Keine Rezension von «Zündels Abgang»

1.

[Im Sommer 1984 bietet der Lehrer und Historiker Oswald Burger aus Überlingen[1] der WoZ eine längere Rezension von Markus Werners Roman «Zündels Abgang» an. Mit folgendem Brief lehne ich als zuständiger Redaktor den Abdruck ab:]

Zürich, 20.7.1984

Lieber Ossi

Dank für die Zusendung der Werner-Rezension. Ich habe das Buch im Frühling auch gelesen und bin allerdings – vielleicht weil ich ursprünglich auch zum Primarlehrer ausgebildet wurde, diesen Beruf dann aber sehr schnell an den Nagel hängte, weil er (unter anderem) eine für mich völlig unhaltbare intellektuelle Position implizierte – zu andren Schlüssen gekommen als Du.

Wenn Sloterdijks «zynische Vernunft» überhaupt einen Sinn geben soll (für mich), so ist Werners Buch präzis umschrieben, wenn es als «zynisch vernünftig» bezeichnet wird. Dies würde ich nicht so in die Zeitung schreiben, aber es bestimmt meine Einstellung zum Buch: Werners Buch ist unaufrichtig. Er sagt nicht, was er meint. Werner spielt mit einer Verunsicherung, die ja höchstwahrscheinlich die seine ist, statt zu ihr zu stehen: Er bricht sie fiktional und in der Fiktion noch einmal mit den Mitteln der Ironie und des Zynismus. Werner tut das, was man als «uneigentliche Kommunikation» bezeichnen könnte: Er redet, um vom Problem abzulenken. Darum ist für mich sein Buch eine süffig geschriebene, völlig unverbindliche Spielerei. Zwei Beispiele:

Zündels Beziehung zu den Frauen. Ich habe Werner auch gehört an den Solothurner Literaturtagen, und ich kam dort endgültig zur Überzeugung, dass sich Werner ganz im Ernst durch frauliche Emanzipation im Allgemeinen und im Besonderen verunsichert fühlt in seiner Männlichkeit. Das, was Du als «grandioses Bedeutungswörterbuch» bezeichnest[1], ist für mich eine Ansammlung von männlichen Ressentiments, die Werner so meint, wie er sie sagt, aber weil er lieber Literat als ehrlich ist, solange bricht, bis keiner mehr öffentlich zu sagen wagt, dass er das, was er schreibt, auch meint. Ich aber bin überzeugt, er meint in dieser Passage das, was er sagt und schweige öffentlich, bis er mit einer nächsten Arbeit klarer Stellung bezieht (vielleicht zeigt sich dann, dass ich jetzt falsch liege). Bedenklich ist für mich auf jeden Fall, dass einer öffentlich mit dem Anspruch auf Literatur, Begriffe lächerlich macht, für deren soziale Akzeptanz eine Generation von kämpfenden Frauen ihre Kraft aufgewendet haben: «Rücksichtnahme heisst Selbstverlust.» Eine Frau, die das sagt, sagt höchstwahrscheinlich schlicht die Wahrheit; ein Mann aber sagt dies als larmoyanter Macker oder eben dann als zynischer Vernünftler (als einer, der sich über das lustig macht, was er selber ist).

Zündel als Lehrer. Du sagst selber: «Lehrerliteratur». Genau. Mir ist sofort Zinggs «Wörterkasper» in den Sinn gekommen, ein Roman, der letztes Jahr herauskam und dessen Pointe ebenfalls darin lag, dass sich ein ach so leidender Lehrer selber wegrationalisiert, in Luft auflöst, von der Bildfläche verschwindet. Dieser Gestus ist für mich kein Zufall: Er gehört heute zum schreibenden Lehrer, wie vor einer Generation noch das kritische Bürger-Sein zum schreibenden Lehrer gehörte.

Arrivierte 68er-Lehrer wissen aber heute, dass sie nicht mehr kritische Bürger sein können: Intellektuell hat der Lehrer jede Position (jede Legitimation) verloren. Heute kann einer entweder kritisch oder Lehrer sein, sonst macht er sich lächerlich. Zurück zu Werner (und Zingg): Ich lese in dieser Frage ihre Bücher als Ersatzhandlung. Eigentlich müssten sie ihren Beruf an den Nagel hängen, um danach von einer haltbaren Position her sich kritisch mit ihrer Umwelt auseinandersetzen zu können. Eigentlich müssten sie also auf ein Einkommen verzichten, das – nach meiner Einschätzung – etwa zur Hälfte als Schweigegeld verstanden werden muss. Eigentlich müssten sie also einen Sprung ins Ungewisse machen, auf Lebensstandard, Prestige und alle die kleinen Annehmlichkeiten, deren hierzulande jede korrumpierte Seele obliegt, verzichten. Stattdessen tun sie folgendes: Sie nutzen ihre Freizeit (ein Lehrer hat nota bene ca. 25-30 Stunden pro Woche Präsenzzeit, der Rest ist Schweigen) und ihr relatives Bildungsprivileg (Lehrer haben ja während ihrer Ausbildung mehr Zeit als andere, ihre Schöngeistigkeit zu pflegen) zur Produktion von Literatur, mit der sie ihr fiktives Ego dafür leiden lassen, dass es ihnen nicht im Traum in den Sinn kommt, sich mit den eigenen Widersprüchen ehrlich auseinanderzusetzen. Man sagt, Goethe habe den Werther sich erschiessen lassen, um nicht selber Selbstmord zu begehen. Über Literatur als Therapie haben sich ja auch schon welche Gedanken gemacht. Werner und Zingg auf jeden Fall schicken – dies ist meine Meinung – ihre dünnblütigen Lehrerlein in die Wüste, um weiterhin Lehrer sein zu können.

