Widerwelten der Gewalt

«Ja, jetzt geht dir endlich das Herz auf», sagt Kari Selb. Und: «Schluss mit dem Scherbengericht.» Mit Scherbengerichten haben die alten Griechen Mitbürger aus ihrer Gemeinschaft verbannt, indem sie ihre Namen auf eine Scherbe schrieben. Kari Selb mit der blutigen Scherbe in der Hand, mit der sie jenen Menschen aus dem Leben verbannt hat, der sie aus der sozialen Welt verbannen sollte. Das ist das Schlussbild des neuen Romans «Angeklagt» und damit der Trilogie, deren ersten beiden Teile die Romane «Daskind» (1995) und «Brandzauber» (1998) bilden.

Rote Schuhe bedeuten Tod

Nahtlos verschränkt ist dieses Schlussbild mit dem Anfang des Romans: «Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin. Auf diese kurze Formel gebracht, betrachte ich mein Leben als gelungen.» So setzt der Monolog ein, mit dem die 26jährige Kari Selb der Gerichtspsychologin ihr Leben erzählt. Der Raum ist von ausgesuchter Kargheit: «Kein Tisch, wäre zu einfach. Nur zwei Stühle. Weiss. Vier Wände. Weiss. Eine Tür. Weiss. Eine Decke über uns. Weiss. Ein Fensterrahmen. Weiss. Ein aufklappbares Abstellbrett. Weiss. Und vier mal sechs Meter grünes Linoleum. Grün wie die Klingelschnur. Still-Leben.» Zugewiesen worden ist die Redende vom Untersuchungsrichter, der sich aufgrund seiner Ergebnisse fragen musste, ob jemand zurechnungsfähig sein könne, der Hunde vergiftet und junge Katzen zerdrückt, gewohnheitsmässig Brände legt und ohne nachvollziehbares Motiv Morde begeht. Darum findet dieses psychologische Scherbengericht statt: Die Angeklagte kämpft gegen ihre lebenslängliche Verbannung in die Unzurechnungsfähigkeit.

Über ihr Elternhaus sagt sie: «Ich litt nicht darunter. Ich wartete.» Ihr Vater, Architekt in einem zur Agglomeration verkommenen Dorf, «trank und verhurte sein Geld». Die Mutter war schwere Alkoholikerin. Vom Grossvater, im Krieg «Hundestaffelführer», der es «mit Kindern trieb», weiss sie nur vom Hörensagen. Im «Gästezimmer», einer Mansarde unter dem Dach, feiern die Eltern zusammen mit der Schwester der Mutter wüste Feste, wobei der Vater ab und zu «Abstecher» macht ins Kinderzimmer: «Ist das erst ein Spass so was Enges Widerspenstiges aber was solls sind alle zu stopfen.» Später verlässt er seine Frau und zieht zur Schwägerin.

Bis zum zwölften Lebensjahr sei sie «ein ausgesprochen artiges Kind» gewesen, erzählt Kari Selb. Dann taucht plötzlich Malik auf: «Sie lachte über meine Verblüffung, hakte sich bei mir ein und blieb.» An ihrem dreizehnten Geburtstag steckt Selb in Maliks Begleitung eine Telefonzelle an, dann das Haus an der Löwengasse «in der Stadt meines abtrünnigen Vaters», der Bauernhof von Franz Huber ist dann schon der fünfte Brand in fünf Wochen, später brennt im Hafen das Schiff des Mädchenhändlers Kohli.

Als «Dritter im Bunde» kommt Seraphim dazu. Von jetzt an sind Kari, Malik und Seraphim oft gemeinsam unterwegs. Sie tragen abwechslungsweise die roten Schuhe, die Kari vom abtrünnigen Vater zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, und zwar obschon der «Hohn» ihres leuchtenden Rots in ihr von Anfang an eine «unbändige Wut» auslöst. Die Frauen, die sie später ermordet, tragen alle «zur falschen Zeit am falschen Ort die falschen Schuhe», nämlich rote.

Phasen der Identitätszerstörung

Mariella Mehr arbeitet mit bekannten Topoi. Waren nicht auch Max Frischs Ludwig Anatol Stiller (1954), Jörg Steiners Rudolf Benninger («Strafarbeit», 1962), Walter Matthias Diggelmanns Harry Wind (1962) oder Siegfried Lenz’ Siggi Jepsen («Deutschstunde», 1968) Internierte, die genötigt wurden, ihr Leben zu erzählen? Hat nicht auch Otto F. Walter in «Die verlorene Geschichte» (1993) eine Sprache gesucht für den sprachlosen Eisenleger Polo Ferro? Zeigten nicht auch Filme wie Jonathan Demmes «Silence Of The Lambs» (1991), Bruce Robinsons «Jennifer Eight» (1992) oder David Finchers «Seven» (1995) sogenannte «serial killers», die nach irgendwelchen hirnrissigen Kriterien Menschen töteten?

