Am 13. November 1988 wird im Gemeinschaftszentrum Heuried in Zürich der brasilianische Musiker Jorge Gomes von angreifenden Skinheads lebensgefährlich verletzt. Mit Hilfe eines gefälschten Papiers, der ihn als Stellvertreter des Anwalts von Gomes ausweist, gelingt es dem Ich-Erzähler, am 8. Januar 1989 gegen neun Uhr abends auf die Intensivstation des Zürcher Triemli-Spitals vorzudringen, wo der sterbende Gomes liegt: «In seinem weit aufgesperrten Mund steckte ein dicker Schlauch, ein Rohr beinah. Jorges Augen waren geschlossen. […] An seinem abgemagerten Körper hatten sie Drähte und Schläuche befestigt. Unheimlich aussehende Pumpen und Apparate standen neben dem Bett.» Der Nachtwache haltende Erzähler wird gegen Morgen gestört, als ein Herr in schwarzem Anzug den Raum betritt und im Dunklen abwartend stehen bleibt. Der Herr ist der Tod: «Einen andern als ihn hätten sie ohne antiseptische Verkleidung nie hereingelassen – nicht in einem Zürcher Spital!» Der Erzähler erhebt sich und verlässt das Sterbezimmer. Vor dem Spital setzt er sich auf eine Bank: «Die Erstarrung löste sich, ich fing bitterlich zu weinen an. Jorge war tot.»
Müller entwickelt seine dichterischen Bilder, die sein Zürich bedeuten, zwischen der äusseren Realität des «Fakten-Zürichs» und seinem «Traum-Bergwerk», in dem «alle Schreckensmeldungen», die er tags zuvor aufgenommen hat, verarbeitet werden. In diesem Bergwerk schürft er nach «Bildern und Gesichten einer absurden bis brutalen Wirklichkeit». Diese fiktiven Passagen bilden zusammen mit Zeitungszitaten und recherchiertem Material eine vielschichtige Montage, die in die Teile «Frühling», «Sommer» und «Herbst» zerfällt. Der erste Teil thematisiert den Rassismus (auch den eigenen), wie er sich in Zürich manifestiert; der zweite Spiele der Macht anhand des Kreis-4-Milieus mit seiner Sex- und Drogenmafia; der dritte den Finanzplatz Zürich. Müller ist jedoch kein Recherchierjournalist; es geht ihm nicht um Enthüllungen. Er ist Autor, 52, in kleinbürgerlichen Verhältnissen lebend im Zürcher Kreis 3, und er sucht Bilder, Verdichtungen seiner Welt, die er auf Spaziergängen durch die Stadt wahrnimmt.
Weltfragmente
Zwischen 1984 und 1988 hat H. U. Müller im Z-Verlag eine Trilogie von «lebensbegeleitenden Berichten» veröffentlicht («Der Ausgerissene», «Der Entfesselte» und «Der Unvergleichliche»). Sie war die «Freischreib-Orgie» eines in der Mitte des Lebens unter den Ansprüchen von Beruf und Familie Zusammengebrochenen. Mit vierzig war Müller so gut wie erledigt; in die psychiatrische Klinik abgeschoben, mit chemischen Mitteln stillgelegt und mit einem biografiezerstörenden Diagnosesortiment gebrandmarkt. Dann begann er sich zu wehren, warf die Tabletten weg und schrieb sich über zehn Jahre hinweg – vom Seelenzuchthäusler zum Autor – frei: ohne einflussreiche Protektion und ohne akademische Bildung (er arbeitete früher als «interner Revisior» in einem Industriebetrieb), deshalb von vornherein literarisch ausser Konkurrenz und dementsprechend bis heute weitgehend ignoriert. Er begann zu schreiben ohne künstlerische Karriereplanung, sondern weil ihm das Ausleben der Schreib-Wut existentiell notwendig geworden war. Später kommentierte er seine Arbeitsmethode so: «Während ich Geschichten zu schreiben versuche, habe ich null Abstand, und diese Situation zwingt mich, nichts auszulassen: weder das Klare noch das Unklare, das Verdaute noch das Unverdaute.» Daraus hat sich Müllers Methode des prozesshaften Schreibens entwickelt, die er nun auch in seinem Bericht «Eldorado-City» anwendet. Ursprünglich zur Klärung seiner Lebenskrise gefunden, wendet er sie im neusten Buch dazu an, seine gesellschaftspolitische Wirklichkeit zu klären.
Aus Müllers Schreibmethode ergibt sich eine sozusagen «basisdemokratische» Schreibhaltung. Der Autor steht in keinem Moment über seinem Text. Statt auf dem Thron auktorialer Souveränität sehen wir Müller mitten in den Unübersichtlichkeiten des Schreibprozesses zwischen Ansätzen und Abbrüchen, umstellt von beunruhigenden Wirklichkeitsfetzen und Bildentwürfen, die diese Wirklichkeit reflektieren. Statt Durchblick zu simulieren, macht der Autor seine Suche nach Erkenntnis transparent. Die fiktiven Teile sind dabei Erkenntnisarbeit mit anderen Mitteln: Wo ihm die Welt nicht mehr erklärbar ist, beginnt er sich mögliche Wahrheiten vorzustellen (wo, zum Beispiel, kann man in Zürich den Finanzplatz – nicht die Fassaden am Paradeplatz – sehen? Müller erfindet einen Detektiv, der ihn suchen geht).
