Welt aus dem Lot

Die Leiche ist in halb kniender, halb liegender Stellung vornübergesunken, die Füsse gegen den Gartenzaun gerichtet. Der Hinterkopf ist ein «gähnendes, blutiges Loch». So findet man den alten Rees Rösti in C. A. Looslis Roman «Die Schattmattbauern» (1932). Und kurz darauf auch die Tatwaffe, eine Pistole, hinter dem Gartenzaun, vor dem die Leiche liegt. Man muss nicht gerade Sherlock Holmes heissen, um zu kombinieren: Rösti muss vom Täter, der nach der Tat die Waffe fallen liess, von hinten, über den Zaun hinweg, erschossen worden sein.

Das Bild der schön drapierten Leiche signalisiert im Kriminalroman: Die Welt ist aus dem Lot. Die Erwartung des Publikums ist geweckt; es weiss, was kommen muss: So oder anders, auf raffinierten Irr- und Umwegen, soll nun demonstriert werden, wie die Welt wieder ins Lot gerückt wird.

Die zwei Zaubertricks

Mit Blick auf die Erfahrung, dass weggeschossene Hinterköpfe in aller Regel schlecht heilen, haben sich die weltliterarischen Krimipioniere im 19. Jahrhundert zwei Zaubertricks ausgedacht, mit denen sie in ihren Texten die kaputte Welt scheinheilen.

• Der erste Zaubertrick geht so: Mit grässlich zertrümmerten Schädeln liegen die wucherische Pfandleiherin Iwanowna und ihre Schwester in ihrem Blut. Bald weiss der Untersuchungsrichter, wer der Täter ist: der schlaue Student Raskolnikow. Doch beweisen kann er ihm die Tat über mehrere hundert Seiten nicht. Dann spricht Sonja, die Hure, die zur Madonna wird, ein Machtwort und Raskolnikow legt ein Geständnis ab. Er wird nach Sibirien geschickt und verbüsst dort seine Strafe mit dem Evangelium unter dem Kopfkissen und im Wissen, dass Sonja auf ihn wartet. Das ist Dostojewskis Trick im Roman «Schuld und Sühne» (1866): Geständnis plus Sibirien plus Liebe (plus erhöhtes Kopfkissen) sühnen einen Doppelmord.

• Der zweite Zaubertrick geht so: Madame L’Espanaye liegt, aus dem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock geschleudert, tot auf dem Pflaster des Hinterhofs; ihre Tochter findet man oben in der Wohnung, erwürgt und kopfüber ins Kaminrohr hinaufgezwängt. Die Polizei ist ratlos, der scharfsinnige August Dupin nicht. Nach der Zeitungslektüre zum Fall und einer Tatortbegehung sagen ihm die Indizien: Der Täter ist zweifelsfrei der entlaufene Oran-Utan eines Matrosen auf Heimaturlaub. Das ist Edgar Allan Poes Trick in der Erzählung «Der Doppelmord in der Rue Morgue» (1841): Vernunft plus Kombinationsgabe plus eine Prise Spekulation schaffen das bedrohliche Unerklärbare mit unwiderlegbaren Argumenten aus der Welt.

Nötig sind diese beiden Zaubertricks, weil Dostojewski den Ehrgeiz hat, Schuld und Sühne in ein Gleichgewicht zu bringen respektive Poe die entstandene soziale Unordnung wieder aufräumen will. Beides sind ideologische Operationen, einmal im Dienst der christlichen Moral, das andere Mal im Dienst überlegener Vernunft.

Krimi ohne Zaubertrick

Beim toten Rees Rösti im Hinterhof der «Schattmatt» ist die Indizienlage verzwickt: Vieles spricht gegen Fritz Grädel, den jungen Bauern auf dem Hof. Gleichzeitig gibt es Tatsachen, die Grädel als Täter gerade auszuschliessen scheinen. Er selber bestreitet die Tat, wird aber in Ermangelung eines anderen denkbaren Täters in Untersuchungshaft gesetzt.

An diesem Punkt seiner Konstruktion hätte Loosli einen der beiden Zaubertricks anwenden können, die sich unterdessen längst zu stereotypen Mustern der Kriminalliteratur verfestigt hatten. Er hätte den unschuldigen Grädel im Gefängnis am Glauben oder an der Liebe zu seiner Familie, die auf ihn wartet, wachsen lassen können. Oder er hätte einen Dupin einführen können, der aus den Indizien den wirklichen Tathergang herauszulesen fähig gewesen wäre.

Beides tat Loosli nicht: Grädel verliert in der Untersuchungshaft sowohl den Glauben an Gott als auch jenen an das weltlichen Recht. Und mit Grädels Verteidiger, dem Fürsprecher Hugo Brand, tritt zwar einen Quasi-Detektiv auf, der umfangreiche Nachforschungen anstellt, dabei aber nicht kriminalistisch, sondern, nach dem Literaturwissenschaftler Edgar Marsch, «anamnestisch» vorgeht: Statt nach der Identität des Täters forscht Brand während der Untersuchungshaft seines Klienten nach dem Wesen des Opfers Rösti, wie es sich aus dessen Biografie ablesen lässt. Daraus ergeben sich zwar Plausibilitäten, aber kein Beweis von Grädels Unschuld.

