Franz Böni, Realist

«Franz Böni äussert sich grundsätzlich nicht über sein Werk.» (Luzerner Neuste Nachrichten, 1983)

«Es ist nicht meine Aufgabe, mich mit Journalisten zu treffen und wertvolle Stunden zu verlieren.» (WoZ 2/1984)

«Meine Bilder sind nicht als gebrochenes Schweigen zu verstehen. Sie haben mein Schweigen verstärkt.» (Alle Züge fahren nach Salem, 1984)

«Als freier Künstler zu leben heisst, Ausgestossener, von der Gesellschaft Ausgespuckter sein, ein Aussätziger, ein Geächteter.» (Das Zentrum der Welt, 1987)

«Heute haben die Journalisten eine lockere Beziehung zu mir.» (Im Gespräch, 24.3.1988)

LESUNG. Am 21. März 1988 findet im Puppentheater an der Stadelhoferstrasse in Zürich die erste öffentliche Lesung des Schriftstellers Franz Böni seit vier Jahren statt. «Keine zehn Pferde bringen mich nach vorn ins Scheinwerferlicht, denke ich und spüre entsetzt, wie sich der Boden unter meinen Füssen zu bewegen beginnt.»[1]  Vor den etwa fünfzig Leuten setzt sich Böni ans kleine Tischchen mit der Leselampe, kein Blick ins Publikum, keine Begrüssung. «Man muss ja dann diese negative Erfahrung, die man mit einer Lesung hat, denn eine Lesung ist immer ein negatives Erlebnis – in mehreren Monaten verarbeiten und bewältigen.»[2] Flüchtig fährt seine Hand entlang von Kittel- und Hemdkragen, als müsse er sich Luft schaffen, dann beginnt er mit monotoner Stimme, ruhigem Atem, in stark mundartlich gefärbtem Hochdeutsch aus seinen beiden neuen Büchern vorzulesen. «Starr am ganzen Körper las ich vierzig Minuten lang, ohne vom Gelesenen das geringste zu realisieren.»[3] Wie er schreibt, so liest Böni: Er schlägt einen Ton an und hält ihn endlos, nichts entwickelt sich, keine rhetorischen Höhepunkte, nichts, was hier und jetzt gesagt werden müsste. Wozu auch? Wenn wenigstens das Fernsehen da wäre, dann bestunde «die Möglichkeit, dass mindestens ein Mensch unter den Zuschauern ist, der versteht.»[1] Aber so. Auf ausdrücklichen Wunsch des Dichters keine Diskussion nach der Lesung. «Franz Böni äussert sich grundsätzlich nicht über sein Werk.»[4] Hingegen signiert er, auf Wunsch, seine neuen Bücher «Wie die Zeit vergeht» und «Die Residenz», Publikationen Nummer 13 + 14 seit 1979. «Ich schlich weg, (…) ich konnte kein Wort hervorkriegen (…) Die verkrampften Nerven zogen sich wie glühende Drähte über meinen Körper, den Bauch hoch brannte der Solarplexus.»[3]

GESAMTWERK. Bönis Gesamtwerk von mittlerweilen 14 publizierten Büchern gliedert sich in vier Komplexe. Das «frühe» erzählerische Werk umfasst die Romane «Schlatt» und «Die Wanderarbeiter» (Suhrkamp 1980 + 1981) sowie die Erzählbände «Ein Wanderer im Alpenregen», «Der Knochensammler» und «Alvier» (Suhrkamp 1979, 1980 + 1982). Dann gibt es drei Bände mit Aufsätzen, Aufzeichnungen und Materialien: «Sagen aus dem Schächental», «Das Zentrum der Welt» (Ammann 1982 + 1987) sowie «Die Fronfastenkinder» (Suhrkamp 1985). Dann der Franz-Kramer-Komplex, die Welt des «Residenz»-Romans (Ammann 1988): Hierzu gehören die Erzählbände «Hospiz» und «Der Johanniterlauf» (Suhrkamp 1980 + 1984), die Böni heute lediglich noch als Vorstufen zum Roman betrachtet und deshalb nicht zum Gesamtwerk rechnet. Als vierter Komplex die Welt des Adrian Nowak, die Trilogie «Die Alpen», mit dem Pilatus-Teil «Wie die Zeit vergeht» (Rauhreif Verlag 1988), dem Gotthard-Teil «Die Alpen» und dem Säntis-Teil «Alle Züge fahren nach Salem» (Suhrkamp 1983 + 1984).

