Aber was bringt einen um?

Am 24. November 1972 fährt Dr. iur. Hans Peter Matter gegen 19.15 Uhr, nach der Arbeit in seinem Büro an der Gerechtigkeitsgasse in Bern, auf der Autobahn zwischen Zürich und Kilchberg durch das nächtliche Schneetreiben Richtung Rapperswil und versucht, den Kopf freizumachen für seinen Soloauftritt als mittlerweile populärer Berner Troubadour Mani, den er um 20.15 Uhr im Schloss-Kabarett von Rapperswil auf Einladung der heilpädagogischen Schule Balm, für die auch der Reinerlös der Veranstaltung bestimmt ist, markieren soll. Im Kopf herum gehen ihm – mag sein – die ersten Zeilen des Chansons, an dem er zur Zeit arbeitet, «i wett nid bhouptet ha / s’syg nid schön sech z’verliebe», das schildern soll, was nach der Verliebtheit kommt, wenn sich zwei Menschen entschliessen, zusammenzubleiben; ein Lied um Beziehung und Familie, und er sinnt darüber nach, dass er sich selber bei diesem Thema nicht vollständig würde herausnehmen können –, als er zu einem Lastwagen mit Anhänger aufschliesst, den Blinker einschaltet, aufs Gaspedal tritt, das Steuerrad nach links dreht, gleichzeitig sich halb über die linke Schulter kurz nach dem nachfolgenden Auto umschaut, sieht, dass es ebenfalls zu blinken begonnen hat – da hört er Schleifgeräusche vorne rechts, erkennt für einen Augenblick den Lastwagenanhänger sehr nahe, spürt, wie sein Wagen zu schleudern beginnt und sich, eine Schneematschfontäne hochschleudernd, auf der Überholspur querstellt.

Eine Unachtsamkeit; es war eine kleine, verhängnisvolle Unachtsamkeit.

*

Damals war es normal, bei den Pfadfindern zu sein. Als der achtjährige Hans Peter Matter im April 1944 Wölfli der Berner Pfadfinderabteilung «Patria» wird, ist er einer von mehr als 500, die dort dazugehören, 1948 gibt es 670, 1952 bereits 850 «Patrianer». In seinen ersten drei Pfadi-Jahren, so hat sich später seine Wölfliführerin erinnert, habe er «keine einzige Samstagnachmittagübung verpasst». Er lernt in dieser Zeit das Pfadfinderversprechen («Treu Gott und dem Vaterland») und das zehn Punkte umfassende Pfadfindergesetz, wonach der Pfadfinder treu, hilfsbereit, ein gute Kamerad, höflich, ritterlich, tapfer, arbeitssam und genügsam sei, willig gehorche und sich rein halte in Gedanken, Wort und Tat. Und natürlich lernt er den Wahlspruch der Pfadfinderei kennen: Allzeit bereit!

Hans Peter erhält den Pfadi-Namen «Mani» und wird im März 1947 im «Hallo», dem vierteljährlich erscheinenden Mitteilungsblatt der «Patria» als «Knappe 1. Schar» zum ersten Mal erwähnt. Im Dezember des gleichen Jahres wird vermeldet, er gehöre zu jenen «Knappen und Neulingen des IX. Trupps», die das I. Examen bestanden hätten, 1949 besteht er das II., 1951 das III. Weil die «Patria» wächst, wird sie 1949 in vier Stämme unterteilt; Mani gehört seither zu den Rotweissen des Stammes «Grauholz». 1953 wird der Gymnasiast Matter als «Trupp- und Ringführer» für zwei Jahre Chef des XII. Trupps, übrigens als Nachfolger von Hans-Ulrich Ernst, der nachmaligen grauen Eminenz des Eidgenössischen Militärdepartements. Im gleichen Jahr hilft er die Rovergruppe «Iong» gründen und widmet ihr ein Sonett, das im «Hallo» (3/53) abgedruckt wird und endet: «Bald sollen alle unsre Gruppe kennen,/ So dass bei Arbeit, Lager und beim Sport/ Ein jeder sagt: Iong ist allzeit bereit!» 1955 wird Mani in den Stammesrat gewählt, dem er, unterdessen Student der Jurisprudenz, bis 1961 angehört (jahrelang übrigens zusammen mit dem späteren Berner Oberländer Staatsanwalt Bernardo Moser).