Dieser wird schliesslich vom Geschworenengericht ­– allerdings lediglich mangels Beweisen – freigesprochen. In der Folge verzweifelt er daran, somit vor der Welt weiterhin als nicht überführter Mörder von Rösti gelten zu können. Nach einem Suizidversuch wird er in eine Nervenheilanstalt verbracht, wo er einige Jahre später stirbt. Dass er tatsächlich unschuldig war, erweist sich erst 27 Jahre nach der Tat durch die postume, schriftliche Aussage eines Augenzeugen.

Looslis Spott über die «Symmetriker»

Zwar hat C. A. Loosli nur einen Kriminalroman geschrieben. Es gibt aber kriminalistische Erzählungen von ihm, die zeigen, dass «die Revolte gegen das Schema» (Marsch) als Looslis genuiner Beitrag zur Krimiliteratur betrachtet werden muss: Immer wieder neu gestaltet er die Asymmetrie zwischen der Tat und ihrer Aufklärung.

• In der Erzählung «Der verlassene Stuhl» (1911) gelingt es wie in den «Schattmattbauern» erst Jahre nach der Tat, den Tathergang kriminalistisch zu klären. Der Täter jedoch ist seit Jahren verschwunden und sein Motiv bleibt vollständig im Dunkeln.

• In der Erzählung «Sunnemüli Bänzes Burdi» (1913) kennt man zwar den Täter als Erpresser. Zur Sühne oder einer Wiederherstellung der Ordnung kommt es aber auch hier nicht: Als der Erpresser nach dem Tod des Erpressten sich an dessen Sohn halten will, greift dieser zur Selbstjustiz und begeht danach Selbstmord, bevor die staatliche Justiz dazu kommt, im einen oder anderen Fall Recht zu sprechen.

• «Die Geisterphotographie» (1911) schliesslich ist eine Parodie auf Conan Doyles Sherlock Holmes, der in der Tradition von Poes Monsieur Dupin zu Weltruhm gelangte. Looslis Harlock Shelmes enthüllt eine spiritistische Sensation als Betrug aus Geldgier und stiftet zwischen den Betrogenen auch gleich noch die Ehe. Am Schluss fragt Shelmes seinen schreibenden Adlaten Dr. Lawson, ob er nun sein Gewerbe aufstecken könne oder das «Publikum noch mehr solches Lesefutter» brauche. Lawson erwidert, er habe aus ihm «noch lange nicht genug Kapital herausgeschlagen». Für die «Symmetriker» der Kriminalliteratur hatte Loosli demnach nur Spott übrig.

Das Problem der Teufelssucht

Seine asymmetrische Sicht auf das Verhältnis zwischen krimineller Tat und ihrer Sanktionierung hat zweifellos auch biografische Gründe. Bereits in jungen Jahren erfuhr Loosli am eigenen Leib, dass die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit vor allem anderen eine Schutzbehauptung der Täter ist.

Loosli wurde als 18-Jähriger für anderthalb Jahre in der Erziehungsanstalt Trachselwald, die 1835 massgeblich von Jeremias Gotthelf gegründet worden war, interniert. Während dieser Zeit – 1895 bis 1897 – wurde sie von einem Sadisten namens Fritz Grossen geführt. Dieser liess die Kinder und Jugendlichen nach Belieben mit Zwangsjacken und Salzruten drangsalieren, nach Fluchtversuchen kam es sogar vor, dass er den wieder Eingefangenen eine Kette mit einer Eisenkugel ans rechte Fussgelenk schmieden liess. Dass der Loosli-Biograf Erwin Marti im Rahmen seiner Forschungen in Trachselwald auf ein besonders dunkles Kapitel der bernischen Sozialgeschichte gestossen ist, belegt die Tatsache, dass er in allen massgeblichen Archiven kaum einen Hinweis auf Grossens Wirken finden konnte – auch in Trachselwald nicht, «während Rechenschaftsberichte und Rechnungen der alten Gotthelfschen Armenerziehungsanstalt fein säuberlich aufbewahrt sind» (Erwin Marti: C. A. Loosli, Bd. 1. Zürich [Chronos]. 1996, 49 ff.).

Sicher ist, dass Looslis Erfahrungen mit den ungeahndeten Folterungen des Staatsbeamten Grossen seine asymmetrische Sicht auf die kriminelle Tat geprägt haben. Vermutlich auch deshalb leiden seine Täter alle an einer abgründigen, wenn auch nicht angeborenen Bösartigkeit – gerade im Fall von Rösti wird sie als Reaktion auf frühe Verletzungen verstehbar. Für diese Bösartigkeit braucht Loosli in «Die Schattmattbauern» den Begriff der «Teufelssucht».

Die Teufelssucht des alten Rösti ist Looslis tiefstes Bild für die Asymmetrie der kriminellen Tat: Rösti hat seinen Suizid so raffiniert inszeniert, dass auf seinen Schwiegersohn ein Mordverdacht fallen muss. Die Selbstvernichtung ist ihm demnach bloss das teufelssüchtige Mittel zum Zweck, durch seinen Hass den rechtschaffenen Ehemann seiner einzigen Tochter zu vernichten. Grädel fällt diesem Hass auch tatsächlich zum Opfer. Die quasipsychoanalytische «anamnestische» Spurensuche macht nach der Tat zwar vieles erklärbar. Aber – da hilft kein Gott, kein Staat, weder Shelmes noch Holmes – die Welt kommt dadurch nicht wieder ins Lot.

Der Text wurde unter dem Titel «Die Welt ist aus dem Lot» in einer leicht gekürzten Version veröffentlicht. Dem Artikel beigestellt war ein Kasten zur C. A. Loosli-Werkausgabe des Rotpunktverlags, an der ich damals mitgearbeitet habe. 

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