Was nun einen Artikel in der WoZ betrifft: Wir waren an Werners Solothurner Lesung drei oder vier WoZler, und wir sind uns eigentlich einig, dass wir über dieses Buch nichts schreiben wollen.

Du verstehst mich recht: ich habe damit nicht Deine Rezension «verhudeln» wollen. Ich wollte Dir einfach zeigen, dass wir uns mit Werners Buch auseinandergesetzt haben und dass unsere Zurückhaltung in diesem Fall ihre Gründe hat.

Nochmals Dank, dass Du an uns gedacht hast.

E Gruess und e gueti Zyt

fl.

[1] In Oswald Burgers Rezensionstyposkript heisst der entsprechende Satz: «In seinen [Zündels, fl.] Notizen über sein ‘momentanes Thema die Frau, im weiteren, versöhnlicheren Sinne der Mensch’ (S. 49) versteigt er sich sprachspielerisch zu einem grandiosen Bedeutungswörterbuch.»

 

2.

[WoZ 39/1984, 28.9.1984, Rubrik Kultursprünge]

Zündels Zahltag

Im letzten Frühling hat der Schaffhauser Gymnasiallehrer (Deutsch) Markus Werner im renommierten österreichischen Residenz-Verlag seinen Romanerstling «Zündels Abgang» veröffentlicht. Mit der PR-Maschinerie dieses grossen Verlags im Rücken war die erste Auflage des handlichen Bändchens (3500 Stück) innert Kürze vergriffen: «Zündels Abgang» wurde ein Erfolg. An den Solothurner Literaturtagen versuchte Markus Werner mutig zu sein: Er las jene Passage vor, in der sich sein Protagonist, der Gymnasiallehrer Zündel, in Genua, psychisch angeschlagen wie er als Antiheld ist, so lange besäuft, bis er die gesammelten Ressentiments gegen Frauen, die sich zu emanzipieren versuchen, loswerden kann, ohne dass dem Autor jemand öffentlich entgegenhalten dürfte, er meine das, was er geschrieben habe. Unentschieden bleibt, ob Werner wirklich nur der Zyniker ist, der den Abgang eines literarischen Egos inszeniert, um selber nicht Amt und Würde aufgeben zu müssen. Vorderhand wird Werner gefördert, damit er weiterschreiben kann, obschon er nur Gymnasiallehrer ist (Deutsch). Golo Mann hat ihm im Namen einer Frankfurter Stiftung 15000 D-Mark überreicht für «ein in unseren Tagen ungewöhnliches Buch». Es handelt sich um die Jürgen-Ponto-Stiftung.[2]

[2] Jürgen Ponto (1923-1977) war Vorstandsprecher der Dresdener Bank und wurde von Mitgliedern der Roten Armee Fraktion ermordet.

 

3.

[Zugesandt mit Datum vom 16.10.1984, abgedruckt am 9.11. in WoZ Nr. 45/1984 als Leserbrief]

Immer flott und hämisch

Lieber Fredi Lerch,

eben las ich, verspätet, Ihren Kultursprung mit dem hübschen Titel «Zündels Zahltag». Als Zündels Autor bin ich natürlich ein wenig schockiert, und Ihre konzentrierte Unfreundlichkeit beschäftigt mich. Auch weiss ich nicht, aus welchem Grund Sie Ende September melden, was schon ein halbes Jahr zurückliegt: Den Ponto-Preis bekam ich Ende März. Dessen Annahme muss ich vor Ihnen nicht rechtfertigen; sie zu kritisieren steht Ihnen frei.

Mühe habe ich mit anderem. Sie reden zum Beispiel von der «PR-Maschinerie eines grossen Verlags», obwohl der Residenz Verlag nicht zu den «grossen» gehört und hier in der Schweiz nichts anderes getan hat als das, was meines Wissens alle Verlage tun: nämlich Rezensionsexemplare verschicken. Dass das Buch dann von Kritik und Publikum verhältnismässig gnädig aufgenommen wurde, sollten Sie mir nicht allzu sehr verargen.