Unterdessen ist er, als Nachfolger von Gockel und Schnägg, längst Hofpoet des «Patria» geworden. Seit den späten vierziger Jahren hat er von den beiden gelernt, hat im «Hallo» die Fortsetzungsgeschichte voller Pfadfinderromantik und freundlich-derbem Humor mitverfolgt, die Gockel unter dem Titel «Die vom Schicksal Schwergeprüften» verfasst hat (und 1955 unter seinem bürgerlichen Namen Klaus Schädelin im Zürcher Zwingli-Verlag als «Mein Name ist Eugen» erscheinen liess). Danach dichtete Schnägg für das «Hallo» und für die Programme der alle zwei Jahre stattfindenden «Patria»-Unterhaltungsabende im Berner Casino. Schnägg hiess eigentlich Guido Schmezer, nannte sich später «Ueli der Schreiber» und wurde schon bald mit seinen Versen «Ein Berner namens…» populär.

Nach Schnägg ist es an Mani. Zusammen mit drei Kollegen gründet er ein Cabaret, zur Gitarre beginnt der Brassens-Fan erste eigene, berndeutsche Lieder vorzutragen. Das Cabaret habe es an den Unterhaltungsabenden schnell zu «sagenhaftem Ruhm» gebracht, bestätigt ein ehemaliger «Patrianer». Für das Hauptprogramm von 1959 mit dem Titel «Ds Attentat uf ds Bundeshuus» zeichnet «Jungfeldmeister H. P. Matter» verantwortlich; ebenso für jenes von 1963 («Jahrmarkt»), diesmal zusammen mit zwei Kollegen. Vor allem aber beginnt Mani im «Hallo» – bis 1959 sporadisch, danach bis Anfang 1965 regelmässig – eine in erster Linie hochdeutsche, teils moralisierende, teils witzig-verspielte, handwerklich geschliffene Pfadi-Gebrauchslyrik zu publizieren. Stellvertretend für die über zwanzig Texte, die als schriftstellerische Anfänge Matters bis heute kaum zur Kenntnis genommen werden, der Text «Moralin» des 25jährigen («Hallo» 4/61):

«Müde, mit bestaubten Schuhen
von den Lagern heimgekehrt,
ist es gut – sich auszuruhen?
Nein, das wär kein Verslein wert!

– ist es gut, daran zu denken,
was es in der Alltagswelt
auszumerzen, einzurenken
gibt, das uns an ihr missfällt.

So wie wir den Häring flickten,
als er krumm geworden war,
wär auch hier, wenn wir’s erlickten,
manches leicht verbesserbar.

Nicht zu grossen, kühnen Taten
will ich raten, bhüetis, nein;
nur dazu, ein wenig kritisch
und nicht gar zu faul zu sein.

*

Im November 1955 wird in Bern eine bürgerlich-liberale Reformpartei, das «Junge Bern», gegründet, das, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, gegen die erstarrten Fronten der grossen Parteien eine Entideologisierung der politischen Diskussionen anstrebt. Die jugendlich-idealistische Gruppierung hat auf Anhieb Erfolg und gewinnt in den Wahlen Ende Jahr zwei Sitze in der Legislative, dem Stadtrat. Rudolf Thormann, jahrzehntelang Leiter des «Pfadimaterialbüros» an der Speichergasse in Bern erinnert sich, dass die neue Partei damals «ganze Gruppen von Patria-Pfadern übernommen» habe. Einer von ihnen ist Mani. Die Ideologie der Ideologiefreiheit des «Jungen Bern» bietet in dieser Zeit auch Leuten die Valentin Oehen oder Jean-Pierre Bonny(1) Raum, hier ihre ersten politischen Gehversuche zu machen.

