnen. Zu Hause kippte er bald einmal die Psychopharamaka ins WC und entwickelte für sich stattdessen ein «existentielles Überlebensschreiben». Er machte seine Schreibmaschine zur «Schreib-Axt», mit der er nicht zuletzt seine «Schuldgefühle [zu] zertrümmern» begann. Seinen Weg aus der Krise, den Manfred Züfle später als «Entfesselungs-Akt» bezeichnet hat, gestaltete Müller zu einer Trilogie von «lebensbegleitenden Berichten» («Der Ausgerissene» [1984]; «Der Entfesselte» [1986] und «Der Unvergleichliche» [1988]).Diese Berichte machten den ehemaligen «Seelenzuchthäusler» zum Autor.

1992 folgte mit«Eldorado-City» Müllers vierter Bericht. Darin begann er sich als Ich-Erzähler mit gesellschaftspolitischen Realitäten wie Rassismus, mit Macht und mit dem Finanzplatz Zürich auseinander zu setzen: Entstanden ist so eine Montage von Wirklichkeitsfragmenten, die im «Traum-Bergwerk» des Autors beunruhigende Zuspitzungen und Verfremdungen erfahren haben.

Auf den ersten Blick führt das nun erschienene fünfte Buch den eingeschlagenen Weg fort. Im Zentrum steht wie in den früheren ein männlicher Protagonist, in verschiedener Hinsicht ein Randständiger in mittlerem Alter, und die Stadt Zürich steht weiterhin für die Welt. Trotzdem ist diesmal alles anders: Nach der Autobiografik der Trilogie hatte Müller mit «Eldorado-City» eine Zwischenstufe erreicht, die man mit «Autobiografiktion» bezeichnen könnte. Auf dem Weg vom vierten zum fünften Buch, der über acht Jahre und durch insgesamt sechs Textfassungen führte, hat er nun die Grenze zur Fiktion vollends überschritten.

Vom Abfallfahnder zum Echo-Mann

In «Stadt ohne Echo» wird der 48-jährige Protagonist Jean durch drei grosse Teile und über gut zwei Jahre begleitet. Der erste Teil umfasst Jeans «Abenteuer als Abfallfahnder», der Müll von subkulturellen Vereinigungen, illegalen Kulturbeizen und «Multi-Kulti-Galerien» zu analysieren hat. Sein oberster Vorgesetzter heisst Mezger, engagiert sich in der Freizeit in einem lyrischen Zirkel («Die Existenz der Geheimdienste ist wie die dunkle Seite des Mondes») und macht es sich zur Aufgabe, «im Vorhof des Vorhofs des Vorhofs […] der Brutstätten künftigen Aufruhrs» die Übersicht zu behalten. Jean wird zu «Frontaufträgen» abkommandiert. Unter anderem soll er in der Lebensgemeinschaft der «Stadterneuerer», die sich in einer alten Fabrik eingenistet hat, herausfinden, ob es stimmt, dass drei verschwundene Junkies den dort gehaltenen Quartierschweinen verfüttert worden seien. Er begegnet in dieser Fabrik einer Gruppe von selbstbewussten Randständigen und einem subkulturellen Philosophen, der ihm darlegt, warum das heutige Leben in der Dissidenz eine «subversive Balance» benötige.

