«Es braucht mehr als Parolen»

Zuoberst auf dem roten Kran des Deutschen Bernd Schlemmer flattert eine Schweizer Fahne im Wind. Eine grosse Baustelle mitten im Dorf: Hier entsteht die Mehrzweckhalle von Bäretswil (ZH). Unten, im grossen Loch, schaufelt ein kleiner Bagger morastig verklebtes Geröll in die Mulde. Mit umgehängtem Steuerungskasten steht Schlemmer am Rand des Lochs. Kaum wahrnehmbar dirigieren seine Finger an den Knöpfen das Kranseil. «Ich liebe das Kranfahren», sagt er. Unten hängt ein Kollege die Mulde ans Seil. Sanft hebt sie ab, schwebt senkrecht in die Höhe, dann über den Bauplatz hinüber zum Geröllberg, der neben dem Loch stetig wächst.

Zeit zu erzählen hat Schlemmer nur während der Mittagspause im Dorfcafé. Im Zürcher Oberland werden Arbeitszeiten exakt eingehalten. Mehr noch: «Hier sagt keiner was, wenn fünf oder zehn Minuten länger gearbeitet wird oder wenn die Mittagspause nur fünfzig Minuten dauert.»

Hallo, ich bin der Kurt

In die Schweiz gekommen ist er als Baumaschinenmeister für Hochbaukrane, der auch schon einen 120 Meter hohen Kran mit einem 85-metrigen Ausleger gefahren hat. Trotzdem hat man hier nur allmählich Vertrauen gefasst in seine beruflichen Fähigkeiten. «In der Schweiz» sagt er, «begreifen viele nur langsam, dass hier Leute aus dem Ausland arbeiten, die viel können und viel tun.» Das zeige sich auch in den Qualifikationseinstufungen, wo man den Eindruck haben könnte, «aus dem Ausland kämen nur Un- und Angelernte». Für ihn ist klar: «Wer eine entsprechende Lehre abgeschlossen hat, der gehört auch entsprechend eingeteilt, egal woher er kommt.»

Das erste, was er von der Bauarbeitergewerkschaft gehört hat, lautete ungefähr: Die Unia sei «Scheisse», dort gebe es sowieso nur Ausländer. Das hat ihn neugierig gemacht. Er hat den Unia-Sekretär Andreas Scheu kennengelernt, und der hat ihn überzeugt mitzuarbeiten. Unterdessen gehört er zum Vorstand der Sektion Zürcher Oberland.

Seither lernt er gewerkschaftliche Probleme kennen, die er aus Deutschland so nicht kennt: zum Beispiel die Schwierigkeit, wegen der Mehrsprachigkeit überhaupt an die Leute heranzukommen. Oder die starke Identifizierung der Arbeitnehmenden mit den Firmen und den Chefs: «Wenn man sich seit der Schulzeit kennt, kann es schon schwierig sein, gegenüber dem Chef zu gewerkschaftlichen Forderungen zu stehen. Da gibt es einen grossen Unterschied zwischen mittelständischen Unternehmen auf dem Land und städtischen oder Grossbetrieben.» Dort interessiere es nicht, wenn der Chef sage: «Hallo, ich bin der Kurt», dort interessiere, was auf dem Lohnzettel stehe, wie die Firma organisiert sei und wie der Arbeitsplatz genau aussehe. Im Zürcher Oberland sei man zwar schnell per du mit dem Chef, dafür habe er noch keine einzige Baustelle angetroffen, auf der es fliessendes warmes Wasser zum Waschen gegeben habe.

Ein weiteres Problem: Auf den Baustellen hier gibt es keinerlei gewerkschaftliche Präsenz, kein Plakat, kein Mitteilungsblatt zu den Gesamtarbeitsverträgen, nichts. In Deutschland sei das üblich. Dafür kennt er hier unterdessen Baufirmen, in denen gilt: «Redest du mit dem Gewerkschafter, dann bist du fällig. Und stellst Du Forderungen, dann kriegst du die Kündigung ‘aus wirtschaftlichen Gründen’.»

Am Anfang ist die Bildung

Mit seinem Arbeitgeber hat Schlemmer Glück. Das Bauunternehmen Hirzel sei «sehr kooperativ», sagt er, und sein Gewerkschaftsengagement werde akzeptiert: «Aber viele Unternehmer in der Schweiz müssen erst noch lernen, dass Gewerkschafter in den Betrieben nicht Störefriede, sondern Sozialpartner sind.» Das erfordere aber auch, «dass die Arbeitnehmer wissen, wovon sie sprechen: Man soll von keinem Gewerkschafter zu Recht sagen können, er rede dummes Zeug.»

Darum, ist Schlemmer überzeugt, müssen die Aktivisten und die gewerkschaftlichen Vertrauensleute auf den Baustellen besser informiert und ausgebildet werden: «Man muss ihnen erklären, warum die Dinge so sind, wie sie sind; warum sich die Gewerkschaft zum Beispiel gegen individuelle Löhne wehrt, und warum sie vor prekären Arbeitsplätzen warnt.»

Die erste Veranstaltung, die er als Zuständiger für Bildung im Sektionsvorstand organisiert hat, war ein Vortrag mit Diskussion über prekäre Arbeitsplätze. Referent war der neue Unia-Chef Andreas Rieger. Vertieftes Wissen bis in betriebswirtschaftliche Fragen hinein sei nötig, sagt Schlemmer, denn: «Es braucht mehr als Parolen. Wenn die Gewerkschafter in den Betrieben kompetent auftreten, werden sie von den Arbeitgebern eher akzeptiert. Das ist der Weg, den die Unia gehen muss.»

 

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Politiker mit viel Muskeln

Bernd Schlemmer wurde 1962 in Dernbach, Westerwald (D) geboren. Matur als Austauschschüler in Valparaiso bei Chicago (USA). Studium in Koblenz, Ausbildungen zum Baumaschinenmeister für Hochbaukrane, zum Maschinenbauingenieur und zum Baukoordinator für Sicherheit und Gesundheit; Zusatzausbildung in Management im Sozialwesen.

Zwischen 1992 und 2005 lebt er in Berlin, in dieser Zeit als PDS-Mitglied im Ausschuss der Stadtteilregierung von Moabit, zuständig für Arbeit und Soziales. Als im Mai 2005 eine schweizerische Arbeitsvermittlungsagentur, mit der er zusammenarbeitet, dringend einen Kranfahrer sucht, vermittelt er sich selber.

Im Vorstand der Unia-Sektion Zürcher Oberland ist er verantwortlich für Vertrauensleute und Bildung, zudem ist er Präsident der Fachgruppe Bau und der IG Migration. Schlemmer wohnt in Wetzikon, arbeitet 100 Prozent und verdient 6300 Franken brutto (Lohngruppe A). Als früherer Bundesliga-Ringer betreibt er heute in der Freizeit intensiv und «mit Ehrgeiz» Bodybuilding.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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