RESTAURANT KUNSTHAUS ZÜRICH, 24. März 1988: Auf die Minute pünktlich kommt Franz Böni mit offenem Mantel und hochgeschlagenem Kragen über den Platz vor dem Zürcher Kunsthaus geschlendert. Er hat zehn Jahre lang keine Lesungen und keine Interviews gegeben, weil er die dummen Fragen nach autobiografischem Klatsch habe verweigern wollen: «Es geht um das Werk.» Meine Versuche, ihn in die Widersprüchlichkeiten seiner Position als «Dichter» zu verstricken, amüsieren ihn. Wird ein Widerspruch offensichtlich, beginnt er nicht zu argumentieren, sondern zu lachen: Böni hat ein helles, offenes Lachen. Als ein alter Mann mit graumeliertem Haar an unserem Tischchen vorbei geht, sagt Böni: «Der sieht aus wie Ludwig Hohl.» Nach vierstündigem Gespräch schweift mein Blick hinüber zu den Trams. die über den Heimplatz kurven. Als ich mich wieder zu konzentrieren versuche, merke ich, dass Böni mich die ganze Zeit beobachtet hat: «So werde ich durch das Leben ziehen als ein Beobachter, ein Beobachter allerdings, dass Gott erbarm.»[5] Dann macht er, gut gelaunt, einen Titelvorschlag für meine Geschichte über ihn: «Schreiben Sie ‘Franz Böni – Outlaw der Schweizer Literatur’.»

REZEPTION. Für Rolf Michaelis ist Bönis «Phantasie-Land» eine «Alptraum-Schweiz», in der sich Gestalten bewegen, die «sich jeder Fixierung durch Arbeit, festen Wohnsitz, erotische oder familiäre Bindung» entziehen.[6] Als Bönis «grosses und einziges Thema» nennt Samuel Moser «Abgeschiedenheit, Vereinsamung, Enge und Ausweglosigkeit»: «Alle Texte Franz Bönis führen in die Vereinsamung, Desillusionierung, Enttäuschung.»[7] Ulrich Horn konstatiert «zwei Symbolkomplexe», die in Bönis Werk regelmässig auftauchen: «Die Eisenbahnen und die Rangierbahnhöfe, mit ihrem für den einzelnen undurchschaubaren System von Abwicklungen und Arbeitsvorgängen und die Figur des Händlers und Hausierers, der in abgelegenen Tälern und weltabweisenden Orten seine Geschäfte betreibt.»[2] In letzter Zeit ist Bönis langwieriges Auswringen seiner Themen, Motive und Materialien, seine Taktik des häppchenweisen Publizierens grösserer Arbeiten («Residenz», «Alpen»-Trilogie) verschiedentlich kritisiert worden: «Ist das nun Treten an Ort oder Gehen im Kreis? Ich möchte endlich wieder einmal etwas Neues lesen von diesem Künstler.» (Erika Wittwer)[8]

BÖNIS 36-STES JAHR. Ulrich Horn über Böni: «Er will nicht mehr schreiben. Das schriftstellerische Lebenswerk hält er nach zwölf Büchern für abgeschlossen.»[9] – «Das hat Horn verdreht», sagt Böni jetzt. Journalisten brauchten halt einen Aufhänger, um zu schreiben. Vermutlich habe er etwa gesagt: Wenn er keinen Verlag mehr finden würde, dann… Was stimme: Zur Zeit habe er kein Bedürfnis und keine Lust zu schreiben. Jetzt gehe er nach Wien, wo ihm die Stadt für ein Jahr eine Wohnung zur Verfügung gestellt habe. In Wien wolle er im Prater auf die Achtibahn. Was auch stimme: Sein Früh- und sein Hauptwerk seien jetzt geschrieben. Ohne finanzielle Garantien – Werkjahre, Stipendien – schreibe er gar nichts mehr. Allerdings seien von ihm zur Zeit noch drei Manuskripte unveröffentlicht: «Auf 15 Bücher käme ich, auch wenn ich ab heute nichts mehr schreiben würde.» Am 17. Juni wird Böni 36. Dieses Alter sei wichtig für einen Schriftsteller. Es bedeute, dass man auf dem Höhepunkt sei, von jetzt an gehe es abwärts. Darum sei für ihn jetzt eine Schreibpause nötig: «Ich muss etwas ganz Neues anfangen. ich schreibe nie mehr über Wanderer und Hausierer.» Ob er – wie Hölderlin – mit 36 schweigen wolle? Eigentlich würde er auch gern in einen Turm ziehen und schweigen, aber Hölderlin sei privilegiert gewesen: Er, Böni, könne ja nicht zur Stadt gehen, sich als Sozialfall bezeichnen und eine Rente beantragen: «Es gibt kein romantisches Dichterleben mehr.»

