Der Frosch und sein Schandfleck

In der Verlagsmitteilung zum ersten Buch hatte Werner, «wenn’s denn sein muss», einiges Wortverspielte zu seiner Person verraten, unter anderem: «Einst wollte ich Jäger werden, nun bin ich Lehrer, was sonst.» Lehrer war denn auch der Zündel, dessen Abgang Werner inszenierte, nachdem er ihn noch einmal vor die Klasse hatte treten lassen, um abzurechnen: «Da sitzt ihr jahrelang in diesen Bänken und glotzt in die trostlosen Fratzen bornierter Dompteure und hört euch den feuchten Schwachsinn an, der ihnen unablässig von den Lippen tropft! Merkt ihr nicht, dass sämtliche Erzieher […] euch ums Verrecken in die Arme der Wirklichkeit treiben wollen? Und wisst ihr, auf welch simple Art sie das erreichen? – Sie machen euch Angst! Sie machen euch Angst mit Befehlen, Geboten, Verboten, mit Noten, Strafen Blosstellungen, mit Zwang, Druck, Drohung und Liebesentzug.» Danach ist Zündel am Ende: Er «lächelte, sagte zweimal ‘hoppla!’ und brach zusammen». Kaum jemanden liess dieser Zündel kühl; wer das Buch gelesen hatte, war begeistert oder abgestossen. Der Schreiber vorliegender Zeilen tat seinen Unmut ob Zündel öffentlich kund (Werner sei «ein Zyniker, der den Abgang eines literarischen Egos inszeniert, um selbst nicht Amt und Würde aufgeben zu müssen», WoZ 39/1984), worauf Werner replizierte, dies sei eine «pfäffische, bornierte und auf wenige Primitiv-Reize automatenhaft einschnappende linke […] Literaturkritik» (WoZ 45/1984).

Nun also die «Froschnacht», in der Werner an Vater und Sohn Thalmann abhandelt, was Zündel seinen Schülern theoretisch doziert hat. «Wohin und wie schnell ich auch rannte, ein väterlicher Grundsatz nahm mich in Empfang und rief: Ich bin schon da», erinnert sich Sohn Franz, der auch nach dem Tod seines Vaters Klemens noch unter diesem leidet: Einmal im Monat kehrt ihm der Vater als Frosch zurück, der sich in seinem Hals festsetzt und drei Tage bleibt. Da hilft dem Sohn – einem ehemaligen Pfarrer, geschieden, zwei Kinder, seit Jahren nun erfolgreicher «Lebensberater» – alle scharfsinnige Dialektik nichts: «Autorität hat zwei Gesichter, ein gütiges und ein bedrohliches. Wer mich beschützen kann, der kann mich auch bestrafen. […] Schutz ist auch Überwachung, Geborgenheits- und Angstgefühle sind so fatal verschwistert, dass wir uns jenen Mächten, die uns Angst einflössen, vertrauensvoll auf allen Vieren nähern, im Glauben, sie gewährten Schutz und Trost.» Aber der Frosch bleibt.

In zehn Kapiteln lässt Werner den alten und den jungen Thalmann abwechslungsweise aus ihrem Leben erzählen. Vater Thalmann geht gegen die achtzig, bauert noch und erzählt seine Geschichten lieber beim Melken seinen Kühen, als in der Beiz, wo man ihm sagt: «Bist ein Sauertopf, wir sind zum Jassen hier, kannst deine Referate deinen Kühen halten.» Oder: «Lass doch den Geissbock meckern.» Sie mögen des alten Thalmanns Klagelieder über den Zustand der Welt nicht hören, haben Angst vor seiner Staatsverdrossenheit, die er mit seiner Art von gesundem Menschenverstand exakt begründet. Thalmann hat seine Meinung zum Umweltschutz und zur Landwirtschaft, redet über die Jungen, das Fernsehen, die Familie, über die Städter, den Überfluss und die Zeitungsschreiber, und er hat wohl eine Erklärung, woran es der Welt mangelt: «Ich sage eins: Wenn du die Menschenwärme abschaffst, nur weil sie unrentabel ist, wenn du den Leuten statt einem heimeligen Nest nur Kram und Plunder bietest, und sie dazu dressierst, das Mollige als läppisch zu empfinden, dann musst du dich weiss Gott nicht wundern über unsre Zeit und über all die Wachsfiguren und kalten Krüppel, in deren gähnendem Gemütsloch eine Plastikblase wuchert, gefüllt mit Hass und Angst und falscher Strammheit.» (Der Satz von Robert Walser, den Markus Werner über seinen ersten Roman schrieb – «Zum Warmwerden lag allem Anschein nach keine Ursache vor» – muss auch dem alten Thalmann bekannt sein.)

