[Warum Res Strehle die WoZ verlassen hat]

Mit politischer Ökonomie lässt sich nicht alles erklären. Aber ohne sie  weitherum nichts. Trotzdem: Was ist von einem zu halten, der gerade heute eine «Einführung in die politische Ökonomie» publiziert und erst noch unter dem bierernsten Titel «Kapital und Krise»? Ein postmoderner Don Quichotte? Ein Kirchgänger linker Orthodoxie? Res Strehle ist beides nicht, er ist ein brillant dozierender Freak: ein Pädagoge. Seit mehreren Jahren lehrt er in Volksuni-Kursen politische Ökonomie. Bis Ende 1991 lief sein zweiter Berner Kurs. Für seine Vorlesungen haben jedesmal gut fünfzig junge Linke ihre Samstagnachmittage hergegeben.

Seinen Einführungskurs in die politische Ökonomie hat Strehle nun zu einem auch für Nicht-ÖkonomInnen gut lesbaren Buch ausgearbeitet. Er beginnt, wie im Kurs, mit  Hinweisen zur Dialektik als «Methode der Politischen Ökonomie». Diese fasst bekanntlich gesellschaftliche Phänomene als Thesen und Antithesen und deren Aufhebung sowohl als Synthese als auch als These in einem neuerlichen dialektischen Spannungsverhältnis. Dialektik ist demnach ein prozessierendes Denken, das seinen subversiven Kern in der Tatsache hat, dass es immer wieder zur Praxis drängt; in leeren Zeiten zum Beispiel zur Praxis des pädagogischen Vortrags.

Von der «Kritik der politischen Ökonomie», dem «Kapital», von Karl Marx zeigt Strehles Buch zwei zentrale Aspekte: die Wertlehre und die Krisentheorie. Aus letzterer ist auch heute noch zu lernen, dass falls das «Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate» stimmt, früher oder später eine Verwertungskrise und eine Überakkumulation von Geldkapital entsteht, welch letzteres daraufhin logischerweise dorthin verschoben wird, wo bessere Verwertungsbedingungen herrschen, zum Beispiel in die Trikontländer. Folgerichtig ist im nächsten Kapitel vom Imperialismus die Rede; von den frühen Theorien von Lenin und Rosa Luxemburg bis zur These vom «Zonen-Imperialismus», wonach die Welt in den nächsten Jahren immer klarer in Investitionszentren und in kapitalistisch nicht weiter interessierende Armutszonen zerfallen wird.

Nach der Abhandlung der Krisentheorie bleibt die Frage offen: Warum, wenn die wachsende Krise dem Kapitalismus immanent sein soll, ist er nicht längst kaputt? Strehle gibt zwei Antworten: Erstens verweist er auf das Kapitel 14 im 3. Band des «Kapitals», welches die «Entgegenwirkende(n) Tendenzen» (gegen den Fall der Profitrate) skizziert. Die sechs Tendenzen – von der Erhöhung des Ausbeutungsgrads der Arbeitskraft bis zur Funktion der relativen Überbevölkerung und zum steigenden Aktienkapital – hätten mehr als 9 von 2500 Seiten im «Kapital» verdient. Zweitens nennt er die feministische Ökonomie, die seit Rosa Luxemburg einen blinden Fleck in der marxistischen Orthodoxie aufgedeckt hat: die nicht-kapitalistische Umgebung des kapitalistischen Sektors von der unbezahlten Hausfrauenarbeit bis zur Schattenwirtschaft des informellen Sektors. Dieses «Milieu» hat nicht nichts mit Kapitalismus zu tun. Es ist auch nicht so, dass sich der Kapitalismus immer weiter ausdehnt und das Milieu, als  Bereich vorkapitalistischer, ursprünglicher Akkumulation, langsam verschwindet: Zwischen Milieu und Kapital besteht vielmehr ein dialektischer Austauschprozess, die fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation im Milieu begründet den Kapitalismus immer wieder neu.

Drei weitere Aspekte aktueller politischer Ökonomie skizziert Strehle: die politische Geldtheorie, die Systemtheorie und die politische Technologie. Die Darstellung der letzteren ist für uns WoZ-Leute zweifellos besonders aufschlussreich, weil Strehle 1986 die WoZ verlassen hat, als sich eine Mehrheit des Kollektivs für eine Satzabteilung mit eigenen Computersatzgeräten entschied. Strehle sagt: Technologie ist nicht wertneutral, sie hat immer einen Doppelcharakter: Sie ist Maschine und Arbeitsorganisation. Sie ist nicht nur der Computer, sondern auch Zergliederung und Schematisierung von Arbeitsabläufen, ist Isolierung, Entfremdung, Hierarchisierung.

Es stimmt: Die neue Technologie hat der WoZ nicht nur ermöglicht, den Umfang der Zeitung, die Auflage und die Löhne zu vergrössern, sie hat auch zu mehr Arbeitsteilung und zur hierarchischen Entscheidungs- und Informationsstruktur der Geschäftsleitung geführt (die vom Plenum des Kollektivs via Referendumsmöglichkeit kontrolliert wird). Es stimmt aber auch: Ohne Computerkauf hätte das Kollektiv zwar basisdemokratischer, aber mit höchst unsicherer ökonomischer Perspektive weiterfunktioniert. Was drittens stimmt: Mit den Computern hat sich die WoZ nicht nur für die neue Technologie, sondern auch – untrennbar davon –  für eine neue Geschäftspolitik entschieden. Diese hat Strehle abgelehnt.

In der Schlussbemerkung seines Buches schreibt er: «Politische Ökonomie ist alles und nichts. Alles, weil sie daran hindert, die Welt nur in der Vorstellung ändern zu wollen. Nichts, weil sie für sich allein theoretisch bleibt.» Deshalb braucht politische Ökonomie die Praxis. Und umgekehrt. Für die WoZ zum Beispiel bedeutet das immer wieder eine Gratwanderung zwischen der Ansprüchen eines linken Kollektivs und den Bedürfnissen einer (in bescheidenem Rahmen) florierenden Firma.

Res Strehle: Kapital und Krise – Einführung in die politische Ökonomie. Mit einem Nachwort von Detlef Hartmann. Berlin (Schwarze Risse Verlag) 1991.

(12.11.1991)

Der Titel wurde erst 2015 gesetzt und erscheint deshalb in eckigen Klammern. – Dieser Text war damals nach «Eigentlich wollen sich die Menschen nicht zurichten lassen» der zweite Versuch, mich mit Strehles Buch auseinanderzusetzen. Auch der Abdruck dieser Rezension wurde vom zuständigen WoZ-Redaktor abgelehnt. Am 14. November 1991 schrieb ich daraufhin an ihn (mit Informationskopie an Strehle): «Ich ziehe meine beiden Fassungen endgültig zurück und überlasse es Dir, eine brauchbare Rezension zu acquirieren.»

Gedruckt wurde vorliegende Rezension allerdings dann doch noch, und zwar in der WoZ Nr. 33 am 14. August 1992 – als Kasten zu einem grossen Beitrag Strehles «Zur Ökonomie des Rassismus» und gekürzt um die letzten drei Abschnitte, soweit sie dessen Abgang von der WoZ betreffen.

Warum ich mich damals damit einverstanden erklärte, meine ganze Arbeit auf einen Goodwill-Text für einen freien Mitarbeiter zusammenstreichen zu lassen, weiss ich nicht mehr. 

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