«ALPEN»: NOWAK. Die Trilogie «Wie die Zeit vergeht» (1988), «Die Alpen» (1983) und «Alle Züge fahren nach Salem» (1984) umfassen die ersten dreissig Lebensjahre des im Suhrental am Sempachersee aufgewachsenen Adrian Nowak. Nowak meint ein mindestens teilweise autobiografisches Ich, das einige von Bönis Lebensstationen – Suhrental, Rom, Zürich, Zug, Zürich – nachvollzieht. Der nun erschienene dritte Teil ist der chronologisch früheste, der Nowaks Kindheit und Jugend umfasst, seinen Aufenthalt in Rom, wo er bei einem Erfinder arbeitet, seine Irrfahrt durch Norditalien und die Rückkehr in die Schweiz.

BÖNIS DICHTERLEBEN. Franz Böni hat im Zürcher Seefeldquartier in einer 600fränkigen 1-Zimmer-Wohnung überwintert. Damit er abends nicht ausgehen und Geld brauchen muss, hat er sich einen Fernseher angeschafft: «Am Abend muss ich mich erholen, wenn ich zehn Stunden in der Stadt herumgeschlichen bin.» Ob er keine Besuche mache? «Ich habe keine Leute in Zürich.» Renato Arlati, ja, aber der sei abends oft in der Stadt unterwegs, und Silvio Blatter, der habe Frau und Kinder. Aber immerhin habe er drei seiner neueren Bücher drei verschiedenen Frauen gewidmet: «Das hat nichts zu sagen.» Also immer allein vor dem Fernseher? «Ich bin froh, wenn abends keine Leute vorbeikommen. Ich habe Menschen eben nicht gern.» So? «Originale schon, interessante Handwerker, Individuen, aber nicht die anonyme Masse in der Stadt.» Und mit Leuten zu verkehren, die die eigenen Auffassungen nicht teilten, sei sowieso sinnlos. Ob er vom Schreiben leben könne, nach vierzehn publizierten Büchern? «Finanziell geht es mir immer gleich schlecht», sagt Böni, «zum Beispiel die ‘Alpen’ und ‘Salem’ wollte ich gar nicht schreiben – auf jeden Fall nicht jetzt –, aber ich musste, weil ich kein Geld hatte, um mir die langwierige Arbeit an der ‘Residenz’ finanzieren zu können.» trotzdem verneint er meine Frage, ob sich der Widerspruch auf sein Werk ausgewirkt habe, dass er sich zwar dem Literaturbetrieb weitgehend verweigert, aber gleichzeitig ökonomisch weitestgehend ausgeliefert habe. «Schreiben ist für mich ein Hobby.» Was er denn von Beruf sei? «Kaufmann.» (Böni hat ursprünglich das KV gemacht, ab 1973 in Zug ein kleines Geschäft betrieben.) Schriftsteller sei kein Beruf; wenn man acht Stunden in die Fabrik gehe zum Beispiel, sei das ein Beruf. Später sagt Böni: «Ich habe ein hochentwickeltes Berufsethos, ich schreibe keinen Schund. Bei mir stimmt jeder Satz, jedes Wort.»