Zu Beginn des zweiten Teil begegnet Jean einer attraktiven Frau, mit der ihn eine kurze Liebesgeschichte verbindet, die so merkwürdig unbegründet endet, wie sie begonnen hat. Danach findet er in einer zerfallenden Villa Anschluss an das «Haus der Produzenten», das eine Industriellenfamilie als kreativen «Freiraum für Durchschnittsbegabte» zur Verfügung gestellt hat. Hier werkeln «Einzelgänger, Idealisten, Eigenbrötler – alles Amateure, keine Professionellen –» an ihren versponnenen Projekten. Jean ist begeistert von den Leuten und plant, um nicht abzufallen, ein Aktionsprojekt, das darin besteht, aus allen Zimmern der Villa Gegenstände zu stehlen und sie schliesslich anlässlich eines Happenings wieder zurückzugeben. So weit kommt es aber nicht. Er gerät zunehmend in eine Krise, entwickelt Verfolgungsängste, bricht das erste Projekt ab, geht zur nächsten Idee über, will nun mit einer umfassenden «Oberflächenhaut-Ablesung» sämtliche in der Villa zu entdeckenden Phänomene auf Diktaphon sprechen, verheddert sich vom Keller bis unters Dach durch die Räume schleichend in Zwangsvorstellungen, entdeckt schliesslich in einer Schublade einen Revolver, ein Bündel Banknoten und ein abgetrenntes Fingerglied und wird in diesem Moment von hinten niedergeschlagen. Als er wieder zu sich kommt, ist die Schublade leer, ausser sich vor Angst flüchtet er.

Im dritten Teil verliert der Protagonist seinen Job als Abfallfahnder, wird Nachtwächter in einem Geschäft für Porno-Comics und beginnt in den langen Nächten auf der Schreibmaschine seines Chefs sogenannte «Echos» zu tippen. Er nennt sich nun «Echo-Mann», der schreibt, weil er es nicht mehr hinnehmen will, dass das alltägliche Elend als «soziale Implosionen keine Wellen» mehr zu werfen vermöge. Gegen dieses echolose soziale «Blubb» will er anschreiben. Die ersten «Echos» verteilt er an die Porno-Comic-Kunden, später geht er in die Kneipen, um dort vorzulesen und seine Texte zu verteilen, schliesslich nimmt er die Schreibmaschine gleich mit, setzt sich in die Bars und beginnt dort zu tippen. Auf einem seiner Gänge trifft er die alte Toilettenfrau Gerda, die ihn über das Verbrechen aufklärt, dem sie mit einer Selbsthilfegruppe von alten Leuten auf der Spur ist: In dieser Stadt gibt es «Bonsai-Zuchthäuschen», «illegal eingerichtete und betriebene Etagen-Gefängnisse» für Menschen, «die man für eine bestimmte Zeit aus dem Verkehr ziehen will, die aber von einem Gericht nie verurteilt würden». Jean will von der Sache vorerst nichts wissen. Schliesslich aber nimmt er an einem der nächtlichen Treffen der Altentruppe teil und begreift hier, dass es Zeit wird, sich zu «exponieren».

Von der «Schreib-Axt» zum «Schreib-Pinsel»

Diese starken szenischen Bilder zur kultur- und sozialpolitischen Befindlichkeit Zürichs in den neunziger Jahren sind Stationen eines Emanzipationsprozesses. Wie damals die autobiografische Trilogie kann nun auch der Roman als Dreischritt der Emanzipation gelesen werden: Der in abgelöschter Normalität lebende, staatlich besoldete Kulturmüll-Schnüffler gerät beim Versuch, im «Haus der Produzenten» als Kulturschrott-Dieb kreativ zu werden, in eine Krise, die er schliesslich als verschrobener Schreibaktionist überwindet. Wie im zweiten Teil der Trilogie führt auch hier der krisenhafte Weg des Protagonisten aus einer quasiautistischen Situation – «ausgestanzt, ohne Bezug zu den Menschen» – über voyeuristische «Augenscheine an Tatorten» hin in einen Raum, in der solidarisches soziales Handeln möglich zu werden scheint. Solche Räume hat Müller schon immer ausschliesslich an den Rändern der Gesellschaft gesehen, unter Marginalisierten und Ausgegrenzten: in «Stadt ohne Echo» bei den «Stadterneuerern», den Erfindern im «Haus der Produzenten» und schliesslich bei den Alten im Kampf gegen die «Bonsai-Gefängnisse».

