Am letzten Freitagabend haben Delegierte verschiedener Kulturorganisationen in Zürich beschlossen, der Kulturboykottdrohung «Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates» einen Kulturboykott der CH-700 ohne Wenn und Aber folgen zu lassen.
Wenn sich die Kulturschaffenden auf den Forderungen der Kulturboykottdrohung behaften lassen – und das müssen sie, wollen sie glaubwürdig bleiben –, so steht fest, dass sie der Boykottdrohung der CH-700 einen Boykott folgen lassen müssen. Dies war unter den etwa zwanzig anwesenden Kulturschaffenden, die am letzten Freitagabend als Delegierte verschiedener Kulturorganisationen über den Kulturboykott der CH-700 diskutierten, unbestritten.
Anfang Februar 1990 hatte eine Gruppe von 14 SchriftstellerInnen aus dem Kreis der Gruppe Olten in Zusammenarbeit mit der WoZ-Redaktion die Kulturboykottdrohung «Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates» lanciert. Diesen Aufruf haben rund 700 Kulturschaffende unterzeichnet. Er beinhaltete insbesondere zwei Forderungen:
«[Wir] erklären gemeinsam:
• dass wir nicht bereit sind, einen Schnüffelstaat zu feiern, auch nicht durch ‘konstruktive Kritik’, über deren Konstruktivität die Schnüffler an der Berner Taubenstrasse befinden;
• dass diejenigen, die an einem der zahlreichen CH-700-Projekte beteiligt sind, ihre Mitarbeit überdenken und sich vorbehalten, aus den Projekten ganz auszusteigen, falls bis Ende Jahr nicht alle Registrierten volle Einsicht in Fichen und Akten erhalten und die Polizei ihrer Schnüffelei entledigt ist.»
Abgesehen von der talentiert gespielten öffentlichen Zerknirschung des CH-700-Delegierten Marco Solari; abgesehen von Arnold Kollers paternalistischem Diktum, «namentlich auch die Kulturschaffenden» hätten sich dem «teilnehmenden Gespräch» zu stellen (NZZ, 30.3.1990) und abgesehen von Bundesrat Flavio Cottis softer Larmoyanz: «Die Schweiz ist auf Sie angewiesen» («Tages-Anzeiger», 4.4.1990) hat die Boykottdrohung in den letzten zwei Monaten keinen wahrnehmbaren Einfluss auf die Ereignisse gehabt.
Die Motion der SP-Fraktion im Nationalrat zur «Abschaffung der politischen Polizei» ist am 5. März auch in der abgeschwächten Form des Postulats mit 109 zu 66 Stimmen abgelehnt worden. An der gleichen Sitzung wurden weitere Vorstösse von linker und grüner Seite mit ähnlichem Stimmenverhältnis verworfen. Dass bis Ende Jahr alle Registrierten «volle Einsicht in Fichen und Akten erhalten» werden, ist auszuschliessen. Die Registrierten werden froh sein müssen, wenn sie bis Ende Jahr Einsicht in die zensurierte Fiche erhalten. Von Akteneinsicht kann bis dahin keine Rede sein.
In der Diskussion der Delegierten am letzten Freitag in Zürich wurde die politische Ignorierung der Boykottdrohung einerseits auf die traditionelle Geringschätzung des schweizerischen Kulturschaffens und auf die generelle Kulturfeindlichkeit in diesem Land zurückgeführt. Andererseits war allen klar, dass in dieser Auseinandersetzung nicht die Interessen der Kulturschaffenden, sondern ebenso jene der Hunderttausenden von Registrierten ignoriert worden sind (und weiter ignoriert werden).
Deshalb wurde im Grundsatz beschlossen, einen zweiten Aufruf zu lancieren, der den ersten ersetzt und zum Boykott jeglicher kultureller Mitarbeit bei sämtlichen Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft aufruft. Mit der Schlussredaktion eines vordiskutierten Textentwurfs wurde ein ad hoc gewähltes Komitee beauftragt. Ihm gehören an: Dres Balmer (Gruppe Olten), Markus Eichenberger (Werkstatt Improvisierte Musik WIM, Zürich), Fredi Lerch (WoZ), Linus Reichlin (Gruppe Olten), Liliane Studer (Literaturtage «SCHRIFTWECHSEL – Frauen und Literatur). Dieses Komitee wird bis Ende Monat den Boykottaufruf lancieren.
Wichtig war allen Anwesenden, dass die kulturpolitische Diskussion, die die Boykottdrohung auszulösen vermocht hat, weitergeführt werden soll: Für die Solothurner Literaturtage Ende Mai ist eine grosse Podiumsdiskussion geplant. Das Boykottkomitee soll zusammen mit einer Arbeitsgruppe für den Frühherbst ein Symposium der Boykottierenden zur kulturpolitischen Situation in der Schweiz einberufen. Die WoZ wird weiterhin fortlaufend Diskussionsbeiträge dokumentieren.
Es wäre verfehlt zu hoffen, dass die Verbände, in denen die Kulturschaffenden organisiert sind, beim Kulturboykott vorneweg gehen werden. Zu stark sind sie vom Goodwill ihrer Geldgeber abhängig. Vom Power und vom Engagement jedes und jeder Kulturschaffenden hängt es deshalb ab, ob die Boykottbewegung marginalisiert werden kann oder ob es ihr gelingt, in die Auseinandersetzung um die (kultur-)politische Situation in der Schweiz einzugreifen. Dres Balmer hat letzten Freitag in Zürich gesagt: «Jetzt müssen die Kulturschaffenden Farbe bekennen.» In der Tat: Jetzt gilt’s!