«RESIDENZ»: ENTSTEHUNG. «Böni bezeichnet alles, was bisher von ihm erschien, nur als ‘Abfallprodukt’ auf dem Weg zu seinem grossen Roman ‘Die Residenz.»[10] «Dieser Roman soll alle seine bisher schon behandelten Themen in konzentrierter Form aufweisen, soll alle Elemente der Bönischen Welt in einem gedrängten Werk zusammenfassen».[2] Für Böni ist «Die Residenz» sein «Hauptwerk». An diesem Roman habe er zehn Jahre gearbeitet, sagt er: «Natürlich kann man auch in zehn Jahren nicht alles schildern, was Franz Kramer auf seinen Reisen und Wanderungen in der Residenzstadt erlebte. Und vielleicht ist der Roman eine Geschichte ohne Ende. Ein Werk, hervorgegangen aus gleichwertigen Werken, ähnlich jenem Madonnenschnitzer, der sein Leben lang immer die gleiche Statue schnitzte und bei der letzten ausrief: Diese eine Madonna ist es, diese wollte ich immer schnitzen.»[11] Trotzdem ist gerade «Die Residenz» beim Suhrkamp-Verlag, der innert sieben Jahren zehn Böni-Titel verlegt hatte, auf Eis gelegt worden. Den Grund dafür gab Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld dem Kulturjournalisten Günther Fässler schriftlich: «Wir können mit dem Substanz mit seiner immer umfangschwächer werdenden Texte nicht mehr zufrieden sein.» (Originalorthografie Unselds)[12] Böni zog den Roman zurück und bot ihn dem Ammann Verlag an. Dieser hat «Die Residenz» nun auf diesen Frühling herausgebracht. Was den Verleger Unseld offenbar geärgert hat: 1984 hatte er Bönis Bändchen «Der Johanniterlauf – Fragment» veröffentlicht, der mit folgender Danksagung schloss: «Der Johanniterlauf und Hospiz, Teile II und I des Werkes ‘Die Residenz’, wurden ohne Förderung von 1976 bis 1983 geschrieben, dank der moralischen Unterstützung des Suhrkamp Verlages, Frankfurt.» Jetzt wollte er, vier Jahre später, mehr als einen Drittel des bereits Gedruckten als «Die Residenz» neu herausbringen. In der Tat entsprechen die ersten 72 Seiten des nun publizierten Hauptwerks dem Inhalt des «Johanniterlaufs», redaktionell zwar überarbeitet, aber ansonsten unverändert. (Die Erzählung «Hospiz» taucht in der Endfassung der «Residenz» nicht mehr auf. Eine neue «Hospiz»-Fassung, in der Böni den fragmentarischen Charakter des Textes in eine abgerundete Novelle überführt habe, liegt zur Zeit dem Ammann Verlag vor.)

BÖNIS PUBLIKUM. «Zielpublikum? Ich schreibe für die Arbeiter, aber die lesen keine Bücher», sagt Franz Böni. Er habe einmal geschrieben: «Um nicht krank zu werden, begann ich so, ich war einundzwanzig, Erzählungen zu schreiben, als Antwort an meine Freunde.»[13] Wer denn diese Freunde seien? «Ich schreibe für verstorbene Dichter. Ich hab mich immer nur an Dichter wie Gustav Meyrink oder Joseph Roth gewendet. So beweise ich, dass ich ihr Werk verstanden habe.» Und Robert Walser? Er habe doch einmal geschrieben: «Kein Zweifel, ich hatte Robert Walsers Platz eingenommen und musste sein Werk weiterführen.»[14] Diese Formulierung habe er lediglich auf Walsers gesellschaftliche Stellung bezogen: «Ich habe nicht gern langweilige Bücher.» Für die Kritik schreibe er ja wohl zuallerletzt? Ende Jahr schicke ihm der Verlag jeweils einen Stoss Rezensionen, manchmal blättere er sie durch, manchmal werfe er sie gleich weg, die seien ja nicht für ihn geschrieben. «Richtig verstanden werden meine Bücher sowieso nur von Dichterkollegen, von Josef Winkler, Peter Handke, Peter Rosei.» Die Kritik habe jetzt, zehn Jahre nach seinem ersten Buch, noch nicht die Hälfte von seinen Texten verstanden. Zum Beispiel der Roman «Schlatt»: Kein Mensch habe bis jetzt gemerkt, dass der Protagonist Franz Zuber seine ausgedehnten Wanderungen hinten im Tösstal, zwischen Tössstock und Schnebelhorn, unternehme, auf der Grenze zwischen der lieblichen Hügellandschaft des katholischen St. Gallen und den schroffen, kalten Krächen des Tösstals im protestantischen Zürich. Diesen Roman der Grenzüberschreitungen habe er für diese Gegend geschrieben. – Ob es denn nur eine richtige Lesart von Büchern gebe? «Die Bücher der grossen Dichter kann man nicht endgültig verstehen. Vieles ist Vision.» Ob es hierzu Beispiele gebe in seinem Werk? – Bereits 1970 habe er geschrieben, dass sich in Zürich aus Protest jemand verbrenne («In der Nacht ist er an den Rand der Stadt geflüchtet. im Morgennebel zündete er sich an und rannte als brennende Fackel durch einen abgeholzten Rebberg»[15], zehn Jahre später sei es dann wirklich geschehen. (Böni hat das in «Die Alpen» rapportiert: «Selbstverbrennung eines weiblichen Mitglieds der kämpfenden Jugendbewegung in einer Telefonzelle. Zuerst hatte Silvia, 24, eine Zeitungsredaktion angerufen, war dann brennend auf den Platz hinausgerannt.»[16])

