Lieber Franz Böni

Wie es meine Art ist, schreibe ich Dir wieder einmal einen Brief (vgl. WoZ 2/1984), denn nicht ohne Erschrecken, ja Bestürzung habe ich Dein neuestes Büchlein «Die Fronfastenkinder – Aufsätze 1966-1985/Erstausgabe» zur Kenntnis genommen. Sozusagen gnadenlos setzt Du damit Dein Image als fleissiger, schweigsamer Sprachhandwerker aufs Spiel, und zwar in einer Weise, die auch für oberflächlich Blätternde schnell einsehbar ist und deshalb über die Böni-Lesegemeinde hinausstrahlen wird.

Du untertitelst: «Erstausgabe». Nach der Durchsicht der Nachweise (S. 97) ist jedoch klar, dass jene Texte, die wirklich zum ersten Mal gedruckt werden, genau zwanzig – nur teilweise bedruckte – Seiten umfassen. Der Rest findet sich zum Teil in den «Sagen aus dem Schächental» (Ammann-Verlag 1982), zum Teil sind es Gelegenheitsarbeiten, die in verschiedenen Zeitungen erschienen sind. Warum also «Erstausgabe»?

Du untertitelst «Aufsätze 1966-1985». 1966 warst Du 14. Im Büchlein findet sich aus dem Jahr 1966 denn auch nur ein Aufsätzchen von 36 Zeilen, ein Schüleraufsatz über ein Gaswerk, in dem es zu Beginn heisst: «Es herrscht ein schlechtes Arbeitsklima» und am Schluss des Textes immer noch offen ist, ob damit das Verhältnis des Chefs zu den Büezern oder der Russ in der Luft gemeint ist. Vermutlich hat das den Schulmeister nicht gestört, der seinerzeit die Arbeit korrigiert hat. Mich stört’s.

Du untertitelst also «Aufsätze 1966-1985». Danach bietest Du aus den Jahren 1966 36 Zeilen, aus dem Jahr 1967 nichts, aus dem Jahr 1968 knapp 26 Zeilen, aus dem Jahr 1969 knapp 25 Zeilen und aus den Jahren 1970-1976 nichts. Wenn Du solchen Bluff bei einem andern Schriftsteller finden würdest, würde Dich das nicht auch ein wenig lächerlich dünken?

Die Aufsatzsammlung umfasst 74 teilweise bedruckte Seiten. Von 1966-1985 sind es zwanzig Jahre. 74 Seiten geteilt durch zwanzig ergibt 3,7 Seiten oder knapp 4500 Tippanschläge pro Jahr (entspricht 1 1/2 WoZ-Spalten). Wenn Deine Publikationen weiterhin immer dünner werden, wie sieht denn dann Dein seit Jahren angekündigter Roman «Residenz» aus?

Aber selbstverständlich ist Literatur keine Frage der Quantität und auf die Art der Präsentation Deines Büchleins hattest Du ja keinen Einfluss. Oder? Also Qualität. In Deinen bekannten Aufsätzen über Frisch, R. Walser, Buzzati, Winkler, Konrad, R. P. Arlati und Mettler hat mich schon immer Dein radikal antiquiertes Idealbild des darbenden Dichters interessiert, der mit langen fettigen Haarstrählen, mit wildem, zerzaustem Bart, mit schmutzigem Fischgräte-Mantel (Knöpfe abgerissen) durch die Welt zieht und ansonsten in einer Mansarde haust, die derart mit Büchern belegt ist, dass man keinen Schritt gehen kann, deren Fenster man nicht schliessen kann und in der sich der Dichter nur mittels eines kleinen Elektro-Ofens vor dem Erfrieren retten kann (so beschreibst duClemens Mettler). 

Aber auch unter diesen Texten über Literaten gibt es welche, denen noch einmal zu begegnen man sich ein wenig geniert, zum Beispiel die PR-Zeilen über Marcel Konrads Roman «Stoppelfelder». Dieses Textchen war 1983 im Bücher-PR-Organ «Bücherpick» erschienen als Freundesdienst für einen Kollegen, dem man seinen gelungenen Erstling gönnen mag, ein Gelegenheitstextchen mit geradezu superblumigen Formulierungen für den Klappentext einer eventuellen Zweitauflage («Wer einen solchen Roman geschrieben hat, muss nie mehr einen schreiben, er hat alles erreicht, ein Buch das bleibt.»). Alles, was in Deinen Schubladen noch irgend auffindbar war, musste, so scheint es, für den neuen «Böni» herhalten.

Das Buch schliesst mit einem 15seitigen «Portrait» über Dich aus der Schublade von Ulrich Horn, der es für den Südwestfunk geschrieben hat. Dieser Text ist mit Statements von Dir durchsetzt. Nun hat man Dir also auch den Stolz genommen, die Öffentlichkeit des Journalismus schweigend zu verachten. Dabei hattest Du am 11.11.1983 noch an die WoZ geschrieben: «Es ist nicht meine Aufgabe, mich mit Journalisten zu treffen und wertvolle Zeit zu verlieren.»

«Man weiss schon aus der Literaturgeschichte, dass es zwanzig Jahre dauern wird, bis man ein Werk zur Kenntnis nehmen wird. (…) Robert Walser, der wurde zu seiner Zeit lächerlich gemacht (…) und wir heutigen Autoren, wir werden wahrscheinlich auch erst in zwanzig Jahren zur Kenntnis genommen werden», sagst Du in Horns Portrait. Ja, Robert Walser hat zu seiner Zeit gegen die Lächerlichkeit zu kämpfen gehabt, aber, soviel ich weiss, machte er sich nie mit einer Publikation lächerlich, die Pfusch war. Es gibt in der Schweiz auch andere Autoren, die als Endloslitanei gefährdete Koryphäen wie Hölderlin, Kafka, Walser beschwören, in der Hoffnung wohl, dass sie die Literaturgeschichte dereinst in einem Atemzug mit jenen nennen möge (denk nur an Jürg Amann). Aber nicht jeder, der seine Verkanntheit zwanzig Jahre lang neben jener Robert Walsers vermutet hat, ist danach Robert Walser. Denn immerhin hat jener jeweils immer ein Buch geschrieben, bevor er es herausgegeben hat. Und da Du die Literaturgeschichte bemühst: «Der felsenfeste Glaube, mit dem sich jeder Autor (und Politiker) eines Durchfalls auf die Nachwelt beruft, hat etwas Rührendes: Der Fuss stiefelt in tiefen Pfützen, aber das Auge sieht mit kälbernem Ausdruck in die Sterne einer neuen Zeit. So ist es immer gewesen.» (Kurt Tucholsky, 1925)

Bis zum nächsten Mal grüsst freundlich

Fredi Lerch

PS. Dein Büchlein ist für mich unbestreitbar ein Produkt fortgeschrittener Versuhrkampung. Was tun Schweizer Autoren eigentlich dafür, dass sie in renommierten deutschen Verlagen erscheinen Dürfen? Was lassen sie mit sich machen?

Franz Böni: Die Fronfastenkinder. Aufsätze 1966-1985, Frankfurt am Main (suhrkamp) 1985.

Die als Rezension merkwürdige Briefform hatte damals eine Geschichte, siehe«Briefe an Franz Böni»

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