Der Wahlkampf 1959 wird dann sowohl für das «Junge Bern» wie für Matter zum Erfolg. Die Partei gewinnt vier Sitze, und ihr Kandidat für die Exekutive, Gockel Schädelin, wird in den Gemeinderat gewählt. Mani (er wird achter Ersatzmann auf der Stadtratsliste) unterstützt den Wahlkampf seiner Partei aktiv als Chansonnier, was Folgen hat. Schädelin ist nämlich früher Besitzer eines Tonbandgeräts und spielt die Aufzeichnung der Mani-Lieder seinem ehemaligen «Patria»-Kollegen Schnägg Schmezer vor. Dieser ist zwischenzeitlich Ressortchef der Abteilung Unterhaltung beim Radio Bern geworden und lässt sich nicht zweimal bitten: Am 28. Februar 1960 stellt er in der Abendsendung «Kaleidophon» dem deutschschweizerischen Publikum den Liedermacher Matter  vor.

1962, bei den Grossratswahlen, wird Matter bereits zweiter Ersatzmann; ab 1964 übernimmt er für drei Jahre das Präsidium der Partei. Seine politische Programmatik formuliert er in einer später posthum in seinen «Sudelheften» publizierten Notiz aus dem Jahr 1962: «Hinter dem Jungen Bern stehen zwei Tendenzen: einerseits die, aus dem Politisieren von Interessen herauszukommen und den Blick auf das Ganze des Staates, auf dessen Gerechtigkeit und gutes Funktionieren freizubekommen; andererseits die Ablehnung ideologischer Bindung, aus der Einsicht heraus, dass diese ja doch den Blick nur trüben könne (…).» Die rechte wie die linke Ideologie verbauten «den Weg zur glücklichen Lösung im Einzelfall». Unübersehbar ist, dass dieses politische Credo nicht weit entfernt ist vom Pfadfinder-«Moralin»: Wie gegenüber der Pfadfinderei eine unhinterfragbare Loyalität vorausgesetzt ist, ist sie es in der Politik gegenüber dem Staat. In beiden Fällen ist es für Matter klüger, pragmatisch die krummgewordenen «Häringe» geradezuschlagen, statt sich in Ideologisierereien zu verlieren, wer warum zu befehlen habe, wenn es ans Zelteaufstellen geht.

Ein vorsichtiger Reformer ist Matter in dieser Zeit auch als Jurist. Seit 1963 ist er Assistent des Staatsrechtsprofessors Richard Bäumlin an der Universität Bern; 1965 reicht er seine Dissertation ein über «Die Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde», in der er sich für eine liberalere Praxis des Bundesgerichts zugunsten der Gemeinden ausspricht. Im Aufsatz «Der Bürger und die demokratischen Institutionen – falsche Vorstellungen und mögliche Reformen», der 1966 im «Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft» erscheint, widerspricht Matter aus einer dezidiert anti-utopischen Position Max Imboden, der 1964 in seinem Buch «Helvetisches Malaise» eine Totalrevision der Bundesverfassung gefordert hat. «Man hat», so Matter, «als politisch Denkender zu allen Zeiten versuchen müssen, den Menschen realistisch in Rechnung zu setzen und dennoch mit institutionellen Mitteln das Beste herauszuholen.» Deshalb gehe es heute nicht «um einen ‘bewussten Neubau’ unseres Staates; mehr um einen zuversichtlichen Ausbau des Bestehenden». Als Staatsrechtler wie als Parteipräsident ist es ihm Mitte der sechziger Jahre um die vorsichtige Reformierung des Staates zu tun, «den in Tat und Wahrheit doch recht weitgehend der Bundesrat regiert».

1967, nach seinen ersten öffentlichen Auftritten als Berner Troubadour (zusammen mit Ruedi Krebs, Jacob Stickelberger, Bernhard Stirnemann, Markus Traber und Fritz Widmer) geht Matter für ein Jahr nach England, an die Universität Cambridge, um an seiner Habilitation über «Die pluralistische Staatstheorie» zu arbeiten. In dieser Arbeit fasst er den Begriff Pluralismus als die Bejahung der Diskussion der Gegensätze und als «Konsens der Uneinigkeit»; die Widersprüche interpretiert er als die Grundlage eines lebensfähigen Staates – eine im besten Sinn des Wortes liberale Konzeption. Matter philosophiert und verbringt die Freizeit mit seiner Frau Joy – sie haben 1963 geheiratet – und mit ihren drei Kindern. In dieser Zeit ereignet sich, weit weg, auf dem Festland, «1968».

