Eine Sekte will den Papst ermorden

«Frag nie, warum. Hört auf, zu sein.» Das ist das Motto der Sekte der «Namenlosen» in Hansjörg Schertenleibs neuem Roman. Unter der Führung des Charismatikers Fisnish bereiten sich ihre Mitglieder im Sommer 1996 in Südfrankreich und Irland mit Selbstkasteiungen und Terroranschlägen gegen katholische Gläubige und Priester auf den grossen Schlag vor: die Ermordung von Papst Johannes Paul II. Mitglied der international zusammengewürfelten Gruppe ist die Ich-Erzählerin Christa Notter. Sie stammt aus Luzern, ist 40 und wie alle Gruppenmitglieder voll abgründigen Hasses gegen die Kirche: Mit 16 war sie von einem Vikar geschwängert und anschliessend von einem Pfarrer gezwungen worden, das Kind zu gebären und es zur Adoption freizugeben.

Schertenleib lässt seine Protagonistin die Geschichte auf zwei Ebenen erzählen: ihre chronologischen Aufzeichnungen sind mit Passagen aus Briefen durchsetzt, die an ihre unbekannte eigene Tochter gerichtet sind. Dazu kommen auf einer weiteren Ebene Abschnitte, die der kurzzeitige Liebhaber von Christa Notter beifügt, als er die Aufzeichnungen nach deren Tod findet. Diese Konstruktion wirkt nicht immer gleichermassen zwingend, erlaubt aber auf den Schluss hin eine eindrückliche dramaturgische Beschleunigung, die in der Zusammenführung sämtlicher Handlungsstränge kulminiert.

Nach seinem erfolgreichen Roman «Das Zimmer der Signora» ist Hansjörg Schertenleib 1996 nach Irland ausgewandert. Mit seinem neuen Roman zeigt er, dass seine hervorragende Tugend die alte geblieben ist: Er ist als schriftstellerischer Profi ein seriöser Handwerker. Wenn er konstruiert, dann konstruiert er sauber und bevor er schreibt, recherchiert er. So fängt er erzählend ein Stück Welt ein, von dem man ihm glaubt, dass er es selber sah, bevor er darin seine Figuren aussetzte. Stilistische Schwächen hat der Text, wo er die seelischen Abgründe der Sektenmitglieder nachzeichnen will, die im Rachewahn immerhin der göttlichen Gerechtigkeit nachhelfen, indem sie mit Vorliebe Pfaffengurgeln durchschneiden. Hier stösst Schertenleibs ein bisschen brav gedrechselte Sprache an ihre Grenzen: Sie zeichnet äussere Landschaften überzeugender als innere. Aber der Roman ist über weite Teile spannend zu lesen und eine gute Unterhaltung.

Hansjörg Schertenleib. Die Namenlosen. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2000.

In der WoZ war die Kurzrezension mit der Abbildung des Buchcovers, aber ohne Titel aufgemacht. – Ein Porträt des Autors Hansjörg Schertenleib aus Anlass seines ersten Buches, «Grip» (1983), findet sich hier.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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