Angenommen, Nestlé käme

Geht man die Chefeligasse hinauf bis zum alten Chefiturm und biegt dort links in die Dorfmattstrasse ein, steht man nach einigen Schritten vor einem modernen Bau. Das ist die Gemeindeverwaltung von Seftigen (BE). Im Sitzungszimmer im ersten Stock setzen sich  Peter Mathys und  Adolf Balmer zum Gespräch nebeneinander. Der Stuhl oben am Tisch bleibt leer.

Balmer ist als Maschinen- und Umweltingenieur Mitinhaber der Anlagebaufirma Wirtech im benachbarten Uetendorf, und wenn er nachdenkt, spielen seine Finger mit dem Haar, das er sich über den Kragen hinunter hat wachsen lassen. Mathys trägt einen gepflegten Schnurrbart und die Haare kurz, ist Projektleiter für Beleuchtung und Stromverteilung beim Beschaffungs- und Technologiezentrum des VBS, der Gruppe für Rüstungsdienste, die neuerdings «armasuisse» heisst. Balmer ist Mitglied der SVP, seit vier Jahren Gemeinderat von Seftigen und zuständig für Wasser, Abwasser, Strassen und Umwelt. Mathys ist Sozialdemokrat, Gemeinderat seit 1991 und seit gut zehn Jahren Gemeindepräsident im Dorf, zu seinem Ressort gehören Ortspolizei, Raumplanung und Verkehr.

Ein B-Geschäft für den Gemeinderat

Die Geschichte, warum der Gemeinderat das Dorf letzthin zur «Gats-freien Gemeinde» (siehe Kasten) erklärt hat, ist schnell erzählt: Aufgetaucht ist die Idee, die Kampagne zu unterstützen, in der Umweltschutzkommission, deren Mitglied  Balmer als Umweltzuständiger des Gemeinderats ist. Die Kommission hat einen Antrag formuliert, Balmer hat ihn in den Gemeinderat eingebracht,  Mathys hat ihn als «B-Geschäft». traktandiert. 

B-Geschäfte sind solche, zu denen sich die Räte lesend eine Meinung bilden; diskutiert wird nur, wenn die Diskussion verlangt wird. Beim Traktandum «Gats-freie Gemeinde» war eine vorformulierte Motion zu lesen, in der gefordert wird, dass im General Agreement on Trade Services (Gats) keine Regelungen getroffen werden, «welche die Kantons- und Gemeindeautonomie bei der Sicherstellung der Basisdienstleitungen untergraben». In der Begründung der Motion wird zudem festgehalten, dass das, was man bisher über die Gats-Verhandlungen weiss, das «Subsidiaritätsprinzip» infrage stelle, «indem es namentlich die Möglichkeit der lokalen Behörden einschränkt, im Dienstleitungsbereich eine eigenständige Politik zu betreiben». Das B-Geschäft «Gats-freie Gemeinde Seftigen» wurde im Gemeinderat ohne Diskussion gutgeheissen.

Das Ende des gesunden Menschenverstands

Seftigen hat rund 2050 Einwohner und liegt 25 Kilometer von Bern im oberen Gürbetal, in der Nachbarschaft von Thun hinter einem bewaldeten Moränenzug. Das Dorf wird ehrenamtlich regiert, die sechs Gemeinderäte werden mit jährlich 3000 Franken entschädigt, Mathys erhält als Gemeindepräsident für einen Aufwand von rund 700 Arbeitsstunden 10000 Franken. Immer schwieriger werde es, sagt er, für die Mitarbeit in der Gemeinde überhaupt noch Kandidaten und Kandidatinnen zu finden – auch weil der Spielraum für lokale Politik sehr klein ist: Geschäfte über 80’000 Franken kommen vor die Gemeindeversammlung, und vom Gemeindebudget, das 7,5 Millionen Franken beträgt, sind mehr als 85 Prozent gebundene Ausgaben – Ausgaben, deren Sinn eine lokale Behörde manchmal kaum beurteilen könne.

Immer kleiner werde die Gemeindeautonomie vor allem unter dem Druck des Kantons. Mathys macht sich Luft: Den Sozialhilfebereich zum Beispiel habe der Kanton professionalisiert. Für die Seftiger Sozialhilfe sei seit zwei Jahren die Nachbargemeinde Wattenwil zuständig. Früher habe man hier seine Pappenheimer noch gekannt, es habe eine quasi «familiäre Atmosphäre» geherrscht und man habe die Probleme mit «gesundem Menschenverstand» geregelt. Heute sässen im Nachbardorf zu Bürozeiten irgendwelche teuren Profis, die Dossiers anlegten und diese unter Verweis auf den Datenschutz anschliessend geheim hielten. Und kaum würden sie ihre Büros schliessen, erhielten die Mitglieder des Gemeinderats Anrufe von Leuten im Dorf, deren Nöte sie nicht mehr einschätzen könnten, weil sie deren Probleme aus Datenschutzgründen nicht kennen dürften. Eine teure Übung obendrein: Früher habe der Hauptbudgetposten mit rund einer Million Franken die Bildung betroffen. Der sei konstant geblieben, für die Sozialhilfe jedoch gebe man unterdessen gut zwei Millionen aus. «Ich weiss schon», fügt er bei, «dass diese Professionalisierung aus der Feder der SP gekommen ist. Trotzdem ist sie für mich totaler Quatsch.»