«RESIDENZ»: KRAMER. Bönis Protagonist in der «Residenz», Franz Kramer, wächst auf dem grossväterlichen Hof in Toblach auf. Früh bewirbt er sich im Schloss der fernen Residenzstadt als Kanzleischreiber. Nach einem langwierigen Briefwechsel, der vag bleibt und abbricht, begibt sich Kramer auf die weite Reise nach Despina (nach Böni von ‘destino’ – Schicksal), der Residenzstadt, um seine Sache vorwärtszubringen. Im Schloss beginnt er zuunterst, als Arbeiter auf der Rampe; später wird er Schreiber, noch später Kanzlist: Obschon einer bescheidenen Karriere am Schluss des Buchs nichts mehr im Wege steht, verlässt er das Schloss und kehrt aufs Land zurück. Er fühlt sich «alt und müde, als müsste er in Rente gehen» und ist «masslos enttäuscht», wenn er «über sein Leben» nachdenkt.[17] – Die Romanwelt der «Residenz ist hermetisch. Zwar gibt es den Ort Toblach, in dem Kramer aufwächst, wirklich: auf der italienischen Seite des Pustertals zwischen Bozen und Lienz. Zwar verweist auch die Erwähnung des Karnierlands, der julischen Berge oder die Schilderung von klimatischen und geografischen Eigenheiten auf die Alpenregion zwischen Österreich, Italien und Jugoslawien. Zwar erwähnt Kramer einmal, dass er 1951/52 die Ausbildung absolviert habe, also damals knapp zwanzig war; am Schluss des Buches ist er dann 38.[18] Trotz solcher Hinweise macht es aber keinen Sinn, sich bei der Lektüre eine Dolomitenregion zwischen 1930 und 1970 zu denken. Böni entwirft eine ortlose und a-historische Kunstwelt aus Chiffren, die aus zerbrochenen Raum- und Zeitfragmenten Kramers brüchige Welt zusammenschiessen lassen.