Die prekäre Identität des Ich-Erzählers verbindet sich mit der Welt, die ihn umgibt, nur noch punktuell. Auf Expeditionen, die ihr Ziel nicht erreichen, entdeckt er immer nur Puzzleteile, die in der Summe keine Welt ergeben; Erklärungsfetzen, die Abgründe des Horrors markieren, nie aber sich zu einer beruhigenden Erkärung verdichten: Der bluttriefende Showdown mit dem «Bullen» mit der weissen Hornbrille; die Geschichte des Alkoholikers Lepke, der von Skins bedroht wird; die misslungene Beschattungsaktion im Geld-Zürich; der Opiumkeller in einer unbeleuchteten Seitengasse zur Langstrasse, in dem auch Regierungsmitglieder der Stadt verkehren; die Vision von den Nachttieren, die jede Nacht durch die Bahnhofstrasse ziehen, um vorne am Bürkliplatz im Seebecken zu verschwinden – all diese fiktionalen Ansätze ergeben kein klärendes Ganzes. Und entsteht passagenweise Unverbindlichkeit versprechende Fiktion, wird sie gebrochen, zum Beispiel mit einer Klammerbemerkung: «(Tonbandprotokoll, heimlich im April 1989 in einem Restaurant aufgenommen.)» Durch solche Verfremdungen entgeht Müllers prozesshaftes Schreiben dem trivialen moralischen Pointenzwang von abgeschlossenen Geschichten. Es bleibt bei Wirklichkeitssplittern: aus dem Traum-Bergwerk geschürften Weltfragmenten.
Littérature brute
Seine Trilogie hat Müller als «gestaltete Biografik» bezeichnet (siehe WoZ 13/1989). «Autobiografiktion» wäre eine mögliche Bezeichnung für Müllers gesamtes bisheriges Werk. Oder «littérature brute». Und zwar genau in jenem Sinn, in dem Jean Dubuffet 1949 seinen Begriff der «art brut» umrissen hat: «Wir verstehen darunter Werke von Personen, die durch die Künstlerkultur keinen Schaden erlitten haben, bei denen also der Nachahmungstrieb, in Gegensatz zu dem, was bei den Intellektuellen geschieht, wenig oder keinen Anteil hat […]. Eine Kunst also, in der sich allein die Funktion der Erfindung und nicht, wie in der ‘kulturellen Kunst’ üblich, des Chamäleons und des Affen manifestiert. […] Die wahre Kunst ist immer da, wo man sie nicht erwartet. Da, wo niemand an sie denkt noch ihren Namen nennt.» Art brut definiere sich, so Michel Thévoz, Leiter der Collection de l’Art brut in Lausanne, «aus dem sozialen Kontext, aus dem heraus sie entsteht, aus der Beziehung, die der ‘Künstler’ zur Gesellschaft und insbesondere zur Kunstszene hat oder nicht hat.»
Müller ist aufgrund seiner Geschichte Aussenseiter der schreibenden Zunft, er eignet sich nicht für die saisonale Belletristik-Konfektion. Den Literaturbetrieb kennt er nur von aussen. Das handelsübliche CH-Literatursortiment führt seine Bücher nicht. Sein Versuch, Wörter nicht zur selbstbezüglichen Spielerei zu brauchen, sondern Welt zu behaften (und dadurch behaftbar zu sein), ist literarisch ausser Kurs und steht bereits im Ruch politischen Sektierertums. Um als Literat vorwärts zu kommen, genügt es heute ja, das Wort «Baby» zu ficken[1]. Jedoch: Um literarisch weiterzukommen, braucht es Leute, die, mit ihren Mitteln, wieder Fragen an den öffentlichen Raum stellen; Leute, die zum Beispiel herauszufinden versuchen, wie sich in Zürich Geld, Rassismus und Machtspiele zur «weissen Tötungs-Maschine» (Müller) verbinden.
1967 hat Max Frisch geschrieben: «Es gibt den politischen Schriftsteller, aber häufiger gibt es den politisierenden Schriftsteller […] Domäne der Literatur? Fast wage ich zu sagen: das Private.» Die Zeiten haben sich geändert. Es gibt zwar heute die SchriftstellerInnen der (politischen) Privatheit (ich denke an Adelheid Duvanel), aber häufiger gibt es die privatistischen Schreiberlinge. Domäne der Literatur? Ich schlage vor: das Öffentliche. Einer, der von weit her – aus der geschlossenen Abteilung des Burghölzli – gekommen ist, es in Zürich für sich zurückzuerobern: H. U. Müller.
H. U. Müller: Eldorado-City – Ein Bericht, Zürich (Reihe Drachen im Rotpunktverlag) 1992.
[1] Angespielt wird auf: Urs Allemann: Babyficker. Erzählung, Wien (Deuticke) 1992.
Zu H. U. Müller siehe«Realität statt Milch und Honig». In der Anmerkung am Schluss jenes Textes führen Links zu Rezensionen von Müllers weiteren Büchern.