Daraus zu schliessen, H. U. Müller habe demnach doch wohl vor allem seine alten Themen in anderem Lokalkolorit aufgewärmt, ist falsch. Denn vor allem andern hat er zu einer neuen Methode des Schreibens gefunden. Zur Zeit seines «existentiellen Überlebensschreibens» sagte er: «Während ich eine Geschichte zu schreiben versuche, habe ich null Abstand, und diese Situation zwingt mich, nichts auszulassen: Weder das Klare noch das Unklare, das Verdaute noch das Unverdaute.» Die Legitimation für die sprachliche Wiedergabe solch unabgeschlossener Prozesse war deren unbedingte Authentizität. Sie führte zu einer sozusagen «basisdemokratischen» Schreibhaltung. Der Autor stand nicht auktorial über der Geschichte, sondern verschwand zwischen Ansätzen und Abbrüchen in den Unübersichtlichkeiten des entstehenden Textes. In «Stadt ohne Echo» findet sich nun eine konventionellere Schreibhaltung. Hier ist Müller der «Chef» in seinem Text, er hat die Übersicht und die Fäden in der Hand: Gemeint sind nicht mehr primär die dokumentierten Schreibprozesse, sondern die entworfenen Bilder. Die Narration hat das Schreiben distanzierter und kontrollierter gemacht. Die «Schreib-Axt» des Überlebensschreibers hat sich in den «Schreib-Pinsel» des Romanciers verwandelt. Geblieben ist die Vorliebe für den klaren, ungekünstelten Strich, für den eigenwillig-authentischen Ausdruck und für den verfremdenden Blick von aussen.

Vom «Z-» zum «woa»-Verlag

Als Müller um 1980 zu schreiben begann, gab es noch einen Markt für Selbsterfahrungsliteratur. Es gab eine «Frauen-Literatur», und es gab eine Literatur von Randständigen aller Art. Der Erstling des Knastautors Hans Jäger zum Beispiel, «Wenn ich nicht geschrien hätte...», erreichte 1975 eine Auflage von 22000 Exemplaren. Müller schaffte als Psychiatrie-Erfahrener ab 1984 mit seiner Trilogie gerade noch den Anschluss an diese sich immer mehr verengende Marktnische: Die drei Bücher wurden im später eingegangenen Basler «Z-Verlag» herausgebracht. Zu Beginn der neunziger Jahre waren das Publikumsinteresse an solcher Literatur und der Verlag verschwunden, und Müller war als Selbsterfahrungsschreiber abgestempelt. Der Rotpunktverlag brachte 1992 «Eldorado City» zwar heraus, glaubte aber selber nicht daran, das Buch verkaufen zu können. Prompt blieb die Auflage zum grossen Teil liegen. Es kam zur Entfremdung zwischen Verlag und Autor. Müllers Weg zum Romancier wurde zum Weg in die Isolation. Mehrere Verlage lehnten den neuen Roman ab – es ist nicht die Zeit für Texte, bei deren Lektüre man merkt, das jemand etwas sagen will.

Der Autor, überzeugt, sein bisher wichtigstes und bestes Buch geschrieben zu haben, entschloss sich, «Stadt ohne Echo» selber herauszugeben. Die «Werkstatt für Öffentlichkeitsarbeit» (woa) in Zürich hat den Roman nun produziert. Um ihn finanzieren zu können, hat Müller Geld aufgenommen. Er wird das Buch in der kommenden Zeit ohne die PR-Unterstützung eines Verlags und ohne die Schaufenster der Buchhandlungen unter die Leute zu bringen versuchen – unterwegs als «Echo-Mann» mit seinen Texten.

H. U. Müller: Stadt ohne Echo. Roman. Zürich (woa-Verlag) 2000.

Zu H. U. Müller siehe «Realität statt Milch und Honig». In der Anmerkung am Schluss jenes Textes führen Links zu Rezensionen von Müllers weiteren Büchern. – Am 24. September 2000 fand in der Schlosserei Nenninger an der Pfingstweidstrasse im Zürcher Kreis 5 die Buchvernissage des Romans «Stadt ohne Echo» statt. Ich hielt die Begrüssungsrede. Hier ist sie:

«Werte Anwesende

bevor ich hier meine Meinung zum literarisch bisher bedeutendsten Buch des Schriftstellers H. U. Müller ausführe, erlaube ich mir, ein bisschen Transparenz zu schaffen. Immerhin bin ich Journalist und nicht Politiker. Darum will ich meine Interessenlage offenlegen, bevor ich zu reden beginne.