BÖNIS REALISMUS. «Kafka oder Thomas Bernhard sind totale Egomanen. Sie haben nie über Menschen geschrieben. Sie hat immer nur ihre eigene Vereinsamung interessiert. Ich dagegen bringe das Volk, die Minderheiten zur Sprache», sagt Franz Böni. Aber seine Darstellung von Minderheiten sei doch oft klischiert, z.B. die Zigeunermutter in der «Residenz»: «Eine keifende Zigeunermutter schrie mit einem kleinen Mädchen. Immer wieder lockte sie süsslich, zerrte es plötzlich an den Haaren zu sich her und schlug ihm die Faust ins Gesicht; blitzwütig wie eine Giftschlange. Wer dem Teufel eine Gestalt geben wollte, müsste diese als Zigeunermutter darstellen, dachte Kramer. Jahrelang vom Gatten ausgepeitscht, züchtigte sie nun ihr Kind.»[19] Diese Passage kolportiere doch auf perfide Art das Rabenmutter-Vorurteil, das gegen fahrende Mütter oft vorgebracht werde. Böni: «Dieser Abschnitt ist eine realistische Schilderung, das hab ich so gesehen. Was ich schrieb über Minderheiten, ist egal, Hauptsache, sie kommen vor.» Aber eine solch zufällige Episode könne man doch nicht 1:1 abbilden, wenn man davon ausgehen müsse, damit einer ganzen Minderheit zu schaden. «Ich schade den Zigeunern nicht. Zigeuner sind keine Heiligen. ich bin kein Romantiker, sondern ein Realist. Es ist mir egal, ob ein Bonz oder ein Zigeuner sein Kind schlägt. Ich beschreibe, dass es geschlagen wird, wenn ich es sehe.» Immerhin könne diese Passage auch als sein ungefiltertes Ressentiment gegenüber Fahrenden gelesen werden. Böni: «man kann keine Bücher schreiben, wenn man an die denkt, die sie falsch verstehen wollen.»

«RESIDENZ»: METAPHERNGESTÖBER. «Es ist mein Ziel, Sprache und Inhalt meiner Bücher in eine Einheit zu bringen.»[20] Diesen Anspruch hat Böni in der «Residenz» passagenweise auf verblüffende Art erfüllt. Die zerbrechende Wahrnehmung in einer zerbrochenen Welt ist nicht nur der Inhalt des Buches; diese Brüche werden mit Sprache und Darstellungsweisen fortwährend nachgebildet: Gleichzeitig wird die Roman-Zeit gerafft (beschleunigte Abfolge von Jahreszeiten, später Jahren), zerdehnt (die Reise in die Residenzstadt dauert trotz Eisenbahn und Autobus etwa anderthalb Jahre), zerbrochen (historisch Ungleichzeitiges findet gleichzeitig statt, etwa wenn Kramer mit einer bimmelnden Strassenbahn zu einem Vorstellungsgespräch in einen Elektronikbetrieb fährt) oder umgekehrt (als Kramer mit einer Dampflokomotive reist, stehen auf Abstellgeleisen verlassen rostige Züge: «Allein sechzehn Krokodillokomotiven zählte er.»[21]) Zerbrochen auch die Wirklichkeitswahrnehmung: Schüleraufsatzhafte Landschaftsbeschreibungen wechseln mit kafkaesken Versagenssituationen (etwa wenn Kramer auf einer Wanderung ein düsteres Kloster betritt und plötzlich in einer mächtigen Halle vor einer grossen Menschenmenge «sein Anliegen vortragen» soll: Er kann es nicht.) Kramer begegnet KZ-ähnlichen Industrieanlagen, in denen «Erschöpfte liegengelassen, Tote Halden hinabgerollt» werden[22]; er trifft auf der Strasse einen deutschen Prinzen, trifft Schlossgespenster in Ritterrüstungen; und betritt er einen neuen Raum, begegnet er einem Alchimisten oder geheimnisvollen Holzröhrenbauern in unterirdischen Werkstätten. Bönis Kramer bewegt sich durch ein labyrinthisches raumzeitliches Metapherngestöber voller Kanten und Brüche; er wechselt Wirklichkeiten wie andere Leute Kleider.

BÖNIS WELTANSCHAUUNG. «Ich habe keine Weltanschauung, ich bin ein Geniesser.» Was ihn denn mehr störe, wenn ich ihn als Linken oder als Freisinnigen tituliere? «Ich bin ein Poet. Ein Poet weiss nicht, dass es verschiedene politische Parteien gibt.» Aber immerhin schreibe er auch kritisch, die Fabrikdarstellungen in den «Wanderarbeitern» zum Beispiel. «Wenn alles in Ordnung wäre, würde ich nie negativ schreiben. Im übrigen schreibe ich über Menschen, nicht über Politik. Es ist mir egal, warum es den Menschen schlecht geht; ob sie in einer Diktatur, einer Demokratie oder einer Monarchie leben, ist mir egal. Nur dass die Leute sagen: ‘Ich bin vereinsamt’ zählt. Die Ursachen interessieren niemanden. Die Analysen der Ursachen nützen nichts. Es hat mit Intelligenz zu tun, das man erkennt, dass man keine Chance gegen den Gegner hat, gegen Banken, Versicherungen. Wehren bringt nichts, im Gegenteil, wehren macht einen nur kaputt. Seit zwanzig Jahren wird in Zürich nun für ein Jugendhaus gekämpft. Es gibt aber auch heute noch keines.»