Die Blattenheid-Quelle

Mit dem Gats-Abkommen wäre eine weitere Beschneidung des politischen Spielraums der Gemeinden absehbar. «Wir würden», sagt Balmer, «mit grossen privaten Firmen den gleichen Kampf führen müssen wie jetzt mit dem Kanton.» Zum Beispiel die Abfallentsorgung: Werde diese Problem nur noch betriebswirtschaftlich beurteilt, so gehe es auch nur noch darum, wer den Kehricht am billigsten zum Verschwinden bringe. Gerade in ländlichen Gebieten könne aber die Trennung und das Recycling des Abfalls nicht rentabel sein: «Nur solange die Öffentlichkeit zuständig ist, wir der Abfall nach ökologischen Kriterien entsorgt.»

«Oder nehmen wir an», fährt Balmer fort, «Nestlé bietet eines Tages 100 Millionen für unsere Blattenheid-Quelle.» Diese Quelle versorgt heute zwanzig in einem Verband zusammengeschlossene Gemeinden, insgesamt rund 20000 Menschen, bis hinüber ins Aaretal, täglich fliessen 5,5 Millionen Liter hervorragendes Trinkwasser. «Das Beispiel ist nicht sehr weit hergeholt», pflichtet Mathys bei, «käme es eines Tages zu einem solchen Handel, wären auf einen Schlag die Kassen aller Verbandsgemeinden voll. Das wäre kurzfristig schon eine Verlockung.» Balmer: «Aber wir hätten keinen Einfluss mehr auf unsere Wasserversorgung. Das darf eben nicht sein.» Als Unternehmer weiss er: Wo betriebswirtschaftlich gerechnet wird, werden nur «Schnäppchen» gekauft – also nur jene Teile des Service Public, mit denen sich Geld verdienen lässt.

Die Kampagne der «Gats-freien Gemeinden» ist keine weltbewegende Sache, das ist beiden Politikern klar. Aber eine «Willensbekundung» sei sie an die Adresse des Seco, des Staatssekretariats für Wirtschaft in Bern, das für die Schweiz die Gats-Verhandlungen führt. Mitte Juni hat das Seco in einem Communiqué geschrieben: «Der Bundesrat strebt ein substanzielles Verhandlungsresultat an, um neue Konzessionen von bedeutenden Handelspartnern insbesondere in den Bereichen Bank- und Versicherungsdienstleistungen, Logistikdienstleistungen, Maschinen-Installateure und Beratung zu erlangen.» Der Bundesrat will also neue Märkte erschliessen für schweizerische Firmen. Auch in Seftigen versteht man, was das heisst: Im Gegenzug werden schweizerische Märkte geöffnet werden müssen.

Wie der freie Markt funktioniert, hat Balmer als Gemeinderat eben letzthin hautnah miterlebt: Die Abwasserreinigungsanlage Gürbetal, der Seftigen angeschlossen ist, hatte einen Auftrag zu vergeben. Man schrieb ihn aus und vergab in schliesslich an eine Firma in der Region, obschon diese knapp 5 Prozent über dem billigsten Angebot offerierte. Dieser Anbieter – eine ausserkantonale Firma – klagte vor dem Verwaltungsgericht in Bern und bekam Recht. Die beiden Magistraten sind gleichermassen verärgert darüber . Mathys: «Wir müssen doch versuchen, das Geld in unserer Region im Umlauf zu behalten.»

Wasserleitungen sind politisch neutral

Dass die Kampagne für «Gats-freie Gemeinden» von Attac Schweiz lanciert worden ist, einem linken Verein, der in seinen Statuten die «Kritik an den Raubpraktiken der Wirtschafts- und Finanzmächte und den Aufbau von Widerstandsaktionen» als Ziel formuliert, nehmen Mathys und Balmer zur Kenntnis. Sie hätten zwar nichts mit «Anti-WEF-Protestierern» zu tun und seien «für eine gesunde Globalisierung», aber diese Kampagne könnten sie unterstützen.