Ich habe den Autor H. U. Müller als Redaktor der Wochenzeitung WoZ kennengelernt, als er Ende 1988 sein drittes Buch herausbrachte – den dritten Teil einer Trilogie. Ich las daraufhin alle drei Teile und schrieb darüber einen Artikel für die Zeitung. Damals interessierte ich mich journalistisch sowohl für die deutschschweizerische Literatur als auch für die Psychiatriekritik. Dass mich Müllers Bücher faszinierten, hatte zuerst einmal sicher damit zu tun, dass in ihnen ein radikaler schreiberischer Anspruch mit Psychiatriekritik zusammengeführt wurde. 1992 habe ich dann auch über Müllers viertes Buch, ‘Eldorado-City’, eine Rezension verfasst.

Unterdessen hatte sich über den beruflichen Kontakt hinaus eine Freundschaft entwickelt, die Hans Ueli und mich seither manchmal lockerer, manchmal intensiver verbindet. Hoppla! So einer muss ja befangen sein! Falls man befangen ist, wenn man für die Arbeit eines Schriftstellers eine grundsätzliche Empathie hegt, so bin ich befangen. Zugegeben, das ist nicht unproblematisch, auch wenn ich kaum weit daneben liegen werde, wenn ich vermute, dass 80 bis 90 Prozent der Rezensionen im Bereich der deutschschweizerischen Literatur aus einer Empathie wegen persönlicher Bekanntschaft heraus geschrieben werden. Hier kennt man sich, ob aus Solothurn oder Leukerbad, aus dem Schriftstellerverein oder aus der Gruppe Olten, von der letzten Lesung oder aus dem Spunten. Das Problematische daran: Literaturkritik hat hierzulande einen gefährlichen Hang zur Vetterliwirtschaft und zu Söihäfeli-Söiteckeli-Gefälligkeiten.

Dagegen ist man nie endgültig gefeit, auch wenn das Risiko zur Gefälligkeit hier grösser wäre, wenn ich im Auftrag eines grossen Verlags einen absehbaren Bestseller anzusagen hätte. Darüber hinaus aber hat die Freundschaft zwischen Hans Ueli und mir nie geheissen, dass wir einander nur noch Honig ums Maul geschmiert hätten. Wenn überhaupt irgendwo, dann gilt für Freundschaften zuerst das gute Wort von Meienberg: ‘Was wohr isch, mues me säge.’

*

Ich komme zur Sache.

Mit ‘Stadt ohne Echo’ veröffentlicht der heute knapp 61jährige H. U. Müller sein insgesamt fünftes Buch und ist damit endgültig vom Selbsterfahrungsschreiber zum Romancier geworden. 1979/80 hat er in einer schweren psychischen Krise während monatelangen Klinikaufenthalten zu schreiben begonnen. Zu Hause kippte er bald einmal die Psychopharamaka ins WC und entwickelte für sich stattdessen ein ‘existentielles Überlebensschreiben’. Er machte seine Schreibmaschine zur ‘Schreib-Axt’: ‘Einfach drauflosschreiben. Szenarien entwerfen. Erinnerungen hervorholen, Amok laufen, jemanden auf dem Papier töten, auf den Gedärmen herumtrampeln.’ Seinen Weg aus der Krise, den der Schriftstellerkollege Manfred Züfle später als ‘Entfesselungs-Akt’ bezeichnet hat, gestaltete Müller zu einer Trilogie von ‘lebensbegleitenden Berichten’. Auf ‘Der Ausgerissene’ (1984) folgte ‘Der Entfesselte’ (1986) und schliesslich ‘Der Unvergleichliche’ (1988). Diese Berichte machten den ehemaligen ‘Seelenzuchthäusler’ zum Autor.