Franz Böni: Die Residenz. Roman, Zürich (Ammann Verlag) 1988.

Franz Böni: Wie die Zeit vergeht, Zürich (Rauhreif Verlag) 1988.

[1] Dichterlesung, in: Franz Böni: Sagen aus dem Schächental, Zürich (Ammann Verlag) 1982, 94.

[2] Ulrich Horn: Ein Porträt, in: Franz Böni: Die Fronfastenkinder, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985, 82.

[3] Lesereise, in: Franz Böni: Sagen aus dem Schächental, Zürich (Ammann Verlag) 1982, 98.

[4] Luzerner Neuste Nachrichten, 6.8.1983.

[5] Franz Böni: Die Alpen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983, 117.

[6] Rolf Michaelis: Laudatio zum Bremer Literaturpreis 1982, in: Franz Böni: Sagen aus dem Schächental, Zürich (Ammann Verlag) 1982, 131 ff.

[7] Samuel Moser: Natur und Fabrik – Zum Werk Franz Bönis, in Franz Böni: Alvier, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982, 137 ff.

[8] Tages-Anzeiger, 21.1.1988.

[9] Frankfurter Rundschau, 10.10.1987.

[10] Die Woche, 22.1.1982.

[11] Franz Böni: Das Zentrum der Welt, Zürich (Ammann Verlag) 1987, 134.

[12] Berner Zeitung, 10.10.1987.

[13] Ablass, in: Franz Böni: Sagen aus dem Schächental, Zürich (Ammann Verlag) 1982, 89.

[14] Zum 100. Geburtstag von Robert Walser, in: Franz Böni: Sagen aus dem Schächental, Zürich (Ammann Verlag) 1982, 100.

[15] Stromer – Stück, in: Franz Böni: Sagen aus dem Schächental, Zürich (Ammann Verlag) 1982, 15.

[16] Franz Böni: Die Alpen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983, 111.

[17] Franz Böni: Die Residenz, Zürich (Ammann Verlag), 1988, 187 + 196.

[18] Franz Böni: Die Residenz, Zürich (Ammann Verlag), 1988, 151 + 187.

[19] Franz Böni: Die Residenz, Zürich (Ammann Verlag), 1988, 132.

[20] Franz Böni, in: Der Beobachter Nr. 21/1983.

[21] Franz Böni: Die Residenz, Zürich (Ammann Verlag), 1988, 144.

[22] Franz Böni: Die Residenz, Zürich (Ammann Verlag), 1988, 105.

Die Fussnoten sind im Zeitungsdruck weggelassen, respektive teilweise in den Lauftext hineinredigiert worden. Das Typoskript, nach dem die Fussnoten hier wieder ausgegliedert und vervollständigt worden sind, trägt die Datierung: «31.3.1988».

Böni hat diesen Text ohne Rücksprache mit mir nachgedruckt in: Franz Böni: Gruss aus der Hollywoodschaukel. Ein Lesebuch 1974 bis 2004, Vaihingen/Enz (iPa Verlag) 2005, 128-139. Ein Jahr zuvor war er beim Abdruck der«Briefe an Franz Böni» gleich vorgegangen. Damals hatte ich ihn – wie am Schluss jenes Textes dokumentiert ist – in einem Brief verärgert darauf hingewiesen, dass er mein Urheberrecht am Text verletzt habe. Da Böni noch nicht dazu gekommen ist, diesen Brief vom 11. März 2004 zu beantworten, warte ich im Moment noch zu, ihn darauf hinzuweisen, dass er mit dem Nachdruck von «Franz Böni, Realist» erneut mein Urheberrecht verletzt hat. Stressen will ich ihn ja nicht. Dichter sind sensibel. 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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