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Nach Matters Rückkehr aus England konkretisieren sich gleich mehrere mögliche Karrieren. Seit Anfang 1969 erfüllt Hans Peter Matter für die Stadt Bern den befristeten Auftrag, das Reglementewirrwarr der städtischen Verwaltung zu ordnen; anschliessend macht man ihn zum (beamteten) Rechtskonsulenten der Stadt. Sein Büronachbar ist Guido Schmezer, der, nach einem Abstecher auf die «Nebelspalter»-Redaktion, nun unter dem freisinnigen Gemeinderat Gerhart Schürch, einem Amtskollegen des nach wie vor amtierenden Schädelin, für Pressearbeit und Kulturförderung der Stadt Bern zuständig ist. Auch an der Universität bleibt Matter aktiv: 1970 übernimmt er, nun als Oberassistent, einen Lehrauftrag für Staats- und Verwaltungsrecht. Die Berner Troubadours werden immer gefragter; Egon Ammanns «kandelaber»-Verlag bringt Matters erstes Liederbüchlein, «Us emene lääre Gygechaschte», heraus (wofür ihm Büronachbar Schmelzer im Auftrag der Stadt, kaum hat sie ihn angestellt, einen Anerkennungspreis verleiht).

Alles bestens also. Alles bestens? Im Gespräch erinnert sich Franz Hohler an die damalige Doppelrolle seines Freundes: «Wenn man unter ‘Nonkonformist’ jemanden versteht, der nicht ins normale gesellschaftliche Schema passt, dann ist Mani kein Nonkonformist gewesen; er hat sehr wohl ins gesellschaftliche Schema seiner Zeit gepasst, auch seiner Liedermacherei. Aber: Ich habe Mani sehr oft vermisst in den letzten zwanzig Jahren. Er ist jemand gewesen, dessen Meinung mich immer interessiert hat. Er hat mich öfter überrascht durch seine Ansichten und Gedanken. In diesem Sinn ist viel weniger voraussehbar gewesen, was er zu etwas meint, als zum Beispiel bei jemandem, der ganz deutlich bei den Linken gewesen ist.» Ein ehemaliger «Patria»-Kollege charakterisiert Mani als «bürgerlichen Juristen und Nonkonformisten im Geist». Matter selber reflektiert seine zunehmende Zerrissenheit in einer «Sudelheft»-Notiz: «Ich arbeite einerseits am Funktionieren der Zivilisation, andrerseits unterhalte ich die Leute mit Liedern. Irgendwie habe ich das Gefühl, es sollte noch etwas Drittes geben. Aber ich kann mir nicht einreden, dass das im politischen Radikalismus wäre, obschon dies vielleicht nahe dabei ist.»