1992 folgte mit ‘Eldorado-City’ das vierte Buch, das Müller noch einmal mit ‘Bericht’ überschrieb. Darin begann er sich als Ich-Erzähler mit gesellschaftspolitischen Realitäten wie Rassismus, mit Machtspielen und dem Finanzplatz Zürich auseinandersetzen: Entstanden ist so eine Montage von Wirklichkeitsfragmenten, die im ‘Traum-Bergwerk’ des Autors beunruhigende Zuspitzungen und Verfremdungen erfahren haben.

Auf den ersten Blick führt das nun erschienene fünfte Buch den eingeschlagenen Weg fort. Im Zentrum steht wie in den früheren ein männlicher Protagonist, in verschiedener Hinsicht ein Randständiger, in mittlerem Alter, und die Stadt Zürich steht weiterhin für die Welt, in der dieser Protagonist unterwegs ist. Trotzdem ist diesmal alles anders: Nach der Autobiografik der Trilogie hatte Müller mit ‘Eldorado-City’ eine Zwischenstufe erreicht, die man mit ‘Autobiografiktion’ bezeichnen könnte. Auf dem Weg vom vierten zum fünften Buch, der über acht Jahre und durch insgesamt sechs Textfassungen führte, hat Müller nun vollends den Schritt in die Fiktion gewagt.

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‘Stadt ohne Echo’ gliedert sich in drei grosse Teile, in denen der 48jährige Protagonist Jean über gut zwei Jahre begleitet wird. Der erste umfasst Jeans ‘Abenteuer als Abfallfahnder’, der als Schnüffler im Dienst des Staatsschutzes in beschlagnahmtem Müll von subkulturellen Vereinigungen, illegalen Kulturbeizen und ‘Multi-Kulti-Galerien’ nach Verdächtigem wühlt. Bald einmal wird er mit dem Denken seiner Vorgesetzten konfrontiert. Sein oberster Chef zum Beispiel heisst Mezger, engagiert sich in der Freizeit in einem lyrischen Zirkel und hat es sich zur Aufgabe gemacht, ‘im Vorhof des Vorhofs des Vorhofs (…) der Brutstätten künftigen Aufruhrs’ die Übersicht zu behalten. Jean kommt zu seinen ersten ‘Frontaufträgen’. Unter anderem soll er in der Lebensgemeinschaft der ‘Stadterneuerer’, die sich in einer alten Fabrik eingenistet hat, herausfinden, ob es stimmt, dass drei verschwundene Junkies den dort gehaltenen Quartierschweinen verfüttert worden seien. Jean begegnet in dieser Fabrik einer Gruppe von selbstbewussten Randständigen und einem subkulturellen Philosophen, der ihm darlegt, warum das heutige Leben in der Dissidenz eine ‘subversive Balance’ benötige.

Zu Beginn des zweiten Teils begegnet Jean einer attraktiven Frau, mit der ihn eine kurze Liebesgeschichte verbindet, die so merkwürdig unbegründet endet, wie sie begonnen hat. Danach findet er in einer zerfallenden Villa Anschluss an das ‘Haus der Produzenten’. Dessen Besitzerin, eine Industriellenfamilie, hat sie als kreativen ‘Freiraum für Durchschnittsbegabte’ zur Verfügung gestellt. Seither werkeln hier ‘Einzelgänger, Idealisten, Eigenbrötler’ an ihren versponnenen Projekten. Jean ist begeistert von den Leuten und versteigt sich, um nicht abzufallen, in ein Aktionsprojekt, das darin besteht, aus allen Zimmern der Villa Gegenstände zu stehlen und sie schliesslich anlässlich eines Happenings wieder zurückzugeben. Soweit kommt es aber nicht. Jean gerät zunehmend in eine Krise, entwickelt Verfolgungsängste, bricht die erste Projektidee ab, geht zur nächsten über, will nun mit einer intergralen ‘Oberflächenhaut-Ablesung’ sämtliche in der Villa zu entdeckenden Phänomene auf Diktaphon sprechen, verheddert sich vom Keller bis unters Dach durch die Räume schleichend in Zwangsvorstellungen, entdeckt schliesslich in einer Schublade einen Revolver, ein Bündel Banknoten und ein abgetrenntes Fingerglied und wird in diesem Moment von hinten niedergeschlagen. Als er wieder zu sich kommt, ist die Schublade leer, ausser sich vor Angst flüchtet er aus der Villa.

