Warum Kurt Marti nicht Professor wurde

Im Materialienband von Christof Mauch über Kurt Marti[1] gibt es eine Zeittafel. Darin steht unter 1972: «Die Berufung Kurt Martis auf den vakanten Lehrstuhl für Homiletik (zunächst als Lehrbeauftragter) wird vom Berner Regierungsrat hintertrieben, da man Marti als pastoral verkappten Marxisten sieht.»

Im Gespräch erinnert sich Kurt Marti: Zuerst sei es in der Tat um einen befristeten Lehrauftrag in Homiletik – also Predigtlehre – gegangen. Er habe zugesagt, der Synodalrat habe ihn mit Ach und Krach unterstützt, zuständig gewesen sei jedoch der Regierungsrat. Während dieser ihn für den befristeten Lehrauftrag ohne Begründung ablehnte, habe ihn die Fakultät an der Universität Bern in einem zweiten Schritt bereits angefragt, ob er nicht gleich definitiver Lehrstuhlinhaber werden würde.

Am 18. Mai 1972 hat Kurt Marti in sein politisches Tagebuch, das unter dem Titel «Zum Beispiel Bern 1972»[2] erschienen ist, notiert:

«Die theologische Fakultät schickt sich an, eine Kandidatenliste für die definitive Besetzung des homiletischen Lehrstuhls aufzustellen – und sondiert, ob ich mich an die erste Stelle setzen lassen würde!

Dem Regierungsrat könnte so das Messer auf die Brust gerichtet werden: entweder ein Schweizer, dann dieser Marti, oder, da kein Schweizer sonst auftreibbar, ein Deutscher. Aber der Synodalrat wünscht einen Schweizer, da sich der Professor für Homiletik auch mit der Weiterbildung der hiesigen Pfarrer befassen und deshalb mit einigem Vorteil und wenn möglich ein Schweizer sein sollte. Nur wird derselbe Synodalrat ziemlich sicher gegen meine definitive Nomination sein, hat er doch nur widerwillig in den vorerst geplanten, befristeten Lehrauftrag eingewilligt. Wer kaum als Lückenbüsser genehm ist, wird es als Ordinarius erst recht nicht sein. Bereits hat ein ‘Synodalratsmitglied’ gedroht, er werde aus der Kirche austreten, falls ich Dozent werden sollte.

Die Sache nimmt nun aber eine Wendung, die ich aus persönlichen Gründen kaum noch mitvollziehen kann. Ohne jede Vorbereitung ein Ordinariat übernehmen? Blindlings von der Praxis in die Theorie stürzen? Ein provisorischer Lehrauftrag, wie zuerst vorgesehen, hätte den Vorzug gehabt, schön unverbindlich zu sein.»

Eine Woche später, am 25. Mai, notiert er:

«Mein Entschluss ist endgültig gefasst: Ich will mich nicht auf die Vorschlagsliste für die definitive Besetzung des homiletischen Lehrstuhls setzen lassen, auch wenn ich damit BGBisten, Cinceristen und ein paar Synodalräten einen Gefallen erweise.» («BGBisten» nennt man heute SVPler, «Cinceristen» waren Anhänger des Privatschnüfflers und nachmaligen Zürcher FDP-Nationalrats Ernst Cincera).

Heute erzählt Kurt Marti lächelnd: Er habe in diesen Wochen «ein Doppelspiel» gespielt: Seinen persönlichen Entscheid gegen den Lehrstuhl habe er noch einige Zeit für sich behalten, um es dem Regierungsrat nicht zu einfach zu machen. Eine Aussprache des Regierungsrates mit der Theologischen Fakultät, warum Marti für den befristeten Auftrag abgelehnt worden sei, wurde Woche um Woche hinausgezögert.

Mitte Juli schliesslich traf sich eine Delegation der Fakultät mit dem freisinnigen Erziehungsdirektor Simon Kohler und dem Finanz- und Kirchendirektor Fritz Moser, einem SVPler. Kurt Marti notiert unter dem 21. Juli 1972:

«Also doch noch! […]

Zuerst scheinen die Regierungsherren Vorwände struktureller und finanzieller Art vorgebracht zu haben, um die Ablehnung des homiletischen Lehrauftrags an mich zu rechtfertigen.

Dann aber, von den Theologen mit der Frage herausgefordert, ob der Entscheid gegen mich nicht politisch motiviert sei, liessen sie die Katze aus dem Sack mit der Antwort: die Regierung sei nicht verpflichtet, personelle Entscheidungen zu begründen.

Voilà. Deutlicher kann man nicht zugeben, dass es ein politischer Entscheid war und alle anderen Begründungen nur ein nicht eben mutiges Ausweichen.

Und was würden die Herren sagen, wenn die Fakultät mich jetzt zur definitiven Besetzung des homiletischen Lehrstuhls vorschlagen würde? Diese Frage schien die Regierungsräte zu verblüffen (‘Was, auch das noch?’).

Zögernde Antwort: zuletzt werde der Gesamt-Regierungsrat entscheiden müssen. Nach allem, was vorausging, besagt das im Klartext: Ablehnung. Die rechte Mehrheit im Regierungsrat wird mich nicht akzeptieren, darin vom Synodalrat unterstützt.

Mein Entschluss ist aber gefasst. So kann ich nur nochmals bestätigen, dass ich nicht kandidieren möchte, aus  rein persönlichen Gründen und mit herzlichem Dank an die Fakultät. Sie hat sich wacker für mich eingesetzt.

Bedenklich bleibt der grundsätzliche Aspekt, der sich hier – nicht zum ersten Mal – eröffnet hat: an unserer Universität besteht die Freiheit der Lehre de facto nicht mehr. Die Dozenten werden nach politischen Gesichtspunkten gewählt oder abgelehnt.»

Im Februar des folgenden Jahres kam es im Grossen Rat zu einem kleinen Nachspiel: Sergius Golowin, der dort damals zusammen mit Luzius Theiler den Landesring der Unabhängigen repräsentierte, hatte zum Thema der Lehrstuhlbesetzung eine dringliche Interpellation eingereicht. Erziehungsdirektor Kohler antwortete: «Die Fakultät ist frei, ihre Anträge einzureichen. Ebenso ist die Regierung frei, über diese Anträge zu befinden.» Der Journalist Heinz Däpp hat in der «National Zeitung» vom 6. Februar folgende Beobachtung übermittelt: «An der Diskussion über diesen ‘Fall Marti’ beteiligten sich lediglich Golowin und Theiler, der Rest des Rates verharrte in eisigem Schweigen.»

So ist Kurt Marti bis zu seiner Pensionierung 1983 Pfarrer der Nydeggkirche in Bern geblieben.

[1] Christof Mauch [Hrsg.]: Kurt Marti. Texte, Daten, Bilder, Frankfurt am Main (Luchterhand) 1991.

[2] Kurt Marti: Zum Beispiel Bern 1972, Darmstadt/Neuwied (Luchterhand) 1973.

Vorgetragen im Rahmen der «Nydeggnacht» vom 27.6.2003 in der Nydeggkirche in Bern. Ich trat im Rahmen des Programmteils «Texte von Kurt Marti, gelesen von Freundinnen und Freunden» zusammen mit Joy Matter und Lisbeth Vogt auf.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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