Der «Nonkonformist im Geist» beginnt sich zu radikalisieren. Als er im Winter 1970/71 gebeten wird, an der Universität Bern im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Die Schweiz seit 1945» mit prominenten Rednern (keinen Rednerinnen, obschon eben, am 7. Februar 1971, das nationale Frauenstimm- und wahlrecht eingeführt wird) zum Thema «Die Schweiz seit 1945 aus der Sicht der jungen Generation» zu sprechen, hält er ein Referat, das auf seine politische Desillusionierung verweist. Nicht nur insistiert er nun auf Imbodens Büchlein «Helvetisches Malaise», das von einem Vorredner unterschlagen worden ist, und darauf, dass dieses Büchlein das mittlerweile laufende «Verfahren auf Totalrevision der Bundesverfassung» mitveranlasst habe (die er vor fünf Jahren noch abgelehnt hat). Matter stellt die Reformierbarkeit des Staates auf parlamentarischem Weg überhaupt zur Diskussion und rechnet kritisch mit seiner politischen Arbeit in der Splitterpartei des «Jungen Bern» ab: «[Es hat] sich, jedenfalls in meiner Erfahrung, gezeigt, dass die Wirksamkeit einer Splitterpartei sich auf eine gewisse Polizei- oder, wenn man will, Feuerwehrfunktion gegenüber den grossen Parteien beschränkt: man kann ihnen auf die Finger sehen, man kann hier und da einspringen, wo sie versagen; aber wegweisende Impulse können kaum von einer Splitterpartei ausgehen.» Man könne es einem «Splitterparteienmann» deshalb nicht verargen, «wenn er, durch diese Erfahrung gewitzigt, mit APO-Methoden zu liebäugeln beginnt, die zwar ebenfalls nichts unmittelbar bewirken, die aber doch ein öffentliches Bewusstsein für gewisse Fragen eher zu schaffen vermögen – schon durch das Ärgernis, das sie erregen». Ganz offensichtlich hat sich Matter in jener Zeit den 68er-Diskussionen um die Möglichkeiten und Grenzen Ausserparlamentarischer Opposition (APO) gestellt, wie sie auch an der Berner Universität, im Umfeld des studentischen «Forum politicum», geführt worden sind.

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Im Frühjahr 1970 kommt es im Schweizerischen Schriftsteller-Verein (SSV; er wird erst im November 1971 ein «Verband») zum Eklat, als bekannt wird, dass Präsident Maurice Zermatten bei der – gegenüber der deutschen Version inhaltlich noch verschärften – welschen Fassung des «Zivilverteidigungsbüchleins» mitgearbeitet hat (das – eine Sumpfblüte des Kalten Kriegs – die Intellektuellen des Landes insgesamt als potentielle Landesverräter diffamiert). 22 kritische Autoren, darunter aus Stadt und Region Bern Ernst Eggimann, Peter Lehner, Kurt Marti, Jörg Steiner und Walter Vogt, verlassen im Frühjahr 1970 den SSV unter Protest. Zur Besprechung des weiteren Vorgehens wird Anfang Juni 1970 nach Olten eingeladen, der Lyriker Lehner bittet seine jungen Kollegen Hans Mühlethaler und Mani Matter (beide sind nicht SSV-Mitglieder gewesen), in zu begleiten. Von da an ist Matter dabei und stellt sein juristisches Fachwissen in den Dienst der SSV-Dissidenten. Er setzt sich in internen Diskussionen durch, er entwirft die Statuten des von ihm vorgeschlagenen neuen Vereins, und er präsidiert am 25. Mai 1971 in Biel die eigentliche Gründungsversammlung der «Gruppe Olten». Dort wird Anne Cuneo zur ersten Präsidentin, Mühlethaler zum Sekretär gewählt (was er sechzehn Jahre lang bleibt). Matter lehnt ein Engagement im Vorstand zwar ab, arbeitet in der Folge jedoch in einer Arbeitsgruppe für urheberrechtliche Fragen mit.

In seinem Buch über die «Gruppe Olten»(2) resümiert Mühlethaler diese Gründungsphase wie folgt: «Rückblickend betrachte ich Mani Matter, der konsequent für die Autonomie und die Schaffung einer formalen Struktur eingetreten ist, als den eigentlichen Gründer der Gruppe Olten.» Im Gespräch ergänzt er, in den Versammlungen, die 1970/71 zur Gründung der «Gruppe Olten» geführt haben, sei «stillschweigend die linke, sozialistische Gesinnung verausgesetzt worden». Man sei «pro Gewerkschaften und fundamentaldemokratisch» gewesen. Links zu sein sei damals sozusagen Mode gewesen: «Fast alle Kollegen haben damals einen Linksschwenk gemacht.» 