Im dritten Teil verliert der Protagonist seinen Job als Abfallfahnder, wird Nachtwache in einem Geschäft für Porno-Comics und beginnt in den langen Nächten auf der Schreibmaschine seines Chefs sogenannte ‘Echos’ zu tippen. Er nennt sich nun ‘Echo-Mann’, der schreibt, weil er es nicht mehr hinnehmen will, dass in dieser Zeit das alltägliche Elend als ‘soziale Implosionen keine Wellen’ mehr zu werfen vermögen. Gegen dieses echolose soziale ‘Blubb’ will er anschreiben. Die ersten ‘Echos’ verteilt er an die Porno-Comic-Kunden, später geht er in die Kneipen, um dort vorzulesen und seine Texte zu verteilen, schliesslich nimmt er die Schreibmaschine gleich mit, setzt sich an die Bars und beginnt dort zu tippen: ‘Ich ziehe als Echomann durch die Gegend mit dem Ziel, beim einen oder anderen etwas nach-hallen zu lassen.’ Auf einem seiner Gänge trifft er schliesslich die alte Toilettenfrau Gerda, die ihn über den Skandal aufklärt, dem sie mit einer Selbsthilfegruppe von alten Leuten auf der Spur ist: In dieser Stadt gibt es ‘Bonsai-Zuchthäuschen’, ‘illegal eingerichtete und betriebene Etagen-Gefängnisse’ für Menschen, ‘die man für eine bestimmte Zeit aus dem Verkehr ziehen will, die aber von einem Gericht nie verurteilt würden’. Jean will von der Sache vorerst nichts wissen. Schliesslich aber nimmt er an einem der nächtlichen Treffen der Alten-Truppe teil und begreift hier, dass es Zeit wird, sich zu ‘exponieren’.

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Wenn auf den ersten Blick an diesem Roman der Reichtum der immer neuen szenischen Bilder zur kultur- und sozialpolitischen Befindlichkeit Zürichs in den neunziger Jahre verblüfft, so verblüfft auf den zweiten, wie produktiv Müller zentrale formale und inhaltliche Errungenschaften seiner früheren Arbeiten in ‘Stadt ohne Echo’ umformt und neu anwendet:

• Erzähltechnisch ist hier zum Beispiel die Erzählposition zu erwähnen. Die Dreiteilung der autobiografischen Trilogie findet sich als Gliederungsprinzip im Roman wieder, wobei im ersten und im dritten Teil Jean als Ich-Erzähler auftritt; im mittleren jedoch, in dem auf eindrückliche Weise von innen gezeigt wird, wie Jean immer weiter in die psychische Krise hineinschlittert, wird über ihn in der dritten Person berichtet. Weshalb? 1984 schrieb Müller im ersten Teil der Trilogie, er erzähle in der dritten Person, ‘weil sich beim Schreiben herausstellte, dass die Ich-Form eine zu grosse Nähe zum kaum verkrafteten Irrenhaus-Erlebnis bedeutet hätte’. Müller wechselt also die Erzählposition, um durch grössere Distanz näher an den Stoff heranzukommen.