Einmal sagt SVP-Mann Balmer zu SP-Mann Mathys: «Ich bin nicht sehr rechts, aber wohl ein bisschen mehr als du.» Das ist während des Gesprächs die einzige Äusserung, die auf die parteipolitische Zugehörigkeit der beiden schliessen lässt. Mathys sagt: Im Seftiger Gemeinderat führe man keine «ideologischen Debatten», in einem Dorf sei man an der Front, es gehe darum, sachpolitisch das zu tun, was für die Bürger und Bürgerinnen insgesamt das Beste sei. Hier könne man nicht flüchten, sondern müsse die Probleme lösen. Denn: «In Seftigen haben wir keine SP- und keine SVP-Abwasserleitungen. Wir haben nur solche, die funktionieren, und solche, die nicht funktionieren.»

Bei der journalistischen Anfrage, ob sie Zeit hätten für ein Gespräch, haben weder Mathys noch Balmer gefragt, welche Zeitung hinter den Anfrage stehe. Für das Gespräch haben sie sich dann so viel Zeit genommen, bis der Journalist zufrieden war. Und während Balmer sich danach mit Handschlag verabschiedet, um zu seinen beruflichen Problemen zurückzukehren, geht Mathys hinter die Schubladen der Gemeindeverwaltung, um den Journalisten mit schriftlichem Hintergrundmaterial zur Gemeinde zu versehen. Erst dann wird dieses Problem geregelt sein.

 

[Kasten]

Die Kampagne der Attac Schweiz

Im Frühsommer erhielten von Attac Schweiz sämtliche Gemeinden im Land Informationsmaterial zur «Stopp-Gats-Kampagne» zugeschickt. Mit Gats (General Agreement on Trade in Services) ist das Dienstleistungsabkommen gemeint, das zur Zeit im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO ausgehandelt wird und auf eine umfassende Liberalisierung des weltweiten Handels mit Dienstleistungen zielt. Damit bekämen die transnationalen Konzerne neue Geschäftsbereiche unter ihre Kontrolle, der Service public käme massiv unter Druck, und die Infrastrukturen der Grundversorgung würden nach und nach der öffentlichen Kontrolle entzogen.

Wie bei der Kampagne der Gentech-freien Gemeinden (siehe WOZ 28+29/2005) reagierten zuerst die Gemeinden der Romandie: Städte wie Genf, Vevey oder Yverdon sind «Gats-frei», allein im Waadtland sind es mehr als dreissig Gemeinden, in der ganzen Schweiz im Moment «gut sechzig», wie Alessandro Pelizzari, Pressesprecher von Attac Schweiz, sagt.

Mit Plaffeien (FR), Bargen, Dotzigen, Iseltwald, Leimiswil, Linden, Madiswil, Neuenegg, Seftigen und Worb  (alle BE), Ormalingen und Höllstein (BL), Birr (AG), Stein am Rhein (SH) oder Kesswil und Wagenhausen (TG) haben sich unterdessen aber auch die ersten Deutschschweizer Gemeinden der Kampagne angeschlossen.

Die «Stopp-Gats-Kampagne», so Pelizzari, soll «einerseits den Gemeinden die Möglichkeit geben, auf die laufenden WTO-Dienstleistungsverhandlungen Einfluss zu nehmen, aber andererseits auch dazu beitragen, den Widerstand zu wecken gegen den Ausverkauf des Service public, so wie er derzeit auch auf Bundes- und Kantonsebene voranschreitet.» Bereits nimmt die Kampagne eine Eigendynamik an:

• Die BürgermeisterInnen von Romainmôtier, Morges und Meyrin (alle VD) arbeiten zurzeit an einem Vorschlag zur Gründung eines Verbandes der Gats-freien Gemeinden mit dem Zweck, den Service public auf lokaler Ebene zu verteidigen.

• Am 22./23. Oktober treffen sich im belgischen Liège VertreterInnen der mittlerweile über tausend Gats-freien Gemeinden Europas. Laut Pelizzari ist das Treffen auch bei schweizerischen GemeindevertreterInnen auf Interesse gestossen.

Die Verhandlungen um das Gats-Abkommen werden im Dezember weitergeführt. Geregelt werden sollen die zwölf Hauptbereiche Kommunikation, Bau- und Ingenieurswesen, Distribution, Bildung, Umwelt, Gesundheitswesen und soziale Dienstleistungen, Tourismus, Freizeit, Kultur und Sport, Transportwesen sowie der Bereich «Andere». Zwar beteuert der Bundesrat, er werde keine «Verpflichtungen» eingehen, «welche mit der geltenden Gesetzgebung im Bereich des Service public auf Stufe Bund, Kantone und Gemeinden unvereinbar wären». (Communiqué vom 14.6.2005) Bekannt ist aber, dass von der Schweiz Liberalisierungen zum Beispiel in den Bereichen Wasser (EU), Postdienste (EU und USA) und Bildung (USA) verlangt werden. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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