Weiter: Sassen Sie an den Solothurner Literaturtagen unter den Zuhörern, als ich jene Passage vorlas, in der der Held pauschal und trotzig über Frauen wütet? Falls ja: Was hinderte Sie daran, mich zu fragen, wie ich als Autor mich zu Zündels Aussagen stelle? Diskussion war vorgesehen.

Dass eine literarische Figur in einer ganz bestimmten Situation und Verfassung über etwas schimpft, worüber man aufgeklärter- und kontrollierterweise nicht schimpfen dürfte – das könnten Sie dem Autor auch dann nicht übelnehmen, wenn er selbst in einer bestimmten Situation und Verfassung schon so verpönte Sachen gemurmelt haben sollte. Sonst müssen Sie halt Zensor werden. Das moralische Zeug dazu hätten Sie. Zitat: «Unentschieden bleibt, ob Werner wirklich nur der Zyniker ist, der den Abgang eines literarischen Egos inszeniert, um selber nicht Amt und Würde aufgeben zu müssen.» Du meine Güte. Wie kann ein linker Kultur-Argus so tantenhaft und unbedarft daherraunen! Der Schriftsteller ist ein feiger Hund, weil er anders lebt als sein Held, und Zynismus ist fehlende Identität von Wirklichkeit und Fiktion…

Selbst der unbeteiligte Leser müsste hier stutzig werden und schäbigstes Ressentiment wittern. Haben Sie irgendeinen Gymnasiallehrer nicht verdaut? Wie kommen Sie überhaupt darauf, mir meinen Beruf und meine (NB: halbe) Lehrer-Stelle vorzuwerfen? Ist’s neuerdings ein Makel, berufstätig zu sein und eventuell eine Fron auf sich zu nehmen, die eventuell erträglicher ist als (ökonomischer) Zwang zur Kreativität und als Unterstützungsbedürftigkeit? – Es stimmt, ich bin vorderhand nicht auf Preise angewesen. Doch wenn ich ausgezeichnet werde, tu ich nicht übertrieben zimperlich: Es könnte beispielsweise sein, dass ich trotz allem vom Status jener träumte, die sich als «frei» bezeichnen und die – zusammen mit Ihnen – nicht müde werden, die lächerlichen Geldverdiener als Füdlibürger zu empfinden. So, das war’s.

Ich bin empfänglich für nüchterne Kritik. Stumpfsinn hingegen deprimiert mich, vor allem, wenn er aus einer Ecke kommt, der meine Sympathie und meine etwas angeschlagene Hoffnung gilt. Das richten Sie – mit schönen Grüssen – bitte auch dem Alois Bischof aus.

Ich kenne Euer Alter nicht. Wahrscheinlich schlurfte ich schon links, als Ihr noch mühsam stehen lerntet. Und sehr wahrscheinlich gibt es 68er, die ihren Kurs – unpenetrant und undogmatisch – auch dann noch halten werden, wenn ihre jetzigen Verächter –  immer flott und immer hämisch – das eigne momentane Linkssein als kuriose Jugendsünde schon wieder jovial begrinsen. Und richten Sie dem Bischof und sich selbst – mit schönen Grüssen – auch noch dies aus: die «68er Bewältigungsliteratur» ist immer noch eine Spur glaubwürdiger als die pfäffische, bornierte und auf wenige Primitiv-Reize automatenhaft einschnappende linke (und rechte) 84er Literaturkritik.

Markus Werner, Opfertshofen

 

4.

[Persönlicher Brief]

Zürich, 22.10.84

Lieber Markus Werner

Dank für Deinen Brief. Da ich ihn besser (geschrieben) finde als den Kultursprung, habe ich ihn der Marianne [Fehr, damals Redaktorin der Leserbriefe, fl.] für die Leserbriefseite gegeben. Es gibt Bücher, bei denen sich einer lieber die Zunge abbeissen sollte als sich öffentlich dazu zu äussern. Dein Buch war für mich so eines, und ich wusste es seit dem April, als ich es las. Dass ich trotzdem etwas geschrieben habe, obschon ich nach wie vor der Meinung bin, dass ich mir lieber die Zungeundsoweiter, ist zweifellos zynisch (ich hab mir die Zunge eben dann doch nicht abgebissen).

In der Säuglingsgeneration der Linken sagt man sich übrigens Du beim Schimpfen.

Gruss + e gueti Zyt

fl.

 

5. 

Nachtrag 2013: Mein Versuch, mich – wie gegenüber Oswald Burger angekündigt – mit Markus Werners zweiter Arbeit in Form einer Rezension auseinanderzusetzen, findet sich hier

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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