Sein Sohn, der Franz, um eine Generation illusions- und orientierungsloser, hat einen Hang zum philosophischen Geplauder. Zeitverschoben, ein halbes Jahr nach dem Tod seines Vaters, fabuliert er sich den Frosch von der Seele, über die er meint: «Die Menschenseele mit allem Drum und Dran ist serieller Kitsch. Das Innerste erwirbt sich jeder von der Stange. Nichts von Mysterium, nur Schmalz.»

Wie sein Vater sucht auch er zwischen den Anekdoten, deren Tragikomik ihn als nahen Verwandten des Lehrers Zündel ausweist, nach Allgemeingültigem: «Ich sage nicht, dass man die Welt mit allem Drum und Dran ganz generell verfluchen müsse. Es gibt fürwahr auch Hübsches. Dies zu betonen ist heute schick, ich weiss, ich sage es trotzdem, ich darf es sagen im Gegensatz zu jenen Fahnenflüchtigen, die ihren gestrigen Ekel laut bewitzeln und die sich heute modisch positiv gebärden.» Franz will «in tiefster Seele unversöhnlich bleiben, hellwach und hungrig. Schick alle weg, die dich zu sättigen versprechen; ob sie nun westlich, östlich, himmlisch reden, sie meinen es nicht gut mit dir.» Obschon Vater und Sohn mit ihrer je eigenen Weltverdrossenheit also nicht weit voneinander liegen, ist der Bruch zwischen ihnen doch endgültig. Bei ihrem letzten Zusammentreffen, so erinnert sich der Sohn, dem ein Seitensprung Beruf und Ehe gekostet hat, sagte der Vater nur noch ein einziges Wort zu ihm: «Schandfleck» und er gesteht: «Nachts oft – auch heute noch – die Angst, ein Lump zu sein.»

Was die beiden Thalmanns zu erzählen haben, verfremdet Werner sanft durch rhythmisierte Prosa, in der die beiden ihre Monologe referieren. So kommt es, dass der alte Thalmann eine Kuh beschimpft: «Ist’s wirklich lebenswichtig, dass du immer schiffst, wenn ich dich melk, Spritzkanne du.» Und Franz, der Sohn, beklagt im gleichen Takt, «dass Frauen öffentlich von Schwanzabschneiden reden dürfen und unsereinem nur noch zugestehen, denselben einzuziehen.» Die beiden Herren trifft fürwahr nichts mehr derart direkt, dass sie zum Takt herausfallen würden. Dafür fliesst Werners Sprache selten süffig, geschliffen bis zum Aphorismus jeder zweite Satz. Und wenn ihn seine Bonmots überrollen, wenn er vor lauter Pointen fast aus der Geschichte fällt, dann unterbricht er und notiert diskret: «Ich lüfte.»

Wirklich erstaunlich ist für mich, dass dieses beschaulich kalauernde, verfremdete Geplauder, wenn gegen Schluss beide Thalmanns über den Tod reden, plötzlich Betroffenheit auszulösen vermag. Wenn Franz die aufgerissenen Augen der Toten als letzten Blick auf das eigenen Leben, auf «ein Panorama grandioser Kläglichkeit» interpretiert, dann ist das nicht mehr lustig.  Und wenn Vater Thalmann über den Tod seiner an Leukämie erkrankten Tochter, redet, dann betrifft einem die Betroffenheit des alten kuhmelkenden Klöners auch: «Ich schlafe schlecht, ich träum von Anna, ich sehe ihren kahlen Kopf vor mir und ihre dunklen Wimpern, Vater!, schreit sie, es regnet Grimm auf mich, gib mir doch Trost. – Ich steh gelähmt, und sie verwelkt vor meinen Augen. Anna.»

Wie in «Zündels Abgang» pflegt Markus Werner auch in seinem neuen Buch intimen Umgang mit in präzise Sprache gebundenen Klischees, Vorurteilen und Ressentiments, aber «das könnten Sie dem Autor auch dann nicht übelnehmen, wenn er selbst in einer bestimmten Situation und Verfassung schon so verpönte Sachen gemunkelt haben sollte» (Werner in WoZ 45/1984). Item: Die Texte sind unterhaltend und scharfsinnig gemacht, und es lässt sich gut über sie streiten. Und das ist ja wohl die pädagogische Absicht des Verfassers.

Markus Werner: Zündels Abgang. Roman, Salzburg / Wien (Residenz Verlag) 1984.

Markus Werner: Froschnacht. Roman, Salzburg / Wien (Residenz Verlag) 1985.

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