Zwischen jenem Matter, der ängstlich von einer Totalrevision der Bundesverfassung abrät (1966) und jenem, der sich mit vollem Engagement in den Dienst der (salon-)sozialistischen SSV-Dissidenten stellt (1970/71) liegt zweifellos ein Weg der politischen Radikalisierung, liegt – auch für ihn – das Jahr 1968. (Der legendäre Sozialismus-Artikel allerdings, wonach sich die «Gruppe Olten» bis heute einem «demokratischen Sozialismus» verpflichtet fühlt, wird erst nach Matters Tod, 1974, anlässlich einer Revision in die Statuten aufgenommen). Vor dem Hintergrund dieser politischen Radikalisierung lese ich auch die letzten, direkten, von Plots und Pointen unverstellten Chansontexte Matters, vor allem «nei säget solle mir» und «warum syt dir so truurig?». Der manchmal ins akademisch Dünkelhafte kippende Ton (zum Beispiel im «wilhälm täll»: «si würde d’freiheit gwinne – / wenn si däwäg z’gwinne wär») hat einer radikal ent-täuschten Sicht der Dinge Platz gemacht hat.

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Im Gespräch habe ich Franz Hohler auf die zumindest in Bern nach wie vor herumgebotene These angesprochen, wonach Matters Unfall eigentlich ein Selbstmord gewesen sei. «Ein willentlicher Selbstmord, da bin ich absolut sicher, war es  nicht», antwortete er, und: «Mani war zu menschenfreundlich, er hätte niemals eine Art des Selbstmords gewählt, die andere Menschen gefährdet. Aber was bringt einen um? Das ist natürlich eine andere Frage. Joy hat mir erzählt, Mani sei in den letzten vierzehn Tagen sehr unruhig gewesen, und zwar unerklärlich unruhig, und habe auch Angst gehabt, er werde krank oder sei schon krank. So, wie sie mir das geschildert hat, habe ich das Gefühl, er habe mit einer Depression gekämpft, mit dem ganz grossen Lebensfragezeichen – man könnte auch sagen Midlife-crisis – mit der Frage, was man überhaupt soll, ob man auf dem richtigen Weg sei, ob es richtig sei, was man macht.»

Matter dichtet damals: «warum syt dir so truurig? / s’geit doch so wi der’s weit / frou u ching sy doch zwäg, im / pruef geit’s geng e chly vorwärts». So war es: In der Stadtverwaltung hat man dem beliebten Rechtskonsulenten signalisiert, dass man ihn mit der Zeit durchaus als Stadtschreiber sähe. Im «Jungen Bern» macht man sich Gedanken wegen der Nachfolge Schädelins in der Regierung; Matter als Gemeinderat, das könnten sich viele vorstellen. An der Universität hat der Lehrbeauftragte den Ruf des geschickten Pädagogen, der auch komplizierte Zusammenhänge stringent und verständlich darzustellen vermag; die Habilitationsschrift hat er – fertig bis auf die Fussnoten – in der Schublade; Hans Peter Matter, Professor für Staatsrecht: Auch das wäre denkbar. Als Liedermacher ist er in kurzer Zeit populär geworden, neuerdings füllt er in Luzern, Zürich und in Basel mit dem Soloprogramm «Gesammelte Werke» die Säle. Als Schriftsteller ist er auch kein Anfänger mehr, hat Prosanotizen, dramatische Skizzen und Kurzgeschichten in der Schublade und durch sein Engagement um die «Gruppe Olten» konnte er in der schreibenden Zunft wichtige Kontakte knüpfen. Und zu Hause, im Einfamilienhaus in Wabern, schaut, wenn er unterwegs ist, seine tüchtige Frau neben ihrer Arbeit als Sekundarlehrerin, dass alles läuft.

Der flinke, gescheite Mani, der gerngesehene Tänzer auf vielen Hochzeiten, steht auf dem Karrierekarussell, das immer schneller dreht: Stadtschreiber? Gemeinderat? Professor? Oder aussteigen? Nonkonformist werden nicht nur im Geist? Es ernsthaft mit der Schriftstellerei versuchen? Aber woher dann das Geld nehmen? Das Karussell dreht. Das letzte Lied, das er fertigstellt, heisst «lob vor fuulheit», ein Lied über seinen Wunschtraum nach dem kontemplativen Leben, das er im geheimen schon 1960 beschworen hat: «Stehen-, sitzen-, liegenbleiben, wo man ist, und nichts tun. Als schauen und hören, und riechen. Und vielleicht einen halben Gedanken haben, aber nicht mehr, höchstens zwei Drittel. – Man muss das lernen».  («Sudelhefte») Zur gleichen Zeit jedoch hat er öffentlich die Pfadfinder ermahnt, «Sich auszuruhen?/ Nein, das wär kein Verslein wert» («Moralin»).

