Auf der Ferienpiste

«Nach sechs, sieben Stunden beginnen die Augen zu brennen», ruft Walter Schüpbach gegen den Lärm des Verkehrs. Heiss ist es hier, ein schmales, schnurgerades Niemandsland, beidseits begrenzt von einer fünf Meter hohen Böschung, einige Kilometer hinter der Autobahnauffahrt Brünnen und einige vor der Abfahrt von Kerzers. Die Baustelle ist über 15 Kilometer lang und reicht von Bern-Neufeld bis zweihundert Meter hinter die Grenze zum Kanton Freiburg. In diesem Los hier, südlich von Mühleberg, arbeitet ein Konsortium aus den Baufirmen Batigroup, Frutiger und Weiss+Appetito – bei letzterer ist Schüpbach als Vorarbeiter angestellt.

Der Bau der dritten Spur

Gearbeitet wird an der dritten Spur der Autobahn. Schon letztes Jahr hat man die beiden Pannenstreifen aufgehoben und verbreitert. Zurzeit wurde der Grünstreifen, der die beiden Fahrbahnen trennt, abgegraben bis auf ein schmales Band, auf dem schulterhoch Gesträuch wächst. Der so gewonnene Raum wurde zwanzig Zentimeter tief ausgefräst, planiert und gewalzt. Dann baute man Belag ein. 170 Grad heiss ist die schwarze Masse, wenn sie von der Einbaumaschine in den Untergrund gepresst wird; noch 140 Grad, wenn die 20-Tonnen-Walzen mit dem «Andrücken» beginnen; und noch 120 Grad, wenn «vibriert» und der Belag so bis auf 100 Prozent verdichtet wird.

Über die grobe erste Schicht mit bis zu 32 Millimeter grossen Steinen folgt nach einer Pause von zwei Tagen der Einbau einer feineren Schicht: Das ist der «22er»-Belag. In einem letzten Arbeitsgang wird später die auf drei Bahnen verbreiterte Piste der Autobahn um fünf Zentimeter abgefräst und mit einem «11er»-Belag gedeckt, der «Verschleissschicht», die alle zwanzig Jahre ersetzt werden muss.

Ein mulmiges Gefühl, in der Mitte einer beidseits befahrenen Autobahn zu stehen: Die Überholspur, auf der zurzeit gearbeitet wird, ist lediglich mit orange-weissen Leitkegeln und verstellbaren Absperrpfosten gesichert. Es komme vor, sagt Schüpbach, dass ein Auto beim Überholen an den Pfosten den Rückspiegel «abrasiert»: «Dann muss man sich in Acht nehmen vor den herumfliegenden Scherben.» Zwar sei die erlaubte Höchstgeschwindigkeit hier 80 Stundenkilometer, aber letzthin habe die Polizei einen herausgeholt, der sei mit 155 unterwegs gewesen. Schützen kann man sich nicht gross: «Wir tragen orange Kleider und versuchen, den Verkehr im Auge zu behalten.»

Der Lohn für den Kampf

Im letzten Jahr hat Walter Schüpbach zum gewerkschaftlichen Kampfkomitee gehört, das unter anderem mit der Blockierung des Bareggtunnels – gut hundert Kilometer östlich von hier – den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe erstritten hat. Eben sind die ersten Zahlen veröffentlicht worden: Seit der neue Gesamtarbeitsvertrag vor einem Jahr in Kraft getreten ist, haben sich 1225 Bauarbeiter frühzeitig pensionieren lassen.

Am 1. Januar 2005 wird es auch für Walter Schüpbach soweit sein. Darum sagt er: «Im Sommer mache ich noch ein bisschen Ferien, nächär la nis la usplampe. Ich glaube, ich habe meine Sache gemacht.» Mindestens zum Teil wird er die Ferien allerdings im Spital verbringen. Denn gesundheitlich ungeschoren ist er nicht durch das Berufsleben gekommen. Nachdem er für die Weiss + Appetito AG jahrelang Spezialböden eingebaut hatte, musste er sich an beiden Knien die Schleimbeutel operieren lassen und danach in den Tiefbau wechseln. Vor drei Jahren hat ihm ein Grabenstampfer den rechten Daumen gebrochen, die chronischen Schmerzen sind trotz einer Operation geblieben. Und in den nächsten Wochen steht nun eben die Operation eines Leistenbruchs an.

Wegen der Pensionierung wird Walter Schüpbach den für 2005 geplanten Einbau der Verschleisschicht hier nicht mehr mitmachen. Ob er nicht noch gerne dabeigewesen wäre? «Ke Zyt!», sagt er augenzwinkernd. Er habe anderes vor. Zum Beispiel Ausfahrten mit dem Rennrad, die er als ehemaliger Eliteamateur nach wie vor leidenschaftlich liebt. An guten Tagen, erzählt der 61-jährige, schaffe er die 126 Kilometer von seinem Wohnort Zollikofen rund um den Bielersee und zurück nach wie vor in 3 Stunden 10 Minuten, mit dem Tour de Suisse-verdächtigen Stundenmittel von 39,8 Kilometern.

 

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Weitgereister Maurer

Geboren ist Wolfgang Walter Schüpbach 1943 in Deutschland, im Landkreis Bautzen achtzig Kilometer östlich von Berlin. Dort arbeitete sein Vater auf dem grossväterlichen Bauernhof. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Familie vor der Alternative, unter sowjetischer Herrschaft zu bleiben oder mit den sich zurückziehenden Amerikanern Richtung Westen zu gehen.

Die Familie Schüpbach kehrt in die Schweiz zurück, kommt zuerst in das Flüchtlingsheim von Wilderswil und später nach Steffisburg. Hier geht Schüpbach zur Schule. 1962 macht er den Lehrabschluss als Maurer. Nach der Rekrutenschule arbeitet er bei verschiedenen Berner Firmen insgesamt elf Jahre lang im Hochbau. 1974 geht er ins Ausland: Er wird zuerst Bauführer beim Bau eines Wasserreservoirs in der Wüste von Kuwait, später bei einer Zementfabrik in Nigeria, schliesslich bei drei riesigen Wohnungsüberbauungen im Iran.

1979 gerät Schüpbach nach dem Sturz des Schahs auf eine schwarze Liste der Khomeini-Anhänger. Er wird gewarnt, verlässt das Land und kehrt in die Schweiz zurück. Kurz darauf heiratet er. Seit 1981 arbeitet er – zuerst als Polier, heute als Vorarbeiter – für die Baufirma Weiss + Appetito AG. Er ist Präsident der GBI-Sektion Zollikofen und Vorstandsmitglied der GBI-Sektion Bern. Seit vier Jahren amtet er zudem als Beisitzer am Berner Arbeitsgericht.

Walter Schüpbach lebt mit seiner Frau in Zollikofen. Er hat zwei erwachsene Söhne. Er verdient brutto zwischen 5500 und 6000 Franken plus Funktionszulage als Vorarbeiter. Neben dem Radfahren liebt er vor allem das Fischen, am liebsten in Bergseen – weitab vom Autoverkehr.

Die Redaktion setzte den Titel «Auf der Überholspur».

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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