• Inhaltlich zeigt sich dieser Umformungsprozess eindrücklich im dargestellten Krisenverlauf. Wie seinerzeit die autobiografische Trilogie kann auch ‘Stadt ohne Echo’ als Dreischritt der Emanzipation gelesen werden: Der in abgelöschter Normalität lebende, staatlich besoldete Abfallschnüffler gerät beim Versuch, im ‘Haus der Produzenten’ als Kulturmüll-Dieb kreativ zu werden, in eine Krise, die er schliesslich als leicht verschrobener Schreibaktionist überwindet. Wie im zweiten Teil der Trilogie führt auch hier dieser krisenhafte Weg des Protagonisten aus einer quasi-autistischen Situation – ‘ausgestanzt, ohne Bezug zu den Menschen’ – über voyeuristische ‘Augenscheine an Tatorten’ hin in einen Raum, in der solidarisches soziales Handeln möglich zu werden scheint. Dies ist eine Konstante in Müllers Büchern: Solche Räume sieht er grundsätzlich nur an den Rändern der Gesellschaft, unter Marginalisierten und Ausgegrenzten – in ‘Stadt ohne Echo’ bei den ‘Stadterneuerern’, den Erfindern im ‘Haus der Produzenten’ und schliesslich bei den Alten im Kampf gegen die ‘Bonsai-Gefängnisse’.

Daraus zu schliessen, H. U. Müller habe demnach doch wohl vor allem seine alten Themen in anderem Lokalkolorit aufgewärmt, ist falsch. Denn vor allem anderen hat er seine Methode des Schreibens seit dem letzten Buch vollständig geändert. Zur Zeit seines ‘existentiellen Überlebensschreibens’ sagte er: ‘Während ich eine Geschichte zu schreiben versuche, habe ich null Abstand, und diese Situation zwingt mich, nichts auszulassen: Weder das Klare noch das Unklare, das Verdaute noch das Unverdaute.’ Die Legitimation der sprachlichen Wiedergabe solch unabgeschlossener Prozesse war deren unbedingte Authentizität. Sie führte zu einer sozusagen ‘basisdemokratischen’ Schreibhaltung, in der der Autor nicht über dem Text stand, sondern mittendrin zwischen Ansätzen und Abbrüchen, in den Unübersichtlichkeiten des entstehenden Textes. In ‘Stadt ohne Echo’ findet sich eine konventionellere Schreibhaltung. Nun ist Müller der ‘Chef’ über seinem Text, er hat die Übersicht und die Fäden in der Hand: Gemeint sind nicht mehr primär die dokumentierten Schreibprozesse, sondern die entworfenen Bilder. Die Fiktion hat das Schreiben distanzierter und kontrollierter gemacht. Die ‘Schreib-Axt’ des Überlebensschreibers ist dem ‘Schreib-Pinsel’ des Romanciers gewichen.

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Seit H. U. Müller schreibt, ist er seinen Weg ausserhalb des Literaturbetriebs unbeirrt und kompromisslos gegangen. Das macht diesen Weg so interessant – und jenen, wie er zu seinen Büchern kommt, zunehmend bewundernswürdig. Seine Trilogie in den achtziger Jahren ist im längst eingegangenen Basler Z-Verlag erschienen, ‘Eldorado-City’ dann im Rotpunktverlag. Nachdem es dort zur Entfremdung gekommen ist, entschloss sich Müller nach vergeblicher Verlagssuche, ‘Stadt ohne Echo’ selber herauszugeben. Die ‘Werkstatt für Öffentlichkeitsarbeit’ (woa) hat das neue Buch nun produziert, das heisst: Adrian Suter hat den Text gesetzt und gelayoutet und gemeinsam haben sie lektoriert und korrigiert. Dass diesem Kleinstteam ein schön gestaltetes Buch – übrigens mit drei Illustrationen – und weitestgehend ohne Tippfehler gelungen ist, ist eine bemerkenswerte Leistung. Finanziert hat H. U. Müller sein Buch selber. Er wird es in der kommenden Zeit ohne PR-Unterstützung eines Verlags und weitgehend ohne Beachtung durch den Buchhandel unter die Leute zu bringen versuchen – unterwegs als ‘Echo-Mann’ mit seinen Texten.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.»

Aktuell

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