Nachhilfestunde

Die Kulturboykott-Drohung der 700-Jahr-Feier und der Beschluss, der Drohung einen  Boykott ohne Wenn und Aber folgen zu lassen (siehe WoZ 15/1990), hat mittlerweile sogar Chefredaktoren bürgerlicher Zeitungen zum Nachsitzen gebracht. In ihren Strafaufgaben enthüllen sie, was es mit dem Kulturboykott wirklich auf sich hat.

• Im «Tages-Anzeiger» hat Toni Lienhard in seinem Leitartikel «Kulturschaffende kontra Staat» (TA, 14.4.1990) keinen Recherchieraufwand gescheut und herausgefunden, dass «die Boykott-Aktion aus der politisch linken Ecke» stamme und dass der «organisierte Boykott» «einen Solidaritätsdruck unter den Kulturschaffenden» erzeuge, der jenen wegnehme, «was für alle so wichtig ist: persönliche Freiheit». Hut ab. Schweigeminute für den nur durch den Boykott bedrohten Freiheitsdrang hiesigen Kulturschaffens.

• In den «Luzerner Neuesten Nachrichten» hat Karl Bühlmann versucht, über «Kulturignoranz» nachzudenken (LNN, 20.4.1990), wobei der Titel vermutlich  das Kulturverständnis des Verfassers auf den Begriff bringen will. Bühlmann wirft den Kulturschaffenden vor, sie produzierten «Kultur wie Konsumartikel», foutierten sich aber um die «Marktmechanismen» und redeten von «Kulturfeindlichkeit», wenn ihr «Produkt wegen fehlender Nachfrage zum Ladenhüter» werde. Den Boykottierenden attestiert er, sie würden «Protestieren durch Nichtstun»; der Boykott und seine Begründung (die übrigens in vorliegender WoZ erstmals öffentlich wird) seien «unüberlegt». Sein überlegter Schluss:«Für Saturiertheit und Kreativitätsmangel sind Fichen keine Ausrede.» Hut ab. Schweigeminute für die ökonomische Situation der Kulturschaffenden.

• Im «ZEIT Magazin» dieser Woche (17/1990) darf der Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts», Jürg Tobler, vor grossem Publikum über «Helvetiens Krise» referieren. «Das Gedenkjahr 1991», führt er dabei aus, «wird zur Begründung eines aufgeklärten Patriotismus Gelegenheit bieten. Vorausgesetzt, dass die Kulturschaffenden nicht streiken. [...] Und vorausgesetzt, dass diese Kulturproduzenten, wenn sie sich denn doch zu einer Mitwirkung herbeilassen sollten, etwas mehr produzieren als ihre gewohnte Larmoyanz.» Hut ab. Schweigeminute für die Gründe, die Kunst hier und heute zum Klagen bringt.

Der Kulturboykott 700, so lernen wir, ist ein aus der linken Ecke angezetteltes Komplott gegen die persönliche Freiheit der Kulturschaffenden, überdeckt ihre Saturiertheit und ihren Kreativitätsmangel  und verschont die rechte Schweiz vor ihrer gewohnten Larmoyanz. Helm auf. Ruhn.

Das Kulturboykott-Komitee überlegt derweil, wie noch in diesem Jahr in irgendeiner Form ein Symposium der Boykottierenden zu realisieren wäre. Die Kulturschaffenden müssen versuchen, kulturpolitisch noch einiges klarzustellen, bevor der ausserordentliche Bundesrat für Ideologiebildung, Marco Solari, seine flächendeckende PR-Walze anfahren kann.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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