Das Karrierekarussell dreht. Ein Mann gibt nie zu, wenn er nicht mehr weiter weiss, auch der Mann Matter nicht. Er tut, was er kann, hastet aus dem Büro ins Auto, fährt in der Schweiz herum zu den Soloauftritten des Mani, mitten in der Nacht zurück nach Wabern und nach kurzem Schlaf am Morgen wieder ins Büro. Hohler erinnert sich: «In der letzten Zeit bin ich Manchmal bei ihm draussen in Wabern übernachtet, wenn ich in Laupen oder irgendwo aufgetreten bin. Dann bin ich etwa um halb eins in der Nacht eingetroffen, und er ist jeweils noch aufgewesen, ist noch dort gesessen und hat etwas gelesen. Wir haben zum Teil sehr schöne Gespräche gehabt, Nachtgespräche. Es wurde dann vielleicht zwei. Und um halb acht war er wieder im Büro. Wenn ich dann um halb zehn verschlafen heruntergekommen bin, hat’s nur noch lauter Zettel gehabt auf dem Küchentisch.»

Im Herbst 1972 geht’s immer weniger, Matter stösst an seine physischen und psychischen Grenzen. In diesen Tagen könnte eine Erinnerung wieder aufgetaucht sein: Als 1953 seine Mutter gestorben ist, hat der 18jährige mit einer merkwürdigen epilepsieartigen Krankheit derart heftig reagiert, dass er später bei der militärischen Aushebung untauglich geschrieben worden ist. Die Krankheit ist nie endgültig diagnostiziert worden und tauchte nicht mehr auf. Aber unter dem «Klarheitsgebäude» seiner Lebensgestaltung blieb «das Unklare, das Dunkle, das Unverständliche, das Sinnlose», dem er nach dem Tod seiner Mutter «keinen Einbruch mehr in sein Leben» gelassen habe (Hohler).

Am Wochenende vom 18./19. November 1972 ist in Zürich eine Generalversammlung der Gruppe Olten angesagt. Die Berner reisen zusammen im Zug nach Zürich. Vis-à-vis von Matter sitzt Mühlethaler, der sich heute erinnert: Matter sei sehr still gewesen, sie hätten die ganze Zeit geschwiegen und zum Fenster hinausgeschaut. Ab und zu habe er Matter angeschaut und gedacht: «E, wi isch dä müed.» Laut Protokoll hat Matter an der GV nur einmal das Wort ergriffen: Er hat informiert über den Stand der Dinge in der Urheberrechts-Arbeitsgruppe.

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Am Freitag darauf hastet er nach Büroschluss zum Auto und fährt Richtung Rapperswil los. Als Unfallzeit wird 19.15 Uhr angegeben. Sein schleudernder Wagen ist vom nachfolgenden Auto gerammt und bis auf die Vordersitze eingedrückt worden. Bei der anschliessenden Massenkollision werden sechs Personen verletzt. Hans Peter Matter ist sofort tot.

(1) Oehen und Bonny wurden später beide profilierte bürgerliche Politiker: Valentin Oehen war zwischen 1971 und 1987 Nationalrat der«Nationale Aktion», Jean-Pierre Bonny war zwischen 1983 und 1999 Nationalrat für die FDP. 

(2) Hans Mühlethaler. Die Gruppe Olten. Das Erbe einer rebellierenden Schriftstellergeneration, Aarau/ Frankfurt am Main/ Salzburg (Sauerländer) 1989.

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 175-186. (Dokumentiert wird die Buch-Version; die Fussnoten wurden für diese elektronische Fassung eingesetzt. – Als Ergänzung zu diesem Porträt kann der kurz darauf entstandene Text«Mythos Mani Matter» gelesen werden. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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