Die Originalität der drei Romane Mariella Mehrs – scheint mir – ist in der raffinierten Behandlung der jeweiligen Erzählposition zu suchen, die die drei Bücher logisch zur Trilogie verbinden: Mit diesem genuin literarischen Mittel wird im ersten Roman die Brechung einer Identität gezeigt, im zweiten das paralysierte Leben mit zerbrochener Identität und im dritten nun die beängstigende Neuformierung von Identitätsbruchstücken. Konkret:

• «Daskind spricht nicht, hat nie gesprochen. Schweigt düster»: Dieser Erzählposition ordnete Mehr im ersten Roman eine impulsive Sprache voller syntaktischer Umkehrungen und Verkürzungen zu. So wurde die Zerstörung des Pflegekindes durch Inzucht, Bigotterie und Gewalt eingeschrieben in die Sprachgestalt des Texts.

• In «Brandzauber» spiegelt sich Annas schwankende Identität in der häufig von Abschnitt zu Abschnitt hin- und herspringenden Perspektive zwischen Innensicht (Ich-Anna) und Aussensicht (Sie-Anna). Einerseits erzählt die Autorin über ihre Protagonistin, eine Heiltherapeutin mit jenischen Wurzeln, andererseits scheint sie sie selber zu sein: Ich sind zwei.

• Kari Selb nun sagt von sich zwar: «Ich gehe auf dem Niemandsstreifen zwischen Traum und Wirklichkeit», erzählt aber ihre Geschichte mit starkem Ich. Merkwürdig freilich sind Malik und Seraphim, die sich immer mehr als abgespaltene Teile dieses Ichs, als innerpsychische Stimmen entpuppen, die an einer Stelle «synchron» flüstern: «Vergiss es, nichts gibt dich dir zurück.» Ich sind drei. Kari Selb hat zwar eine Identität zurückgewonnen, aber um den Preis, dass sie sich selber unwiderbringlich verloren hat.

Das Motto, das sich über alle drei Romane setzen liesse, findet sich in «Brandzauber»: «Wir man erst für verrückt gehalten, bleiben nur wenige Möglichkeiten, sich verständlich zu machen.» Sich verständlich zu machen versuchen alle drei Protagonoistinnen, nicht zuletzt, indem sie sich aus der wahnsinnigen Welt, die sie zerstört, zu befreien versuchen, indem sie zu töten beginnen.

Die zentrale Frage, die Mehr in ihrer Trilogie behandelt, lautet: Wie werden Verletzungen in einem Opfer zum Willen, sich gewalttätig Luft zu verschaffen? Von Buch zu Buch spitzt sie die Antwort formal weiter zu: Während sie in «Daskind» noch den sozialen Kosmos eines ganzen Dorfes und in «Brandzauber» eine Privatklinik und ein Treibhaus entwirft, in dem nicht nur die Fleisch fressenden Pflanzen, sondern auch die Metaphern üppig blühen, ist nun in «Angeklagt» Kulisse, Metaphorik und Sprache reduziert auf das unausweichliche Es-ist-wie-es-ist: Die wahnsinnige Welt ist der verdrängte Schmerz ist die Gegengewalt.

So gesehen ist Mariella Mehrs neuer Text von einer gnadenlosen formalen und inhaltlichen Konsequenz: in seiner zweifelsfreien Amoralität schwer erträglich, aber Literatur, die diesen Namen verdient. «Angeklagt» ist radikaler als das meiste, was als radikal gilt. Wo andere den Wahnsinn der Normalität zu zeigen versuchen würden, zeigt Mariella Mehr die Normalität des Wahnsinns. Wer sich diesem Text aussetzt, wird sich dem Sog seiner Logik nur schwer entziehen können. Sie steckt in allen.

Mariella Mehr: Angeklagt. Roman, Zürich (Nagel & Kimche) 2002.

[Kasten]

Mehrs neue Gedichte

 

Parallel zur Romantrilogie hat Mariella Mehr in den letzten Jahren zwei Gedichtzyklen veröffentlicht, die beide zweisprachig, in der deutschen Originalversion und übersetzt ins Romanes, herausgekommen sind. Die Gedichte des zuletzt erschienenen Bands «Widerswelten» bezeichnet der Schriftsteller und Lyriker Kurt Marti in seinem Vorwort als «Elementarereignisse und grosse Kunst».

Wie schon der 1998 erschienene Band «Nachrichten aus dem Exil» versammelt auch «Widerwelten» Texte von grosser expressiver Bildkraft und hermetischer Metaphorik. Wem letztere verdankt ist, signalisiert etwa das Gedicht «Bitterer Wermut», in dem Paul Celans «Niemandsrose» die Reverenz erwiesen wird. Wem die Texte jedoch verpflichtet sind, ergibt sich aus der Zweisprachigkeit: dem Volk der Roma, dem sich Mehr als Jenische zugehörig weiss.

Fremdheit und Tod, Schmerz und Gewalt sind zentrale Chiffren in diesen Gedichten: «Ich tanze voran, bis ein Getier / mich für den Hunger / seiner Nacht in Stücke reisst.» Im letzten Text scheint ein ästhetisches Programm skizziert, das als Motto für die bisherige Arbeit dieser Lyrikerin und Schriftstellerin gelten kann: «Mein Mund erwärmte sich / am Licht, er formte Widerworte. / Ich sang mein Leid und Lieb /…».

Mariella Mehr: Widerwelten, Gedichte. Deutsch/Romanes, übersetzt von Miso Nikolic, mit einem Nachwort von Kurt Marti, Klagenfurt (Drava Verlag) 2001. 

Zu Mariella Mehr siehe auch:«Macht ist Angst, über sie nachzudenken»

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